Quelle: MEW 4 Mai 1846 - März 1848


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       #299#
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       [Friedrich Engels]
       
       Der Freihandelskongreß in Brüssel
       
       ["The Northern Star" Nr. 520 vom 9. Oktober 1847]
       Am 16.,  17. und 18. September fand hier (in Brüssel) ein Kongreß
       der Ökonomen,  Fabrikanten, Handeltreibenden  etc. statt,  um die
       Frage des  Freihandels zu erörtern. Über 150 Angehörige aller Na-
       tionen waren zugegen. Von Seiten der englischen Freihandelsmänner
       waren  anwesend  die  Parlamentsmitglieder  Dr.  Bowring,  Oberst
       Thompson,  Herr   Ewart  und  Herr  Brown,  der  Herausgeber  des
       "Economist" [192],  James Wilson, Esq. etc.; aus Frankreich waren
       gekommen: Herr  Wolowski, Professor  für Rechtswissenschaft, Herr
       Blanqui, Abgeordneter,  Professor für  Ökonomie, Verfasser  einer
       Geschichte dieser  Wissenschaft und  anderer Werke,  Herr  Horace
       Say, der  Sohn des berühmten Ökonomen, Herr Ch. Dunoyer, Mitglied
       des Geheimen  Staatsrates, Autor verschiedener Werke über Politik
       und Ökonomie und andere. Aus Deutschland war kein Freihandelsmann
       anwesend, aber  Holland, Dänemark,  Italien etc. hatten Vertreter
       entsandt. Señor  Ramon de  la Sagra aus Madrid wollte kommen, kam
       jedoch zu  spät. Die  Teilnahme einer  großen  Anzahl  belgischer
       Freihandelsmänner bedarf keiner Erwähnung, da sie selbstverständ-
       lich ist.
       So trafen  sich die  Meister der  Wissenschaft, um  die  wichtige
       Frage zu erörtern, ob der Freihandel für die Welt von Nutzen sei.
       Sie werden  annehmen, daß  Gespräche einer  so erlesenen  Gesell-
       schaft - Diskussionen, die geführt wurden von ökonomischen Leuch-
       ten ersten  Ranges -  im höchsten  Maße interessant  gewesen sein
       müßten. Sie  werden sagen,  daß Männer  wie Dr.  Bowring,  Oberst
       Thompson, Blanqui und Dunoyer äußerst eindrucksvolle Reden gehal-
       ten, daß sie Argumente von größter Überzeugungskraft gebracht und
       daß sie  alle Fragen  in einem ganz neuen, überraschenden und den
       höchsten Vorstellungen entsprechenden Licht gezeigt haben müßten.
       Aber leider  wären Sie,  mein Herr, wenn Sie dabei gewesen wären,
       bitter enttäuscht
       
       #300# Friedrich Engels
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       worden. Ihre  hochgespannten Erwartungen, Ihre schönen Illusionen
       wären in  weniger als  einer Stunde  zunichte gemacht worden. Ich
       habe an  unzähligen öffentlichen  Versammlungen und  Diskussionen
       teilgenommen. Ich  hörte die  League 1*) ihre Argumente gegen die
       Korngesetze mehr  als hundertmal  während meines  Aufenthalts  in
       England vorbringen,  aber niemals, das kann ich Ihnen versichern,
       hörte ich  solch  dummes,  langweiliges  und  nichtssagendes  Ge-
       schwätz,  das   mit  derartiger  Selbstzufriedenheit  vorgebracht
       wurde. Ich  bin bisher niemals so enttäuscht gewesen. Was bespro-
       chen wurde,  verdient nicht  die Bezeichnung  Diskussion - es war
       lediglich  Wirtshausgeschwätz.   Die  großen   wissenschaftlichen
       Leuchten wagten  sich niemals  auf das  Gebiet  der  Ökonomie  im
       strengen Sinne des Wortes, und ich möchte Ihnen nicht all den ab-
       gedroschenen Unsinn  wiederholen, der  an den ersten beiden Tagen
       verzapft wurde.  Lesen Sie,  bitte, zwei  oder drei Exemplare der
       "League" oder des "Manchester Guardian" [193] durch, und Sie wer-
       den alles  finden, was  gesagt wurde, mit Ausnahme vielleicht von
       ein paar  gefälligen Sätzen,  die von  Herrn Wolowski vorgebracht
       wurden. Er  hatte sie  jedoch aus  dem Pamphlet des Herrn Bastiat
       (Leiter der  französischen Freihandelsmänner) "Sophismes economi-
       ques" gestohlen.  Die Freihandelsmänner  erwarteten keine weitere
       Opposition als  die von Herrn Rittinghausen, einem deutschen Pro-
       tektionisten und  einem im  allgemeinen faden Kerl. Aber es stand
       ein Herr  Duchateau auf,  ein französischer Fabrikant und Protek-
       tionist -  ein Mann,  der für seinen Geldsack sprach, genauso wie
       Herr Ewart  oder Herr  Brown für den ihren - und machte ihnen mit
       seiner Opposition  so furchtbar  zu schaffen,  daß am zweiten Tag
       der Diskussion  eine große  Anzahl  sogar  der  Freihandelsmänner
       zugab, daß  sie den  Argumenten unterlegen war. Sie revanchierten
       sich allerdings  bei der Abstimmung - die Resolutionen wurden na-
       türlich fast einstimmig angenommen.
       Am dritten Tag wurde eine Frage diskutiert, die Ihre Leser inter-
       essiert. Es  handelte sich  darum: "Wird die Verwirklichung eines
       allgemeinen Freihandels  den arbeitenden  Klassen nützlich sein?"
       Die Bejahung  wurde unterstützt von Herrn Brown, dem Freihandels-
       mann aus  Lancashire, in einer weitschweifigen Rede in englischer
       Sprache. Er und Herr Wilson waren die einzigen, die diese Sprache
       benutzten. Alle  übrigen sprachen  französisch; Herr  Dr. Bowring
       sehr gut,  Oberst Thompson  leidlich, Herr  Ewart entsetzlich. Er
       wiederholte einen Teil der alten "League"-Dokumente in einem wei-
       nerlichen Tonfall, sehr ähnlich dem eines anglikanischen Geistli-
       chen.
       Nach ihm  erhob sich  Herr Weerth aus Rheinpreußen. Ich nehme an,
       Sie
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       1*) Anti-Corn-Law League (Anti-Korngesetz-Liga)
       
