Quelle: MEW 4 Mai 1846 - März 1848
zurück
#299#
-----
[Friedrich Engels]
Der Freihandelskongreß in Brüssel
["The Northern Star" Nr. 520 vom 9. Oktober 1847]
Am 16., 17. und 18. September fand hier (in Brüssel) ein Kongreß
der Ökonomen, Fabrikanten, Handeltreibenden etc. statt, um die
Frage des Freihandels zu erörtern. Über 150 Angehörige aller Na-
tionen waren zugegen. Von Seiten der englischen Freihandelsmänner
waren anwesend die Parlamentsmitglieder Dr. Bowring, Oberst
Thompson, Herr Ewart und Herr Brown, der Herausgeber des
"Economist" [192], James Wilson, Esq. etc.; aus Frankreich waren
gekommen: Herr Wolowski, Professor für Rechtswissenschaft, Herr
Blanqui, Abgeordneter, Professor für Ökonomie, Verfasser einer
Geschichte dieser Wissenschaft und anderer Werke, Herr Horace
Say, der Sohn des berühmten Ökonomen, Herr Ch. Dunoyer, Mitglied
des Geheimen Staatsrates, Autor verschiedener Werke über Politik
und Ökonomie und andere. Aus Deutschland war kein Freihandelsmann
anwesend, aber Holland, Dänemark, Italien etc. hatten Vertreter
entsandt. Señor Ramon de la Sagra aus Madrid wollte kommen, kam
jedoch zu spät. Die Teilnahme einer großen Anzahl belgischer
Freihandelsmänner bedarf keiner Erwähnung, da sie selbstverständ-
lich ist.
So trafen sich die Meister der Wissenschaft, um die wichtige
Frage zu erörtern, ob der Freihandel für die Welt von Nutzen sei.
Sie werden annehmen, daß Gespräche einer so erlesenen Gesell-
schaft - Diskussionen, die geführt wurden von ökonomischen Leuch-
ten ersten Ranges - im höchsten Maße interessant gewesen sein
müßten. Sie werden sagen, daß Männer wie Dr. Bowring, Oberst
Thompson, Blanqui und Dunoyer äußerst eindrucksvolle Reden gehal-
ten, daß sie Argumente von größter Überzeugungskraft gebracht und
daß sie alle Fragen in einem ganz neuen, überraschenden und den
höchsten Vorstellungen entsprechenden Licht gezeigt haben müßten.
Aber leider wären Sie, mein Herr, wenn Sie dabei gewesen wären,
bitter enttäuscht
#300# Friedrich Engels
-----
worden. Ihre hochgespannten Erwartungen, Ihre schönen Illusionen
wären in weniger als einer Stunde zunichte gemacht worden. Ich
habe an unzähligen öffentlichen Versammlungen und Diskussionen
teilgenommen. Ich hörte die League 1*) ihre Argumente gegen die
Korngesetze mehr als hundertmal während meines Aufenthalts in
England vorbringen, aber niemals, das kann ich Ihnen versichern,
hörte ich solch dummes, langweiliges und nichtssagendes Ge-
schwätz, das mit derartiger Selbstzufriedenheit vorgebracht
wurde. Ich bin bisher niemals so enttäuscht gewesen. Was bespro-
chen wurde, verdient nicht die Bezeichnung Diskussion - es war
lediglich Wirtshausgeschwätz. Die großen wissenschaftlichen
Leuchten wagten sich niemals auf das Gebiet der Ökonomie im
strengen Sinne des Wortes, und ich möchte Ihnen nicht all den ab-
gedroschenen Unsinn wiederholen, der an den ersten beiden Tagen
verzapft wurde. Lesen Sie, bitte, zwei oder drei Exemplare der
"League" oder des "Manchester Guardian" [193] durch, und Sie wer-
den alles finden, was gesagt wurde, mit Ausnahme vielleicht von
ein paar gefälligen Sätzen, die von Herrn Wolowski vorgebracht
wurden. Er hatte sie jedoch aus dem Pamphlet des Herrn Bastiat
(Leiter der französischen Freihandelsmänner) "Sophismes economi-
ques" gestohlen. Die Freihandelsmänner erwarteten keine weitere
Opposition als die von Herrn Rittinghausen, einem deutschen Pro-
tektionisten und einem im allgemeinen faden Kerl. Aber es stand
ein Herr Duchateau auf, ein französischer Fabrikant und Protek-
tionist - ein Mann, der für seinen Geldsack sprach, genauso wie
Herr Ewart oder Herr Brown für den ihren - und machte ihnen mit
seiner Opposition so furchtbar zu schaffen, daß am zweiten Tag
der Diskussion eine große Anzahl sogar der Freihandelsmänner
zugab, daß sie den Argumenten unterlegen war. Sie revanchierten
sich allerdings bei der Abstimmung - die Resolutionen wurden na-
türlich fast einstimmig angenommen.
