Quelle: MEW 9 März - Dezember 1853
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Karl Marx
[Panik an der Londoner Börse - Streiks] [263]
["New-York Daily Tribune" Nr. 3900 vom 17. Oktober 1853]
London, Dienstag, 27. September 1853
Die Nachricht, daß die vereinigten Flotten in die Dardanellen
eingelaufen sind, rief, gemeinsam, mit Gerüchten über einen Wech-
sel in der Regierung und über kommerzielle Schwierigkeiten, am
Sonnabend an der Börse eine wahre Panik hervor:
"Es würde keine leichte Aufgabe sein, wenn man den Stand der eng-
lischen Staatspapiere und die Szenen, die sich an der Börse abge-
spielt haben, zu beschreiben hätte. Selten hat man eine solche
Aufregung beobachtet, und es ist gut, daß es nicht häufig vor-
kommt... Es ist wohl keine Übertreibung, wenn man behauptet, daß
die augenblickliche B a i s s e s p e k u l a t i o n fast der
zur Zeit der Französischen Revolution gleichkommt... Staatspa-
piere wurden diese Woche mit 91 1/2 % gehandelt und waren seit
1849 nicht mehr so niedrig ... Die Eisenbahnaktien fallen un-
ablässig."
Das berichtet der m i n i s t e r i e l l e "Observer" [101].
Alle erstrangigen Eisenbahnaktien lagen mit 68 sh. bis zu 80 sh.
unter den Preisen der vergangenen Woche. Die plötzliche Über-
schwemmung des Marktes mit Aktien hat noch nicht viel zu bedeu-
ten, weil allein die Spekulanten in der Lage sind, an einem fest-
gesetzten Zeitpunkt an der Börse Tumult hervorzurufen und die
bonafide 1*)-Aktieninhaber einzuschüchtern. Doch da die starke
Fluktuation der Wertpapiere mit den allgemeinen Merkmalen einer
Handelskrise zusammenfällt, wird sie, selbst wenn sie einen rein
spekulativen Charakter tragen sollte, in ihren Auswirkungen ver-
hängnisvoll sein. Auf alle Fälle wird sich diese Klemme auf dem
Geldmarkt auf alle in Zukunft zu erwartenden Staatsanleihen und
ganz besonders auf die österreichischen fatal auswirken. Darüber
hinaus werden die Kapitalisten daran erinnert, daß Österreich
1811 auf
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1*) in gutem Glauben handelnden
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seine Schuldverschreibungen eine Dividende von 1 sh. 7 1/4 d. für
jedes Pfund zahlte; daß, obwohl seine Einkünfte von 12 Millionen
Pfd. St. auf 18 Millionen Pfd. St. durch einen äußerst starken
Steuerdruck auf Ungarn und die Lombardei seit 1849 künstlich
hochgeschraubt wurden, das jährliche Defizit durchschnittlich
mehr als ein Viertel der gesamten Einkünfte beträgt; daß etwa 50
Millionen Pfd. St. zu seiner Staatsschuld seit 1846 dazugekommen
sind und daß es vor einem neuen Bankrott nur durch die eigennüt-
zige Langmut der Kinder Israels bewahrt wurde, die immer noch
hoffen, die Haufen österreichischer Staatspapiere, die sich in
ihren Kassen angesammelt haben, loszuwerden.
"Der Handel wurde etwas über seine regulären Grenzen hinausge-
trieben, und unsere kommerziellen Verbindlichkeiten haben teil-
weise unsere Mittel überschritten", sagt der "Observer".
"Es ist nutzlos", ruft die "Morning Post" [27], "der Frage
ausweichen zu wollen, denn obwohl es in der schwebenden Krise
einige günstige Merkmale gibt, die es 1847 nicht gab, muß es doch
für jeden aufmerksamen Beobachter der gegenwärtigen Ereignisse
wahrnehmbar sein, daß in den Verhältnissen, glimpflich gesagt,
eine sehr mißliche Lage eingetreten ist."