       #301# Der Freihandelskongreß in Brüssel
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       kennen diesen  Herrn -  ein junger Handelsreisender, dessen Dich-
       tung in  Deutschland wohlbekannt  ist und sehr geschätzt wird und
       der durch  seinen mehrjährigen Aufenthalt in Yorkshire ein Augen-
       zeuge der  Lage der  Arbeiter war. Er besitzt dort eine ganze An-
       zahl Freunde,  die sich freuen werden, daß er sie nicht vergessen
       hat. Da  seine Ansprache  für Ihre Leser wohl das Interessanteste
       des ganzen  Kongresses sein  wird, werde  ich etwas ausführlicher
       über sie berichten. Er sagte folgendes [194]:
       
       "Meine Herren, - Sie erörtern den Einfluß des Freihandels auf die
       Lage der  arbeitenden Klassen. Sie bekunden allergrößte Sympathie
       für diese  Klassen. Ich freue mich sehr darüber, aber ich bin er-
       staunt, keinen  Vertreter der Arbeiter unter Ihnen zu finden. Die
       Bourgeoisie Frankreichs  ist vertreten durch einen Pair, die Eng-
       lands durch  mehrere  Parlamentsmitglieder,  die  Belgiens  durch
       einen ehemaligen  Minister und sogar die Deutschlands durch einen
       Herrn, der uns eine wahrheitsgetreue Darstellung der Verhältnisse
       dieses Landes gab. Aber wo, frage ich Sie, sind die Vertreter der
       Arbeiter? Ich  sehe sie  nirgends, und deshalb, meine Herren, ge-
       statten Sie  mir, ihre  Interessen zu vertreten. Ich erlaube mir,
       zu Ihnen zu sprechen im Namen der arbeitenden Menschen und beson-
       ders im  Namen der  fünf Millionen englischen Arbeiter, bei denen
       ich einige  der schönsten Jahre meines Lebens verbrachte, die ich
       kenne und  die ich  schätze. (Beifall.) In der Tat, meine Herren,
       die Arbeiter  haben etwas  mehr Großmut  nötig. Bisher wurden sie
       nicht wie  Menschen behandelt,  sondern wie Lasttiere, nein - wie
       Ware, wie  Maschinen; die  englischen Fabrikanten  wissen das  so
       gut, daß  sie niemals  sagen, wir beschäftigen so viele Arbeiter,
       sondern so  viele Hände. Die nach diesem Prinzip handelnde besit-
       zende Klasse  zögerte keinen Augenblick, aus ihren Dienstleistun-
       gen, solange sie sie brauchte, Profit zu ziehen, sie aber auf die
       Straße zu werfen, sobald kein Profit aus ihnen mehr herauszupres-
       sen war.  Die Lage dieser Ausgestoßenen der modernen Gesellschaft
       hat daher  solche Formen angenommen, daß sie schlimmer nicht mehr
       werden kann.  Wohin Sie  immer blicken  mögen, nach den Ufern der
       Rhône, in  die schmutzigen und verpesteten Gassen von Manchester,
       Leeds und  Birmingham, nach  den Bergen  Sachsens und  Schlesiens
       oder nach  den Ebenen  Westfalens; überall werden Sie das gleiche
       bleiche Elend,  die gleiche  dumpfe Verzweiflung in den Augen der
       Menschen finden,  die vergeblich ihre Rechte und ihre Stellung in
       der zivilisierten Gesellschaft fordern." (Großes Aufsehen.)
       