Am dritten Tag wurde eine Frage diskutiert, die Ihre Leser inter-
essiert. Es handelte sich darum: "Wird die Verwirklichung eines
allgemeinen Freihandels den arbeitenden Klassen nützlich sein?"
Die Bejahung wurde unterstützt von Herrn Brown, dem Freihandels-
mann aus Lancashire, in einer weitschweifigen Rede in englischer
Sprache. Er und Herr Wilson waren die einzigen, die diese Sprache
benutzten. Alle übrigen sprachen französisch; Herr Dr. Bowring
sehr gut, Oberst Thompson leidlich, Herr Ewart entsetzlich. Er
wiederholte einen Teil der alten "League"-Dokumente in einem wei-
nerlichen Tonfall, sehr ähnlich dem eines anglikanischen Geistli-
chen.
Nach ihm erhob sich Herr Weerth aus Rheinpreußen. Ich nehme an,
Sie
-----
1*) Anti-Corn-Law League (Anti-Korngesetz-Liga)
#301# Der Freihandelskongreß in Brüssel
-----
kennen diesen Herrn - ein junger Handelsreisender, dessen Dich-
tung in Deutschland wohlbekannt ist und sehr geschätzt wird und
der durch seinen mehrjährigen Aufenthalt in Yorkshire ein Augen-
zeuge der Lage der Arbeiter war. Er besitzt dort eine ganze An-
zahl Freunde, die sich freuen werden, daß er sie nicht vergessen
hat. Da seine Ansprache für Ihre Leser wohl das Interessanteste
des ganzen Kongresses sein wird, werde ich etwas ausführlicher
über sie berichten. Er sagte folgendes [194]:
"Meine Herren, - Sie erörtern den Einfluß des Freihandels auf die
Lage der arbeitenden Klassen. Sie bekunden allergrößte Sympathie
für diese Klassen. Ich freue mich sehr darüber, aber ich bin er-
staunt, keinen Vertreter der Arbeiter unter Ihnen zu finden. Die
Bourgeoisie Frankreichs ist vertreten durch einen Pair, die Eng-
lands durch mehrere Parlamentsmitglieder, die Belgiens durch
einen ehemaligen Minister und sogar die Deutschlands durch einen
Herrn, der uns eine wahrheitsgetreue Darstellung der Verhältnisse
dieses Landes gab. Aber wo, frage ich Sie, sind die Vertreter der
Arbeiter? Ich sehe sie nirgends, und deshalb, meine Herren, ge-
statten Sie mir, ihre Interessen zu vertreten. Ich erlaube mir,
zu Ihnen zu sprechen im Namen der arbeitenden Menschen und beson-
ders im Namen der fünf Millionen englischen Arbeiter, bei denen
ich einige der schönsten Jahre meines Lebens verbrachte, die ich
kenne und die ich schätze. (Beifall.) In der Tat, meine Herren,
die Arbeiter haben etwas mehr Großmut nötig. Bisher wurden sie
nicht wie Menschen behandelt, sondern wie Lasttiere, nein - wie
Ware, wie Maschinen; die englischen Fabrikanten wissen das so
gut, daß sie niemals sagen, wir beschäftigen so viele Arbeiter,
sondern so viele Hände. Die nach diesem Prinzip handelnde besit-
zende Klasse zögerte keinen Augenblick, aus ihren Dienstleistun-
gen, solange sie sie brauchte, Profit zu ziehen, sie aber auf die
Straße zu werfen, sobald kein Profit aus ihnen mehr herauszupres-
sen war. Die Lage dieser Ausgestoßenen der modernen Gesellschaft
hat daher solche Formen angenommen, daß sie schlimmer nicht mehr
werden kann. Wohin Sie immer blicken mögen, nach den Ufern der
Rhône, in die schmutzigen und verpesteten Gassen von Manchester,
Leeds und Birmingham, nach den Bergen Sachsens und Schlesiens
oder nach den Ebenen Westfalens; überall werden Sie das gleiche
bleiche Elend, die gleiche dumpfe Verzweiflung in den Augen der
Menschen finden, die vergeblich ihre Rechte und ihre Stellung in
der zivilisierten Gesellschaft fordern." (Großes Aufsehen.)