Die Metallreserven der Bank von England haben erneut um 338 954
Pfd. St. abgenommen, und ihre Reserven an Banknoten - d.h. der
für Wechseldiskontierungen zur Verfügung stehende Fonds - belau-
fen sich auf nur sieben Millionen, einer für den Schatzkanzler
gerade ausreichenden Summe, um die unzufriedenen Besitzer von
Südseeaktien auszuzahlen. Über die Lage auf dem Kornmarkt erfah-
ren wir aus dem gestrigen "Mark Lane Express" [256]:
"Bei durchschnittlichen Ernten haben wir seit Jahren mehrere Mil-
lionen Quarters importierten Weizen jährlich verbraucht. Was mag
danach unter den bestehenden Umständen unser voraussichtlicher
Bedarf sein? Die Weizenernte in diesem Jahre kann auf höchstens
drei Viertel des Durchschnittsertrags geschätzt werden, und bei
keiner anderen Frucht wird der Ertrag übermäßig sein. Die Kartof-
feln sind von der Krankheit schwer betroffen, und sie mußten we-
gen der Unmöglichkeit, sie einzulagern, schnell dem Verbrauch zu-
geführt werden, so daß dieses Nahrungsmittel in Kürze knapp wer-
den wird. Unser Verbrauch war so gewaltig, daß trotz einer Ein-
fuhr von 3 304 025 Quarters Weizen und 3 337 206 Zentnern Mehl
innerhalb der acht Monate, die mit dem 5. September endeten, die
Vorräte in den Speichern keineswegs übermäßig sind... Wir bemühen
uns natürlich, die Schwierigkeiten, in die das Land geraten kann,
nicht zu übertreiben, doch e s w ä r e t ö r i c h t z u
l e u g n e n, d a ß e s S c h w i e r i g k e i t e n
g i b t... Die Berichte über die Weizenernte lauten sehr
u n b e f r i e d i g e n d; in vielen Fällen, wo das Ernteer-
gebnis beim Drusch geprüft wurde, ergab der Ertrag kaum mehr als
die Hälfte der erwarteten Menge."
#343# Panik an der Londoner Börse - Streik:
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Während so der klare Himmel kommerzieller und industrieller Pro-
sperität von düsteren Aussichten verdunkelt wird, sind
S t r e i k s immer noch eine wichtige Erscheinung in unserer
industriellen Lage und werden es auch noch für einige Zeit sein;
sie fangen allerdings an, ihren Charakter zu verändern, gleich-
zeitig mit den Veränderungen, die gegenwärtig in der allgemeinen
Lage des Landes vor sich gehen.
Die Spinner verlangten in Bury erneut eine Aufbesserung von zwei
Pence je tausend Docken. Da die Fabrikanten ablehnten, stellten
sie die Arbeit ein, und die Weber werden desgleichen tun, sobald
sie den Garnvorrat aufgearbeitet haben. Während in Preston die
Weber noch eine Lohnerhöhung von 10% verlangen und von den Arbei-
tern der Umgebung unterstützt werden, haben sechs Fabrikanten
ihre Fabriken bereits geschlossen, und die anderen werden ihnen
wohl folgen. Dadurch sind zweitausend Arbeiter ihrer Arbeit be-
raubt worden. In Blackburn streiken die Maschinenschlosser der
Eisengießerei des Herrn Dickinson immer noch. In Wigan haben die
Haspler einer Spinnerei für eine Lohnerhöhung um 1 Penny je 20
Stück gestreikt, und die Spinner an den Wasserspinnmaschinen ei-
ner anderen Spinnerei weigerten sich, wieder mit der Arbeit anzu-
fangen, ehe nicht ihr Lohn erhöht würde. Beide Spinnereien wurden
geschlossen. Am selben Ort wird der Streik der Kohlenhäuer fort-
gesetzt, welcher etwa 5000 Arbeiter erfaßt hat. Der Earl of Craw-
ford und andere große Bergwerksbesitzer der Nachbarschaft haben
ihre Arbeiter am Mittwochabend entlassen. Daraufhin wurde eine
stark besuchte Versammlung der Bergarbeiter in Scales Orchard ab-
gehalten. In Manchester stehen - 5000 Webstühle still, außerdem
dauern kleinere Streiks an, wie der Streik der Barchentfärber,
der Garnfärber, der Filzhütemacher usw. In Bolton werden Versamm-
lungen der Arbeiter der Baumwollspinnereien für eine Erhöhung der
Löhne abgehalten. Die Schuhmacher streiken in Trentham, Bridgewa-
ter usw.; die Droschkenkutscher von Glasgow streiken; die Stein-
metzen von Kilmarnock; ein Ausstand der Polizei droht in Oldham
etc. Die Nagelschmiede von Birmingham verlangen eine Erhöhung von
10%; die Zimmerleute von Wolverhampton eine von sechs Pence pro
Tag; gleichfalls die Londoner Zimmerleute, und so geht es weiter.