       Herr Weerth  erklärte dann,  daß nach  seiner Meinung das Schutz-
       zollsystem die  Arbeiter in  Wirklichkeit nicht schütze, daß aber
       auch der  Freihandel -  und das sagte er ihnen klar und deutlich,
       obwohl er  selbst Freihandelsmann  ist -, daß auch der Freihandel
       niemals ihre  elende Lage  ändern würde.  Er pflichtete in keiner
       Weise den falschen Vorstellungen der Freihandelsmänner bei in be-
       zug auf  den Nutzen,  den die Schaffung ihres Systems für die ar-
       beitende Klasse bringen würde. Im Gegenteil würde der Freihandel,
       das heißt  die volle  Realisierung der freien Konkurrenz, die Ar-
       beiter
       
       #302# Friedrich Engels
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       in einen  verschärften Wettbewerb  untereinander zwingen,  wie er
       auch die Kapitalisten zwingen würde, noch rücksichtsloser mitein-
       ander zu  konkurrieren. Völlige Freiheit der Konkurrenz würde un-
       vermeidlich einen  enormen Aufschwung bei der Erfindung neuer Ma-
       schinen bringen  und dadurch täglich mehr Arbeiter als bisher auf
       die Straße werfen. Sie würde die Produktion in jeder Weise voran-
       treiben, aber  gerade deshalb würde sie auch in dem gleichen Maße
       Überproduktion, Überflutung der Märkte und Handelsstockungen för-
       dern. Die  Freihandelsmänner behaupten,  daß jene furchtbaren Er-
       schütterungen unter  einem System  der Handelsfreiheit aufhörten.
       Aber, gerade  das Gegenteil würde eintreten, sie würden mehr denn
       je wachsen  und sich  vervielfachen. Es  wäre möglich, nein sogar
       sicher, daß  zuerst die  größere Billigkeit  der Lebensmittel den
       Arbeitern nützlich  wäre, daß  verringerte Produktionskosten  ein
       Wachstum der  Konsumtion und  der Nachfrage  nach  Arbeitskräften
       bringen würde,  aber daß  dieser Vorteil  sich sehr bald in Elend
       verwandeln und  daß die  Konkurrenz innerhalb  der Arbeiterklasse
       sie bald  zu ihrem  früheren Stand des Elends und der Not zurück-
       führen würde.  Nach diesen und ähnlichen Argumenten (die der Ver-
       sammlung ganz  neu zu  sein schienen, denn sie wurden mit größter
       Aufmerksamkeit verfolgt,  obwohl der  "Times"-Reporter sich bemü-
       ßigt fühlte,  sie mit dem unverschämten aber deutlichen Spott ab-
       zutun: "Chartistische  Phrasen") schloß  Herr   W e e r t h,  wie
       folgt:
       
       "Denken Sie  nicht, meine Herren, daß dies nur meine persönlichen
       Ansichten sind,  es sind auch die Anschauungen der englischen Ar-
       beiter, einer  Klasse, die  ich unterstütze und respektiere, weil
       es in der Tat intelligente und energische Menschen sind. (Beifall
       'aus Höflichkeit'.) Ich werde das an einigen Beispielen beweisen.
       Sechs volle Jahre buhlten die Herren der League, die wir hier se-
       hen, vergeblich  um Unterstützung bei der Arbeiterklasse. Die Ar-
       beiter vergaßen  niemals, daß  die Kapitalisten  ihre natürlichen
       Feinde waren.  Sie erinnerten  sich der  League-Unruhen von  1842
       [195] und des Widerstandes der Fabrikanten gegen die Zehnstunden-
       bill. Lediglich  gegen Ende  des Jahres 1845 verbündeten sich die
       Chartisten, die  Elite der  Arbeiterklasse, vorübergehend mit der
       League, um den gemeinsamen Feind, den Landadel, zu schlagen. Doch
       das geschah  nur für eine kurze Zeit, und sie ließen sich niemals
       durch trügerische  Verheißungen von  Cobden, Bright und Co. irre-
       leiten, noch  erhofften sie von den Bourgeois billiges Brot, hohe
       Löhne und  Arbeit in  Fülle. Nein,  nicht einen Augenblick hörten
       sie auf,  allein ihrer eigenen Kraft zu vertrauen und eine beson-
       dere Partei  zu schaffen,  welche von hervorragenden Führern, dem
       unermüdlichen Duncombe  und Feargus  O'Connor, geleitet wird, die
       trotz aller Verleumdungen - (hier blickte Herr Weerth Dr. Bowring
       an, der  eine schnelle  krampfhafte Bewegung machte) ", die trotz
       aller Verleumdung  in ein  paar Wochen  neben Ihnen auf derselben
       Bank im  Unterhaus sitzen  werden. Im Namen dieser Millionen nun,
       die nicht daran glauben, daß der Freihandel
       