Herr Weerth erklärte dann, daß nach seiner Meinung das Schutz-
zollsystem die Arbeiter in Wirklichkeit nicht schütze, daß aber
auch der Freihandel - und das sagte er ihnen klar und deutlich,
obwohl er selbst Freihandelsmann ist -, daß auch der Freihandel
niemals ihre elende Lage ändern würde. Er pflichtete in keiner
Weise den falschen Vorstellungen der Freihandelsmänner bei in be-
zug auf den Nutzen, den die Schaffung ihres Systems für die ar-
beitende Klasse bringen würde. Im Gegenteil würde der Freihandel,
das heißt die volle Realisierung der freien Konkurrenz, die Ar-
beiter
#302# Friedrich Engels
-----
in einen verschärften Wettbewerb untereinander zwingen, wie er
auch die Kapitalisten zwingen würde, noch rücksichtsloser mitein-
ander zu konkurrieren. Völlige Freiheit der Konkurrenz würde un-
vermeidlich einen enormen Aufschwung bei der Erfindung neuer Ma-
schinen bringen und dadurch täglich mehr Arbeiter als bisher auf
die Straße werfen. Sie würde die Produktion in jeder Weise voran-
treiben, aber gerade deshalb würde sie auch in dem gleichen Maße
Überproduktion, Überflutung der Märkte und Handelsstockungen för-
dern. Die Freihandelsmänner behaupten, daß jene furchtbaren Er-
schütterungen unter einem System der Handelsfreiheit aufhörten.
Aber, gerade das Gegenteil würde eintreten, sie würden mehr denn
je wachsen und sich vervielfachen. Es wäre möglich, nein sogar
sicher, daß zuerst die größere Billigkeit der Lebensmittel den
Arbeitern nützlich wäre, daß verringerte Produktionskosten ein
Wachstum der Konsumtion und der Nachfrage nach Arbeitskräften
bringen würde, aber daß dieser Vorteil sich sehr bald in Elend
verwandeln und daß die Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse
sie bald zu ihrem früheren Stand des Elends und der Not zurück-
führen würde. Nach diesen und ähnlichen Argumenten (die der Ver-
sammlung ganz neu zu sein schienen, denn sie wurden mit größter
Aufmerksamkeit verfolgt, obwohl der "Times"-Reporter sich bemü-
ßigt fühlte, sie mit dem unverschämten aber deutlichen Spott ab-
zutun: "Chartistische Phrasen") schloß Herr W e e r t h, wie
folgt:
"Denken Sie nicht, meine Herren, daß dies nur meine persönlichen
Ansichten sind, es sind auch die Anschauungen der englischen Ar-
beiter, einer Klasse, die ich unterstütze und respektiere, weil
es in der Tat intelligente und energische Menschen sind. (Beifall
'aus Höflichkeit'.) Ich werde das an einigen Beispielen beweisen.