Während die Arbeiter in den wichtigsten Industriestädten von Lan-
cashire, Cheshire, Derbyshire usw. öffentliche Versammlungen ab-
halten, um Maßnahmen für die Unterstützung ihrer leidenden Brüder
zu beraten, sind die Fabrikanten andererseits entschlossen, ihre
Betriebe für unbestimmte Zeit zu schließen, um ihre Arbeiter
durch Hunger zur Unterwerfung zu zwingen.
"Wir sehen", sagt die "Sunday Times" [252], "daß im Grunde genom-
men bei der Forderung auf Lohnerhöhung nicht über sechs Pence pro
Tag hinausgegangen wird;
#344# Karl Marx
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und wenn wir auf die augenblicklichen Preise für Lebensmittel
blicken, kann schwerlich gesagt werden, daß diese Forderung über-
mäßig ist. Wir wissen, daß man annimmt, eines der Ziele der jetzt
Streikenden sei, eine Art k o m m u n i s t i s c h e n A n-
t e i l am wirklichen oder vermeintlichen Profit des Fabrikanten
zu erhalten; doch der Vergleich der im steigenden Maße gefor-
derten Lohnerhöhungen mit den v e r t e u e r t e n P r e i-
s e n f ü r d i e w i c h t i g s t e n L e b e n s m i t-
t e l widerlegt diese Beschuldigung vollkommen."
Wenn die Arbeiter mehr als nur "die wichtigsten Lebensmittel"
verlangen, wenn sie beanspruchen, an den Profiten, die ihre ei-
gene Arbeit geschaffen hat, "teilhaben zu wollen", dann werden
sie k o m m u n i s t i s c h e r Tendenzen angeklagt. Was hat
der Lebensmittelpreis mit dem "ewigen und höchsten Gesetz der
Nachfrage und Zufuhr" zu tun? Als in den Jahren 1839, 1840, 1841
und 1842 ein ständiger Anstieg der Preise für Lebensmittel vor
sich ging, sanken die Löhne, bis sie das Hungerniveau erreicht
hatten. Damals sagten die gleichen Industriellen, "Löhne hängen
nicht vom Lebensmittelpreis ab, sondern von dem ewigen Gesetz der
Nachfrage und Zufuhr". Die "Sunday Times" sagt,
"den Forderungen der Arbeiter könne entsprochen werden, wenn sie
'in respektvollem Ton gestellt' werden".
Doch was hat R e s p e k t mit dem "ewigen Gesetz der Nachfrage
und Zufuhr" zu tun? Hat man je davon gehört, daß der Kaffeepreis
in Mincing Lane [264] deswegen gestiegen ist, weil er "in
r e s p e k t v o l l e r Form gefordert wurde"? Der Handel mit
menschlichem Fleisch und Blut wird mit denselben Methoden betrie-
ben wie der Handel mit anderen Waren und sollte zumindest die
gleichen Chancen haben.