       #303# Der Freihandelskongreß in Brüssel
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       für sie Wunder tun wird, fordere ich Sie auf, noch an andere Mit-
       tel zu denken, wenn Sie die Lage der Arbeiter wirklich verbessern
       wollen. Meine  Herren, ich  rufe Sie  in Ihrem  eigenen Interesse
       dazu auf.  Sie brauchen  nicht mehr  den Zaren  aller  Reußen  zu
       fürchten oder einen Einfall der Kosaken, aber wenn Sie sich nicht
       in acht nehmen, werden Sie den Aufstand Ihrer eigenen Arbeiter zu
       fürchten haben, und diese werden Sie viel schrecklicher behandeln
       als alle  Kosaken der  Welt. Meine  Herren, die  Arbeiter  wollen
       nicht mehr  Worte von  Ihnen, sondern Taten, und Sie haben keinen
       Grund, darüber  erstaunt zu sein. Die Arbeiter erinnern sich sehr
       genau der  Jahre 1830 und 1831, als sie in London für Sie die Re-
       formbill durchfochten  und für  Sie in  den Straßen von Paris und
       Brüssel kämpften  [196], wie  man sie  damals umwarb,  ihnen  die
       Hände schüttelte  und ihr Lob in höchsten Tönen sang, wie man sie
       aber, als sie einige Jahre danach Brot forderten, mit Kartätschen
       und Bajonetten  empfing. ("Oh!  Nein, nein!", "Ja, ja! Buzançais,
       Lyon!") [197]  Ich wiederhole deshalb, bringen Sie Ihren Freihan-
       del durch,  es wird gut sein, aber überlegen Sie gleichzeitig an-
       dere Maßnahmen zugunsten der arbeitenden Klassen, oder Sie werden
       es bereuen." (Lauter Beifall.)
       
       
       Unmittelbar nach  Herrn Weerth erhob sich Dr. Bowring zur Entgeg-
       nung:
       
       "Meine Herren",  sagte er, "ich kann Ihnen mitteilen, daß das eh-
       renwerte Mitglied,  mein Vorredner,  nicht von den englischen Ar-
       beitern als ihr Vertreter auf diesem Kongreß gewählt wurde. Viel-
       mehr gab das englische Volk in seiner Gesamtheit uns seine Stimme
       zu diesem  Zweck, und  daher beanspruchen  wir die  Stellung  als
       seine wahren Vertreter."
       
       Er fuhr  dann fort, die Nutzeffekte des Freihandels zu schildern,
       die sich in der verstärkten Einfuhr von Nahrungsmitteln nach Eng-
       land seit Einführung des Zolltarifs im vergangenen Jahre zeigten.
       Soundso viel  Eier, soundso  viel Zentner Butter, Käse, Schinken,
       Speck, soundso  viel Stück  Vieh etc. etc., wer könnte alle diese
       Dinge gegessen haben, wenn nicht die Arbeiter Englands? Er vergaß
       allerdings, uns  mitzuteilen, welche Mengen derselben Artikel we-
       niger produziert wurden in England, seitdem die ausländische Kon-
       kurrenz zugelassen  worden war.  Er nahm  es als gegeben hin, daß
       eine verstärkte  Einfuhr ein entscheidender Beweis für einen ver-
       größerten Verbrauch  sei. Er erwähnte niemals, woher die Arbeiter
       von Manchester, Bradford und Leeds, die jetzt auf der Straße lie-
       gen und  keine Arbeit  bekommen können,  woher diese Menschen das
       Geld haben sollten, um das angebliche Wachstum des Verbrauchs und
       der Annehmlichkeiten  des Freihandels zu bezahlen; denn wir haben
       niemals von  Arbeitgebern gehört, die ihnen Geschenke in Form von
       Eiern, Butter,  Käse, Schinken  und Fleisch für ihr Nichtstun ge-
       macht hätten. Er verlor kein Wort über den gegenwärtigen schlech-
       ten Stand  des Handels,  der in  jeder Zeitung  als wirklich bei-
       spiellos dargestellt  wird. Er  schien nicht  zu wissen, daß sich
       alle Voraussagen  der Freihandelsmänner seit der Durchführung der
       Maßnahmen gerade als das
       