Sechs volle Jahre buhlten die Herren der League, die wir hier se-
hen, vergeblich um Unterstützung bei der Arbeiterklasse. Die Ar-
beiter vergaßen niemals, daß die Kapitalisten ihre natürlichen
Feinde waren. Sie erinnerten sich der League-Unruhen von 1842
[195] und des Widerstandes der Fabrikanten gegen die Zehnstunden-
bill. Lediglich gegen Ende des Jahres 1845 verbündeten sich die
Chartisten, die Elite der Arbeiterklasse, vorübergehend mit der
League, um den gemeinsamen Feind, den Landadel, zu schlagen. Doch
das geschah nur für eine kurze Zeit, und sie ließen sich niemals
durch trügerische Verheißungen von Cobden, Bright und Co. irre-
leiten, noch erhofften sie von den Bourgeois billiges Brot, hohe
Löhne und Arbeit in Fülle. Nein, nicht einen Augenblick hörten
sie auf, allein ihrer eigenen Kraft zu vertrauen und eine beson-
dere Partei zu schaffen, welche von hervorragenden Führern, dem
unermüdlichen Duncombe und Feargus O'Connor, geleitet wird, die
trotz aller Verleumdungen - (hier blickte Herr Weerth Dr. Bowring
an, der eine schnelle krampfhafte Bewegung machte) ", die trotz
aller Verleumdung in ein paar Wochen neben Ihnen auf derselben
Bank im Unterhaus sitzen werden. Im Namen dieser Millionen nun,
die nicht daran glauben, daß der Freihandel
#303# Der Freihandelskongreß in Brüssel
-----
für sie Wunder tun wird, fordere ich Sie auf, noch an andere Mit-
tel zu denken, wenn Sie die Lage der Arbeiter wirklich verbessern
wollen. Meine Herren, ich rufe Sie in Ihrem eigenen Interesse
dazu auf. Sie brauchen nicht mehr den Zaren aller Reußen zu
fürchten oder einen Einfall der Kosaken, aber wenn Sie sich nicht
in acht nehmen, werden Sie den Aufstand Ihrer eigenen Arbeiter zu
fürchten haben, und diese werden Sie viel schrecklicher behandeln
als alle Kosaken der Welt. Meine Herren, die Arbeiter wollen
nicht mehr Worte von Ihnen, sondern Taten, und Sie haben keinen
Grund, darüber erstaunt zu sein. Die Arbeiter erinnern sich sehr
genau der Jahre 1830 und 1831, als sie in London für Sie die Re-
formbill durchfochten und für Sie in den Straßen von Paris und
Brüssel kämpften [196], wie man sie damals umwarb, ihnen die
Hände schüttelte und ihr Lob in höchsten Tönen sang, wie man sie
aber, als sie einige Jahre danach Brot forderten, mit Kartätschen
und Bajonetten empfing. ("Oh! Nein, nein!", "Ja, ja! Buzançais,
Lyon!") [197] Ich wiederhole deshalb, bringen Sie Ihren Freihan-
del durch, es wird gut sein, aber überlegen Sie gleichzeitig an-
dere Maßnahmen zugunsten der arbeitenden Klassen, oder Sie werden
es bereuen." (Lauter Beifall.)
Unmittelbar nach Herrn Weerth erhob sich Dr. Bowring zur Entgeg-
nung:
"Meine Herren", sagte er, "ich kann Ihnen mitteilen, daß das eh-
renwerte Mitglied, mein Vorredner, nicht von den englischen Ar-
beitern als ihr Vertreter auf diesem Kongreß gewählt wurde. Viel-
mehr gab das englische Volk in seiner Gesamtheit uns seine Stimme
zu diesem Zweck, und daher beanspruchen wir die Stellung als
seine wahren Vertreter."
Er fuhr dann fort, die Nutzeffekte des Freihandels zu schildern,
die sich in der verstärkten Einfuhr von Nahrungsmitteln nach Eng-
land seit Einführung des Zolltarifs im vergangenen Jahre zeigten.
Soundso viel Eier, soundso viel Zentner Butter, Käse, Schinken,
Speck, soundso viel Stück Vieh etc. etc., wer könnte alle diese
Dinge gegessen haben, wenn nicht die Arbeiter Englands? Er vergaß
allerdings, uns mitzuteilen, welche Mengen derselben Artikel we-
niger produziert wurden in England, seitdem die ausländische Kon-
kurrenz zugelassen worden war. Er nahm es als gegeben hin, daß
eine verstärkte Einfuhr ein entscheidender Beweis für einen ver-
größerten Verbrauch sei. Er erwähnte niemals, woher die Arbeiter
von Manchester, Bradford und Leeds, die jetzt auf der Straße lie-
gen und keine Arbeit bekommen können, woher diese Menschen das
Geld haben sollten, um das angebliche Wachstum des Verbrauchs und
der Annehmlichkeiten des Freihandels zu bezahlen; denn wir haben
niemals von Arbeitgebern gehört, die ihnen Geschenke in Form von
Eiern, Butter, Käse, Schinken und Fleisch für ihr Nichtstun ge-
macht hätten. Er verlor kein Wort über den gegenwärtigen schlech-
ten Stand des Handels, der in jeder Zeitung als wirklich bei-
spiellos dargestellt wird. Er schien nicht zu wissen, daß sich
alle Voraussagen der Freihandelsmänner seit der Durchführung der
Maßnahmen gerade als das
#304# Friedrich Engels
-----
Gegenteil der Wirklichkeit erwiesen haben. Er hatte kein Wort der
Anteilnahme für die Leiden der Arbeiter, sondern stellte im Ge-
genteil ihre jetzige düstere Lage als die schönste, glücklichste
und angenehmste hin, die sie sich billigerweise nur wünschen kön-
nen.
