Quelle: MEW 9 März - Dezember 1853
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Karl Marx
Die türkische Frage - Die "Times" - Die russische Expansion
["New-York Daily Tribune" Nr. 3794 vom 14. Juni 1853]
London, Dienstag, 31. Mai 1853
Admiral Corrys Flotte wurde in der Bucht von Biskaya auf dem Weg
nach Malta gesehen, wo sie das Geschwader des Admirals Dundas
verstärken soll. Dazu bemerkt der "Morning Herald" [24] ganz
richtig:
"Hätte man Admiral Dundas gestattet, sich vor einigen Wochen mit
dem französischen Geschwader bei Salamis zu vereinigen, so wäre
die Sachlage jetzt eine ganz andere."
Sollte Rußland, nur um den Schein zu wahren, den Versuch machen,
die lächerlichen Demonstrationen Menschikows durch wirkliche
Kriegsmanöver zu unterstützen, so würden seine beiden ersten
Schritte wahrscheinlich in der Wiederbesetzung der Donaufürsten-
tümer und in einem Einfall in die armenische Provinz Kars und in
den Hafen von Batum bestehen, Territorien, die es sich schon
durch den Vertrag von Adrianopel um jeden Preis sichern wollte.
Da der Hafen von Batum der einzige sichere Zufluchtsort für
Schiffe im östlichen Teil des Schwarzen Meeres ist, so würde
seine Besitzergreifung durch Rußland die Türkei der letzten Mari-
nestation im Pontus berauben und aus diesem ein ausschließlich
russisches Meer machen. Besäße Rußland neben Kars, dem reichsten
und bestkultiviertesten Teile Armeniens, noch diesen Hafen, so
wäre es imstande, den Handel Englands mit Persien über Trapezunt
abzuschneiden und sich eine Operationsbasis gegen Persien wie
auch gegen Kleinasien zu schaffen. Wenn England und Frankreich
jedoch standhaft bleiben, so wird Nikolaus dort ebensowenig seine
Pläne verwirklichen wie seinerzeit Kaiserin Katharina ihre Pläne
im Kampf gegen Aga Mohammed, als dieser seinen Sklaven befahl,
den russischen Gesandten Woinowitsch und seine Gefährten mit
Peitschenhieben aus Asterabad auf ihre Schiffe zurückzujagen.
#115# Die türkische Frage - Die "Times" - Die russische Expansion
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Nirgends erregten die neuesten Nachrichten mehr Bestürzung als im
Printing House Square. Als die "Times" [26] nach dem schreckli-
chen Schlag wieder ihr Haupt zu erheben wagte, machte sie sich in
verzweifelten Ausfällen gegen den elektrischen Telegraphen, diese
"ganz unglaubliche" Einrichtung, Luft. "Aus diesen lügenhaften
Drahtnachrichten", rief sie aus, "können keine zuverlässigen
Schlüsse gezogen werden." Nachdem sie so ihre eignen unzuverläs-
sigen Schlüsse dem elektrischen Draht zur Last gelegt hat, bemüht
sich die "Times" nun auch, ganz so wie in Erklärungen der Mini-
ster im Parlament, ihre uralten "zuverlässigen" Prämissen loszu-
werden.
Sie sagt:
"Was immer das Schicksal des Ottomanischen Reichs oder vielmehr
der mohammedanischen Macht sein wird, die es vier Jahrhunderte
lang beherrschte, es kann unter a l l e n Parteien unseres Lan-
des und Europas keine Meinungsverschiedenheit darüber geben, daß
der allmähliche Fortschritt der einheimischen christlichen Bevöl-
kerung zu Zivilisation und unabhängiger Regierungsform im Inter-
esse der ganzen Welt liegt und daß man nie zugeben sollte, daß
diese Völkerschaften unter das Joch Rußlands fallen und dessen
gigantisches Herrschaftsgebiet noch vergrößern. Wir hegen in die-
sem Punkt die bestimmte Zuversicht, daß nicht nur die Türkei,
sondern ganz Europa solchen Ansprüchen Rußlands Widerstand lei-
sten würde und daß dieses Streben nach Annexionen und Gebietsver-
größerungen sich nur in seiner wahren Gestalt zu zeigen braucht,
um allgemeine Antipathie und unüberwindliche Opposition zu erre-
gen, an, der sich aktiv zu beteiligen die griechischen und slawi-
schen Untertanen der Türkei ihrerseits bereit sind."
Wie kam die arme "Times" dazu, an die "guten Absichten" Rußlands
gegenüber der Türkei und an seine "Antipathie" gegen jede Expan-
sion zu glauben? Rußlands gute Absichten gegenüber der Türkei!
Schon Peter I. wollte auf den Trümmern der Türkei emporkommen.
Katharina überzeugte Österreich und forderte Frankreich dazu auf,
sich an der geplanten Zerstücklung der Türkei und an der Errich-
tung eines griechischen Reiches in Konstantinopel zu beteiligen,
das ihr Enkel 1*) regieren sollte, der schon für diese Aufgabe
erzogen war und sogar im Hinblick darauf seinen Namen bekommen
hatte. Nikolaus, weit bescheidener, verlangt nur das a u s-
s c h l i e ß l i c h e P r o t e k t o r a t über die Türkei.
Die Menschheit darf nicht vergessen, daß Rußland der P r o-
t e k t o r Polens, der P r o t e k t o r der Krim, der
P r o t e k t o r Kurlands, der P r o t e k t o r Georgiens,
Mingreliens, der tscherkessischen und kaukasischen Stämme gewesen
ist! Und nun will es noch der P r o t e k t o r der Türkei wer-
den! Um Rußlands "Antipathie" gegen Gebietsvergrößerungen zu il-
lustrieren,
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1*) Konstantin
#116# Karl Marx
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führe ich folgende Daten aus der großen Anzahl der Eroberungen
an, die Rußland seit Peter dem Großen gemacht hat.
Die russischen Grenzen sind vorgerückt:
in Richtung auf Berlin, Dresden und Wien um etwa 700 Meilen
in Richtung auf Konstantinopel " " 500 "
in Richtung auf Stockholm " " 630 "
in Richtung auf Teheran " " 1000 "
Rußlands Eroberungen in Schweden sind an Flächeninhalt größer als
das von diesem Königreich noch übriggebliebene Stück; in Polen
sind sie fast so groß wie das ganze österreichische Kaiserreich;
in der europäischen Türkei größer als Preußen (ohne die Rheinpro-
vinz); in der asiatischen Türkei ebenso groß wie das Territorium
ganz Deutschlands; in Persien so groß wie England; in der Tatarei
so groß wie die europäische Türkei, Griechenland, Italien und
Spanien zusammengenommen. Die gesamten Eroberungen Rußlands in
den letzten sechzig Jahren sind an Ausdehnung und Wichtigkeit dem
ganzen Reich ebenbürtig, das es vor dieser Zeit in Europa besaß.
Karl Marx
Aus dem Englischen.
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