       #304# Friedrich Engels
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       Gegenteil der Wirklichkeit erwiesen haben. Er hatte kein Wort der
       Anteilnahme für  die Leiden  der Arbeiter, sondern stellte im Ge-
       genteil ihre  jetzige düstere Lage als die schönste, glücklichste
       und angenehmste hin, die sie sich billigerweise nur wünschen kön-
       nen.
       Die englischen  Arbeiter mögen  nun wählen  zwischen ihren beiden
       Vertretern. Eine  Menge anderer  Redner folgte, die über alle nur
       erdenklichen Themen  sprachen, außer  dem einen,  das zur Debatte
       stand. Herr M'Adam, Parlamentsmitglied für Belfast (?), spann ein
       endlos langes  Garn über  die Flachsspinnerei  in Irland  und er-
       schlug die Versammlung mit Statistiken. Herr Ackersdijk, ein hol-
       ländischer Professor,  sprach über  das alte und das neue Holland
       und über  die Universitäten  von Lüttich, Walpole und Dewit. Herr
       van de  Casteele machte Ausführungen über Frankreich, Belgien und
       die Regierung, Herr Asher aus Berlin, über deutschen Patriotismus
       und irgendeinen  neuen Gegenstand, den er als geistiges Erzeugnis
       bezeichnete, und Herr den Tex, ein Holländer, über Gott weiß was.
       Als zuletzt das Auditorium halb eingeschlafen war, wurde es durch
       Herrn Wolowski  geweckt, der  zum  Kernproblem  zurückkehrte  und
       Herrn Weerth antwortete. Seine Rede, wie die aller Franzosen, be-
       wies, wie  sehr die  französischen Kapitalisten die Erfüllung von
       Herrn Weerths  Prophezeiungen fürchten. Sie sprechen mit einer so
       vorgetäuschten Sympathie,  so heuchlerisch und weinerlich von den
       Leiden der Arbeiterklasse, daß man es alles für bare Münze nehmen
       könnte, würden  nicht ihre  runden Bäuche,  der tief eingedrückte
       Stempel der  Heuchelei auf ihren Gesichtern, die erbärmlichen Re-
       zepte, die  sie vorschlagen,  und der unverkennbar deutliche Kon-
       trast zwischen ihren Worten und ihren Taten dem zu offensichtlich
       widersprechen. Bisher  ist es  ihnen niemals  gelungen, auch  nur
       einen einzigen  Arbeiter zu  täuschen. Dann erhob sich der Herzog
       von Harcourt, ein französischer Pair, und nahm für die anwesenden
       französischen Kapitalisten,  Deputierten etc. ebenfalls das Recht
       in Anspruch,  die französischen  Arbeiter zu  vertreten. Dies tun
       sie ebenso,  wie Dr.  Bowring die englischen Chartisten vertritt.
       Nach ihm  sprach Herr  James Wilson, der mit größter Unverschämt-
       heit die  abgedroschensten League-Phrasen  im schläfrigen Tonfall
       eines Philadelphiaquäkers wiederholte.
       Hieraus ersehen  Sie, was  für eine  unterhaltsame Diskussion das
       war. Dr.  Marx aus  Brüssel, den Sie als den weitaus talentierte-
       sten Repräsentanten  der deutschen  Demokratie kennen, hatte sich
       ebenfalls zum  Wort gemeldet.  Er hatte  eine Rede ausgearbeitet,
       die, wäre sie gehalten worden, es den "Herren" des Kongresses un-
       möglich gemacht  hätte, die Frage zur Abstimmung zu bringen. Aber
       Weerths Opposition  hatte sie  vorsichtig gemacht. Sie waren ent-
       schlossen, niemanden mehr sprechen zu lassen, dessen orthodoxer
       