Die englischen Arbeiter mögen nun wählen zwischen ihren beiden
Vertretern. Eine Menge anderer Redner folgte, die über alle nur
erdenklichen Themen sprachen, außer dem einen, das zur Debatte
stand. Herr M'Adam, Parlamentsmitglied für Belfast (?), spann ein
endlos langes Garn über die Flachsspinnerei in Irland und er-
schlug die Versammlung mit Statistiken. Herr Ackersdijk, ein hol-
ländischer Professor, sprach über das alte und das neue Holland
und über die Universitäten von Lüttich, Walpole und Dewit. Herr
van de Casteele machte Ausführungen über Frankreich, Belgien und
die Regierung, Herr Asher aus Berlin, über deutschen Patriotismus
und irgendeinen neuen Gegenstand, den er als geistiges Erzeugnis
bezeichnete, und Herr den Tex, ein Holländer, über Gott weiß was.
Als zuletzt das Auditorium halb eingeschlafen war, wurde es durch
Herrn Wolowski geweckt, der zum Kernproblem zurückkehrte und
Herrn Weerth antwortete. Seine Rede, wie die aller Franzosen, be-
wies, wie sehr die französischen Kapitalisten die Erfüllung von
Herrn Weerths Prophezeiungen fürchten. Sie sprechen mit einer so
vorgetäuschten Sympathie, so heuchlerisch und weinerlich von den
Leiden der Arbeiterklasse, daß man es alles für bare Münze nehmen
könnte, würden nicht ihre runden Bäuche, der tief eingedrückte
Stempel der Heuchelei auf ihren Gesichtern, die erbärmlichen Re-
zepte, die sie vorschlagen, und der unverkennbar deutliche Kon-
trast zwischen ihren Worten und ihren Taten dem zu offensichtlich
widersprechen. Bisher ist es ihnen niemals gelungen, auch nur
einen einzigen Arbeiter zu täuschen. Dann erhob sich der Herzog
von Harcourt, ein französischer Pair, und nahm für die anwesenden
französischen Kapitalisten, Deputierten etc. ebenfalls das Recht
in Anspruch, die französischen Arbeiter zu vertreten. Dies tun
sie ebenso, wie Dr. Bowring die englischen Chartisten vertritt.
Nach ihm sprach Herr James Wilson, der mit größter Unverschämt-
heit die abgedroschensten League-Phrasen im schläfrigen Tonfall
eines Philadelphiaquäkers wiederholte.
Hieraus ersehen Sie, was für eine unterhaltsame Diskussion das
war. Dr. Marx aus Brüssel, den Sie als den weitaus talentierte-
sten Repräsentanten der deutschen Demokratie kennen, hatte sich
ebenfalls zum Wort gemeldet. Er hatte eine Rede ausgearbeitet,
die, wäre sie gehalten worden, es den "Herren" des Kongresses un-
möglich gemacht hätte, die Frage zur Abstimmung zu bringen. Aber
Weerths Opposition hatte sie vorsichtig gemacht. Sie waren ent-
schlossen, niemanden mehr sprechen zu lassen, dessen orthodoxer
#305# Der Freihandelskongreß in Brüssel
-----
Einstellung sie nicht ganz sicher waren. So verredeten die Herren
Wolowski, Wilson und die ganze edle Sippschaft die Zeit, und als
es vier Uhr war, wollten etwa noch sechs oder sieben Herren spre-
chen, aber der Vorsitzende brach die Diskussion jäh ab, und die
ganze Versammlung von Narren, Dummköpfen und Schurken, genannt
ökonomischer Kongreß, brachte in der Abstimmung einmütig gegen
eine Stimme (jenen armen deutschen Irren, den bereits erwähnten
Protektionisten) - die Demokraten nahmen überhaupt nicht daran
teil - zum Ausdruck, daß der Freihandel ungeheuer nützlich für
die Arbeiterklasse sei und sie von all ihrem Elend und all ihrer
Not befreien werde.
Da Herrn Marx' Rede, obwohl sie nicht gehalten wurde, die beste
und überzeugendste Widerlegung dieser schamlosen Lüge enthält,
die man sich vorstellen kann, und da ihr Inhalt, trotz so vieler
hundert Seiten pro und contra 1*) über diese Frage, für England
ganz neu sein wird, füge ich Ihnen einige Auszüge daraus bei.
Rede des Herrn Dr. Marx über Schutzzoll, Freihandel und die Ar-
beiterklasse
Es gibt zwei Schulen von Schutzzöllnern. Die erste Schule wird in
Deutschland von Dr. List vertreten, der beileibe nicht beabsich-
tigt hatte, die Handarbeit zu schützen; ganz im Gegenteil - die
Vertreter dieser Schule forderten Schutzzölle, um die Handarbeit
durch die Maschinerie zu vernichten, um die patriarchalische Ma-
nufaktur durch die moderne Manufaktur zu verdrängen. Sie haben
immer beabsichtigt, die Herrschaft der besitzenden Klassen (der
B o u r g e o i s i e) vorzubereiten und ganz besonders die der
großen industriellen Kapitalisten. Sie stellten den Ruin der
kleinen Fabrikanten, der kleinen Handwerker und der kleinen Bau-
ern offen als eine zwar bedauerliche, aber gleichzeitig ganz un-
vermeidliche Erscheinung dar. Die zweite Schule der Protektioni-
sten forderte nicht nur ein Schutzzollsystem, sondern ein absolu-
tes Prohibitivsystem. Sie schlugen vor, die Handarbeit gegen das
Eindringen der Maschinen wie auch gegen die ausländische Konkur-
renz zu schützen. Fernerhin machten sie den Vorschlag, nicht nur
die nationale Industrie, sondern auch die einheimische Landwirt-
schaft und Rohstoffproduktion durch hohe Zölle zu schützen. Und
wo landete diese Schule schließlich? Bei der Prohibition, nicht
nur der Einfuhr fremder Manufakturprodukte, sondern des Fort-
schritts der nationalen Industrie selbst. So geriet das ganze
-----
1*) für und wider
#306# Friedrich Engels
-----
Schutzzollsystem unvermeidlich m die Zange folgenden Dilemmas:
Entweder schützte es den Fortschritt der nationalen Industrie und
opferte damit die Handarbeit, oder es schützte die Handarbeit und
opferte damit die nationale Industrie. Die Protektionisten der
ersten Schule, diejenigen, die den Fortschritt der Maschinerie,
die Arbeitsteilung und den Konkurrenzkampf für unaufhaltbar hiel-
ten, sagten den Arbeitern: "Wenn ihr schon ausgepreßt werdet, so
laßt euch lieber von euren Landsleuten als von Fremden auspres-
sen." Wird sich die arbeitende Klasse für immer damit abfinden?