       #305# Der Freihandelskongreß in Brüssel
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       Einstellung sie nicht ganz sicher waren. So verredeten die Herren
       Wolowski, Wilson  und die ganze edle Sippschaft die Zeit, und als
       es vier Uhr war, wollten etwa noch sechs oder sieben Herren spre-
       chen, aber  der Vorsitzende  brach die Diskussion jäh ab, und die
       ganze Versammlung  von Narren,  Dummköpfen und  Schurken, genannt
       ökonomischer Kongreß,  brachte in  der Abstimmung  einmütig gegen
       eine Stimme  (jenen armen  deutschen Irren, den bereits erwähnten
       Protektionisten) -  die Demokraten  nahmen überhaupt  nicht daran
       teil -  zum Ausdruck,  daß der  Freihandel ungeheuer nützlich für
       die Arbeiterklasse  sei und sie von all ihrem Elend und all ihrer
       Not befreien werde.
       Da Herrn  Marx' Rede,  obwohl sie nicht gehalten wurde, die beste
       und überzeugendste  Widerlegung dieser  schamlosen Lüge  enthält,
       die man  sich vorstellen kann, und da ihr Inhalt, trotz so vieler
       hundert Seiten  pro und  contra 1*) über diese Frage, für England
       ganz neu sein wird, füge ich Ihnen einige Auszüge daraus bei.
       
       Rede des  Herrn Dr.  Marx über Schutzzoll, Freihandel und die Ar-
       beiterklasse
       
       Es gibt zwei Schulen von Schutzzöllnern. Die erste Schule wird in
       Deutschland von  Dr. List vertreten, der beileibe nicht beabsich-
       tigt hatte,  die Handarbeit  zu schützen; ganz im Gegenteil - die
       Vertreter dieser  Schule forderten Schutzzölle, um die Handarbeit
       durch die  Maschinerie zu vernichten, um die patriarchalische Ma-
       nufaktur durch  die moderne  Manufaktur zu  verdrängen. Sie haben
       immer beabsichtigt,  die Herrschaft  der besitzenden Klassen (der
       B o u r g e o i s i e)   vorzubereiten und ganz besonders die der
       großen industriellen  Kapitalisten. Sie  stellten  den  Ruin  der
       kleinen Fabrikanten,  der kleinen Handwerker und der kleinen Bau-
       ern offen  als eine zwar bedauerliche, aber gleichzeitig ganz un-
       vermeidliche Erscheinung  dar. Die zweite Schule der Protektioni-
       sten forderte nicht nur ein Schutzzollsystem, sondern ein absolu-
       tes Prohibitivsystem.  Sie schlugen vor, die Handarbeit gegen das
       Eindringen der  Maschinen wie auch gegen die ausländische Konkur-
       renz zu  schützen. Fernerhin machten sie den Vorschlag, nicht nur
       die nationale  Industrie, sondern auch die einheimische Landwirt-
       schaft und  Rohstoffproduktion durch  hohe Zölle zu schützen. Und
       wo landete  diese Schule  schließlich? Bei der Prohibition, nicht
       nur der  Einfuhr fremder  Manufakturprodukte, sondern  des  Fort-
       schritts der nationalen Industrie selbst. So geriet das ganze
       -----
       1*) für und wider
       
       #306# Friedrich Engels
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       Schutzzollsystem unvermeidlich  m die  Zange folgenden  Dilemmas:
       Entweder schützte es den Fortschritt der nationalen Industrie und
       opferte damit die Handarbeit, oder es schützte die Handarbeit und
       opferte damit  die nationale  Industrie. Die  Protektionisten der
       ersten Schule,  diejenigen, die  den Fortschritt der Maschinerie,
       die Arbeitsteilung und den Konkurrenzkampf für unaufhaltbar hiel-
       ten, sagten  den Arbeitern: "Wenn ihr schon ausgepreßt werdet, so
       laßt euch  lieber von  euren Landsleuten als von Fremden auspres-
       sen." Wird  sich die  arbeitende Klasse für immer damit abfinden?
       Ich glaube, nein. Diejenigen, die allen Wohlstand und Komfort der
       Reichen produzieren, werden sich mit diesem schwachen Trost nicht
       zufriedengeben. Sie  werden größeren  materiellen  Wohlstand  für
       ihre materiellen  Erzeugnisse verlangen.  Aber die  Schutzzöllner
       sagen: "So erhalten wir nach alledem doch wenigstens den jetzigen
       Zustand der  Gesellschaft. Gut  oder schlecht sichern wir dem Ar-
       beiter Beschäftigung  seiner Hände  und verhindern,  daß er durch
       die fremde  Konkurrenz aufs  Pflaster geworfen  wird." Mag dem so
       sein. Damit  geben die  Schutzzöllner zu,  daß sie  unfähig sind,
       auch im  günstigsten Falle  Besseres zu  erreichen als  die  Auf-
       rechterhaltung des  S t a t u s  q u o.  Nun will aber die Arbei-
       terklasse nicht  die Fortdauer  des jetzigen  Zustandes,  sondern
       eine Veränderung  zum Besseren.  Noch eine letzte Zuflucht bleibt
       dem Schutzzöllner. Er wird sagen, daß er einer sozialen Reform im
       Innern des  Landes durchaus  nicht feindlich  gegenübersteht, daß
       aber zuallererst,  um den Erfolg zu sichern, jede durch ausländi-
       sche Konkurrenz  hervorgerufene Gefährdung  ausgeschaltet  werden
       muß. "Mein  System", meint  er, "ist kein System der sozialen Re-
       form, aber  wenn wir  schon die  Gesellschaft reformieren müssen,
       täten wir es nicht besser im eigenen Lande, bevor wir über Refor-
       men in unseren Beziehungen zu anderen Ländern sprechen?" Wirklich
       sehr einleuchtend, aber hinter dieser scheinbar plausiblen Folge-
       rung verbirgt  sich ein äußerst befremdender Widerspruch. Während
       das Schutzzollsystem  dem Kapital  des einen Landes Waffen in die
       Hand gibt  gegen das Kapital fremder Länder, während es das Kapi-
       tal gegenüber den Ausländern stärkt, glaubt es, daß dieses so be-
       waffnete und  gestärkte Kapital schwach, nachsichtig und kraftlos
       gegenüber der  Arbeiterklasse sein  wird. Das  hieße doch  an die
       Barmherzigkeit des  Kapitals appellieren,  als ob das Kapital als
       solches jemals barmherzig sein könnte. Doch werden soziale Refor-
       men niemals durch die Schwäche der Starken bewirkt, sondern immer
       durch die  Stärke der  Schwachen. Übrigens  ist es durchaus nicht
       nötig, sich  an diesem  Punkt aufzuhalten. Mit dem Augenblick, da
       die Schutzzöllner  zugeben, daß  soziale Reformen nicht unbedingt
       in den Bereich ihres Systems gehören und kein Bestandteil dessel-
       ben sind, sondern daß sie eine ganz besondere Frage
       
       #307# Der Freihandelskongreß in Brüssel
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       bilden, von dem Augenblick an lassen sie die zur Debatte stehende
       Frage fallen. Wir können sie deshalb beiseite lassen und die Aus-
       wirkungen des  Freihandels auf die Lage der Arbeiterklasse unter-
       suchen. Das  Problem, welchen  Einfluß die  vollkommene Befreiung
       des Handels  auf die Lage der Arbeiterklasse haben wird, ist sehr
       leicht zu  lösen. Es  ist eigentlich gar kein Problem. Wenn etwas
       in der  Ökonomie klar dargelegt ist, so ist es das Schicksal, das
       die Arbeiterklasse unter der Herrschaft des Freihandels erwartet.
       Alle diesbezüglichen  Gesetze, die  in den klassischen Werken der
       Ökonomie dargelegt  sind, treffen  nur  unter  der  Voraussetzung
       wirklich zu,  daß der  Handel von  allen Fesseln befreit ist, daß
       die Konkurrenz  völlig unbehindert  ist, nicht nur m einem Lande,
       sondern auf  dem ganzen Erdball. Diese Gesetze, die A. Smith, Say
       und Ricardo aufgedeckt haben - Gesetze, welche die Produktion und
       die Verteilung des Reichtums bestimmen - werden in demselben Maße
       zutreffender, genauer und hören auf, bloße Abstraktionen zu sein,
       wie sich  der Freihandel durchsetzt. Auch die Meister der Wissen-
       schaft erklären  ständig, wenn  sie ein ökonomisches Thema behan-
       deln, ihre  Schlußfolgerungen beruhten  samt und  sonders auf der
       Voraussetzung, daß  der Handel von allen noch bestehenden Fesseln
       befreit werde.  Sie handeln  durchaus richtig, wenn sie diese Me-
       thode anwenden; denn sie schaffen keine willkürlichen Abstraktio-
       nen, sie  schalten nur aus ihrem Denken eine Reihe von zufälligen
       Umständen aus.  So kann  man mit  Recht sagen, daß die Ökonomen -
       Ricardo und  andere -  mehr über die Gesellschaft wissen, wie sie
       sein wird,  als über  die Gesellschaft,  wie sie  ist. Sie wissen
       mehr über  die Zukunft  als über  die Gegenwart. Wenn man im Buch
       der Zukunft lesen will, schlage man Smith, Say, Ricardo auf. Dort
       findet man,  so klar  wie möglich,  die Lage beschrieben, die die
       Arbeiterklasse unter  der Herrschaft des vollständig entwickelten
       Freihandels erwartet.  Man nehme  zum Beispiel eine Autorität wie
       Ricardo, eine  Autorität, die  unübertroffen ist. Was ist, ökono-
       misch gesprochen,  der natürliche,  der normale  Preis der Arbeit
       eines Arbeiters?  Ricardo antwortet:  "Der auf  ein Minimum redu-
       zierte Arbeitslohn - seine unterste Grenze." Arbeit[1981 ist eine
       Ware, so  gut wie jede andere. Der Preis einer Ware wird aber von
       der zu ihrer Produktion notwendigen Arbeitszeit bestimmt. Was ist
       also notwendig, um die Ware Arbeit zu produzieren? Genau das, was
       notwendig ist,  um die  Summe der für die Erhaltung des Arbeiters
       und für  den Ersatz seines Kräfteverbrauchs unentbehrlichen Waren
       zu produzieren,  damit er  leben und  irgendwie seine  race fort-
       pflanzen kann.  Wir brauchen jedoch nicht anzunehmen, daß die Ar-
       beiter niemals über diese unterste Grenze emporgehoben oder unter
       dieselbe hinabgedrückt werden. Durchaus nicht; nach diesem Gesetz
       wird es der Arbeiterklasse zeitweise
       