Ich glaube, nein. Diejenigen, die allen Wohlstand und Komfort der
Reichen produzieren, werden sich mit diesem schwachen Trost nicht
zufriedengeben. Sie werden größeren materiellen Wohlstand für
ihre materiellen Erzeugnisse verlangen. Aber die Schutzzöllner
sagen: "So erhalten wir nach alledem doch wenigstens den jetzigen
Zustand der Gesellschaft. Gut oder schlecht sichern wir dem Ar-
beiter Beschäftigung seiner Hände und verhindern, daß er durch
die fremde Konkurrenz aufs Pflaster geworfen wird." Mag dem so
sein. Damit geben die Schutzzöllner zu, daß sie unfähig sind,
auch im günstigsten Falle Besseres zu erreichen als die Auf-
rechterhaltung des S t a t u s q u o. Nun will aber die Arbei-
terklasse nicht die Fortdauer des jetzigen Zustandes, sondern
eine Veränderung zum Besseren. Noch eine letzte Zuflucht bleibt
dem Schutzzöllner. Er wird sagen, daß er einer sozialen Reform im
Innern des Landes durchaus nicht feindlich gegenübersteht, daß
aber zuallererst, um den Erfolg zu sichern, jede durch ausländi-
sche Konkurrenz hervorgerufene Gefährdung ausgeschaltet werden
muß. "Mein System", meint er, "ist kein System der sozialen Re-
form, aber wenn wir schon die Gesellschaft reformieren müssen,
täten wir es nicht besser im eigenen Lande, bevor wir über Refor-
men in unseren Beziehungen zu anderen Ländern sprechen?" Wirklich
sehr einleuchtend, aber hinter dieser scheinbar plausiblen Folge-
rung verbirgt sich ein äußerst befremdender Widerspruch. Während
das Schutzzollsystem dem Kapital des einen Landes Waffen in die
Hand gibt gegen das Kapital fremder Länder, während es das Kapi-
tal gegenüber den Ausländern stärkt, glaubt es, daß dieses so be-
waffnete und gestärkte Kapital schwach, nachsichtig und kraftlos
gegenüber der Arbeiterklasse sein wird. Das hieße doch an die
Barmherzigkeit des Kapitals appellieren, als ob das Kapital als
solches jemals barmherzig sein könnte. Doch werden soziale Refor-
men niemals durch die Schwäche der Starken bewirkt, sondern immer
durch die Stärke der Schwachen. Übrigens ist es durchaus nicht
nötig, sich an diesem Punkt aufzuhalten. Mit dem Augenblick, da
die Schutzzöllner zugeben, daß soziale Reformen nicht unbedingt
in den Bereich ihres Systems gehören und kein Bestandteil dessel-
ben sind, sondern daß sie eine ganz besondere Frage
#307# Der Freihandelskongreß in Brüssel
-----
bilden, von dem Augenblick an lassen sie die zur Debatte stehende
Frage fallen. Wir können sie deshalb beiseite lassen und die Aus-
wirkungen des Freihandels auf die Lage der Arbeiterklasse unter-
suchen. Das Problem, welchen Einfluß die vollkommene Befreiung
des Handels auf die Lage der Arbeiterklasse haben wird, ist sehr
leicht zu lösen. Es ist eigentlich gar kein Problem. Wenn etwas
in der Ökonomie klar dargelegt ist, so ist es das Schicksal, das
die Arbeiterklasse unter der Herrschaft des Freihandels erwartet.
Alle diesbezüglichen Gesetze, die in den klassischen Werken der
Ökonomie dargelegt sind, treffen nur unter der Voraussetzung
wirklich zu, daß der Handel von allen Fesseln befreit ist, daß
die Konkurrenz völlig unbehindert ist, nicht nur m einem Lande,
sondern auf dem ganzen Erdball. Diese Gesetze, die A. Smith, Say
und Ricardo aufgedeckt haben - Gesetze, welche die Produktion und
die Verteilung des Reichtums bestimmen - werden in demselben Maße
zutreffender, genauer und hören auf, bloße Abstraktionen zu sein,
wie sich der Freihandel durchsetzt. Auch die Meister der Wissen-
schaft erklären ständig, wenn sie ein ökonomisches Thema behan-
deln, ihre Schlußfolgerungen beruhten samt und sonders auf der
Voraussetzung, daß der Handel von allen noch bestehenden Fesseln
befreit werde. Sie handeln durchaus richtig, wenn sie diese Me-
thode anwenden; denn sie schaffen keine willkürlichen Abstraktio-
nen, sie schalten nur aus ihrem Denken eine Reihe von zufälligen
Umständen aus. So kann man mit Recht sagen, daß die Ökonomen -
Ricardo und andere - mehr über die Gesellschaft wissen, wie sie
sein wird, als über die Gesellschaft, wie sie ist. Sie wissen
mehr über die Zukunft als über die Gegenwart. Wenn man im Buch
der Zukunft lesen will, schlage man Smith, Say, Ricardo auf. Dort
findet man, so klar wie möglich, die Lage beschrieben, die die
Arbeiterklasse unter der Herrschaft des vollständig entwickelten
Freihandels erwartet. Man nehme zum Beispiel eine Autorität wie
Ricardo, eine Autorität, die unübertroffen ist. Was ist, ökono-
misch gesprochen, der natürliche, der normale Preis der Arbeit
eines Arbeiters? Ricardo antwortet: "Der auf ein Minimum redu-
zierte Arbeitslohn - seine unterste Grenze." Arbeit[1981 ist eine
Ware, so gut wie jede andere. Der Preis einer Ware wird aber von
der zu ihrer Produktion notwendigen Arbeitszeit bestimmt. Was ist
also notwendig, um die Ware Arbeit zu produzieren? Genau das, was
notwendig ist, um die Summe der für die Erhaltung des Arbeiters
und für den Ersatz seines Kräfteverbrauchs unentbehrlichen Waren
zu produzieren, damit er leben und irgendwie seine race fort-
pflanzen kann. Wir brauchen jedoch nicht anzunehmen, daß die Ar-
beiter niemals über diese unterste Grenze emporgehoben oder unter
dieselbe hinabgedrückt werden. Durchaus nicht; nach diesem Gesetz
wird es der Arbeiterklasse zeitweise
#308# Friedrich Engels
-----
besser gehen. Zeitweise werden sie mehr als das Existenzminimum
haben, aber dieses Mehr wird nur der Zusatzbetrag sein, der ihnen
zu anderer Zeit - in der Zeit der industriellen Stagnation - wie-
der am Existenzminimum fehlt. Das heißt, daß während einer be-
stimmten Zeitspanne, die jeweils periodisch auftritt, in der die
Wirtschaft den Kreislauf Prosperität, Überproduktion, Stagnation
und Krise durchmacht - wenn wir den Durchschnitt dessen nehmen,
was der Arbeiter über oder unter dem Existenzminimum erhält -, es
sich herausstellt, daß er im ganzen weder mehr noch weniger als
das Minimum erhalten hat; oder mit anderen Worten, daß die Arbei-
terklasse sich als Klasse erhalten haben wird nach großem Elend
und großen Leiden und nachdem sie viele Tote auf dem Schlachtfeld
der Industrie zurückgelassen hat. Aber was macht das? Die Klasse
existiert, und sie existiert nicht nur, sie wird sich noch ver-
größert haben. Dieses Gesetz, daß der niedrigste Lohnsatz der na-
türliche Preis der Ware Arbeit ist, wird sich in demselben Maße
durchsetzen wie Ricardos Voraussage, daß der Freihandel eine Re-
alität werden wird. Wir akzeptieren alles, was über die Vorteile
des Freihandels gesagt wurde. Die Produktivkräfte werden anwach-
sen, die Steuern, die dem Land durch die Schutzzölle auferlegt
worden sind, werden verschwinden, und alle Waren werden zu einem
niedrigeren Preis verkauft werden. Was wiederum sagt Ricardo?
"Daß Arbeit, eine Ware gleich anderen, ebenfalls zum niedrigeren
Preis verkauft werden wird", daß man sie tatsächlich für sehr we-
nig Geld haben kann, genauso wie Pfeffer und Salz. Und weiter:
Ebenso wie alle anderen Gesetze der politischen Ökonomie eine ge-
steigerte Bedeutung, ein Mehr an Wahrheit durch die Verwirkli-
chung des Freihandels erhalten werden - ebenso wird auch das von
Malthus aufgestellte Bevölkerungsgesetz sich unter der Herrschaft
des Freihandels in so großartigen Ausmaßen entwickeln, wie es nur
gewünscht werden kann. So hat man zu wählen: Entweder muß man die
gesamte politische Ökonomie, wie sie gegenwärtig besteht, ableh-
nen, oder man muß zulassen, daß unter der Handelsfreiheit die
ganze Schärfe der Gesetze der politischen Ökonomie gegen die ar-
beitende Klasse angewandt wird. Bedeutet das, daß wir gegen den
Freihandel sind? Nein, wir sind für den Freihandel, weil durch
den Freihandel alle ökonomischen Gesetze mit ihren höchst ver-
blüffenden Widersprüchen in einem größerem Maßstabe und auf einem
größeren Gebiet, auf der ganzen Erde wirksam werden, und weil aus
der Vereinigung aller dieser Widersprüche zu einer Gruppe sich
unmittelbar gegenüberstehender Widersprüche der Kampf hervorgehen
wird, der mit der Emanzipation des Proletariats endet.
Geschrieben Ende September 1847.
Aus dem Englischen.
zurück