       #308# Friedrich Engels
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       besser gehen.  Zeitweise werden  sie mehr als das Existenzminimum
       haben, aber dieses Mehr wird nur der Zusatzbetrag sein, der ihnen
       zu anderer Zeit - in der Zeit der industriellen Stagnation - wie-
       der am  Existenzminimum fehlt.  Das heißt,  daß während einer be-
       stimmten Zeitspanne,  die jeweils periodisch auftritt, in der die
       Wirtschaft den  Kreislauf Prosperität, Überproduktion, Stagnation
       und Krise  durchmacht -  wenn wir den Durchschnitt dessen nehmen,
       was der Arbeiter über oder unter dem Existenzminimum erhält -, es
       sich herausstellt,  daß er  im ganzen weder mehr noch weniger als
       das Minimum erhalten hat; oder mit anderen Worten, daß die Arbei-
       terklasse sich  als Klasse  erhalten haben wird nach großem Elend
       und großen Leiden und nachdem sie viele Tote auf dem Schlachtfeld
       der Industrie  zurückgelassen hat. Aber was macht das? Die Klasse
       existiert, und  sie existiert  nicht nur, sie wird sich noch ver-
       größert haben. Dieses Gesetz, daß der niedrigste Lohnsatz der na-
       türliche Preis  der Ware  Arbeit ist, wird sich in demselben Maße
       durchsetzen wie  Ricardos Voraussage, daß der Freihandel eine Re-
       alität werden  wird. Wir akzeptieren alles, was über die Vorteile
       des Freihandels  gesagt wurde. Die Produktivkräfte werden anwach-
       sen, die  Steuern, die  dem Land  durch die Schutzzölle auferlegt
       worden sind,  werden verschwinden, und alle Waren werden zu einem
       niedrigeren Preis  verkauft werden.  Was wiederum  sagt  Ricardo?
       "Daß Arbeit,  eine Ware gleich anderen, ebenfalls zum niedrigeren
       Preis verkauft werden wird", daß man sie tatsächlich für sehr we-
       nig Geld  haben kann,  genauso wie  Pfeffer und Salz. Und weiter:
       Ebenso wie alle anderen Gesetze der politischen Ökonomie eine ge-
       steigerte Bedeutung,  ein Mehr  an Wahrheit  durch die Verwirkli-
       chung des  Freihandels erhalten werden - ebenso wird auch das von
       Malthus aufgestellte Bevölkerungsgesetz sich unter der Herrschaft
       des Freihandels in so großartigen Ausmaßen entwickeln, wie es nur
       gewünscht werden kann. So hat man zu wählen: Entweder muß man die
       gesamte politische  Ökonomie, wie sie gegenwärtig besteht, ableh-
       nen, oder  man muß  zulassen, daß  unter der  Handelsfreiheit die
       ganze Schärfe  der Gesetze der politischen Ökonomie gegen die ar-
       beitende Klasse  angewandt wird.  Bedeutet das, daß wir gegen den
       Freihandel sind?  Nein, wir  sind für  den Freihandel, weil durch
       den Freihandel  alle ökonomischen  Gesetze mit  ihren höchst ver-
       blüffenden Widersprüchen in einem größerem Maßstabe und auf einem
       größeren Gebiet, auf der ganzen Erde wirksam werden, und weil aus
       der Vereinigung  aller dieser  Widersprüche zu  einer Gruppe sich
       unmittelbar gegenüberstehender Widersprüche der Kampf hervorgehen
       wird, der mit der Emanzipation des Proletariats endet.
       
       Geschrieben Ende September 1847.
       
       Aus dem Englischen.

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