Die Lohnbewegung ist nun seit sechs Monaten im Gange. Wollen wir
sie an Hand der Methode prüfen, die auch von den Fabrikanten an-
erkannt wird, an Hand des "ewigen Gesetzes der Nachfrage und Zu-
fuhr", oder will man uns glauben machen, daß die ewigen Gesetze
der Politischen Ökonomie in der gleichen Weise interpretiert wer-
den müssen wie die ewigen Friedensverträge, die Rußland mit der
Türkei abgeschlossen hat?
Selbst wenn die Arbeiter ihre Positionen vor sechs Monaten noch
nicht durch die große Nachfrage nach ihrer Arbeitskraft, durch
die ständige und gewaltige Auswanderung nach den Goldfeldern und
nach Amerika gestärkt gefunden hätten, so hätten sie aus dem all-
gemeinen Prosperitätsgeschrei, das von der sich in Lobpreisungen
über den Freihandel ergehenden Bourgeoispresse erhoben wurde, auf
das Ansteigen der Profite der Industriellen schließen müssen.
Selbstverständlich forderten die Arbeiter ihren Anteil an der so
laut verkündeten Prosperität, doch die Fabrikanten kämpften hart
dagegen.
#345# Panik an der Londoner Börse - Streiks
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Daraufhin schließen sich die Arbeiter zusammen, drohen mit Streik
und bestehen in mehr oder weniger friedlicher Weise auf ihren
Forderungen. Wo immer ein Streik ausbricht, ergehen sich die Ge-
samtheit der Unternehmer sowie ihre Sprachrohre von der Kanzel,
der Rednertribüne und in ihren Presseorganen in maßlosen Schmä-
hungen über die "Frechheit und Dummheit solcher V e r s u c h e,
i h n e n z u d i k t i e r e n". Was haben die Streiks jedoch
anderes bewiesen, als daß die Arbeiter ihre eigene Methode vorge-
zogen haben, um das Verhältnis zwischen Nachfrage und Zufuhr zu
untersuchen, anstatt den eigennützigen Versicherungen ihrer Un-
ternehmer Glauben zu schenken? Unter gewissen Umständen gibt es
für den Arbeiter keine andere Möglichkeit festzustellen, ob er
nach dem wahren Marktwert seiner Arbeit [265] bezahlt wird oder
nicht, als in den Streik zu treten oder damit zu drohen. 1852 war
im Durchschnitt die Spanne zwischen den Kosten des Rohmaterials
und dem Preis der fertigen Ware - z.B. die Spanne zwischen den
Kosten für Rohbaumwolle und des fertigen Garns, zwischen dem
Preis für Garn und dem für Baumwollwaren - größer, und folglich
waren die Profite der Spinnereibesitzer und Fabrikanten zweifel-
los höher als im Jahre 1853. Weder Garne noch Fertigwaren sind
bis vor kurzem im gleichen Verhältnis wie die Baumwolle im Preis
gestiegen. Weshalb haben also die Fabrikanten 1852 nicht sofort
die Löhne erhöht? Das Verhältnis von Nachfrage und Zufuhr, sagen
sie, hätte 1852 ein solches Ansteigen der Löhne nicht gerechtfer-
tigt. War dem wirklich so? Unbeschäftigte Arbeiter gab es vor ei-
nem Jahre mehr als heute, doch die Proportion steht in keinem
Verhältnis zu den plötzlichen und wiederholten Lohnerhöhungen,
die den Fabrikanten seitdem, wie es die Streiks bewiesen haben,
kraft des Gesetzes von Nachfrage und Zufuhr abgetrotzt würden.
Sicher sind mehr Fabriken in Betrieb als im vergangenen Jahr, und
mehr kräftige Arbeiter sind seitdem ausgewandert; doch gleichzei-
tig gab es noch nie ein solch starkes Angebot an Fabrikarbeitern,
die aus den landwirtschaftlichen und anderen Erwerbszweigen in
unsere "Bienenstöcke der Industrie" hineinströmten, wie während
der letzten zwölf Monate.
Tatsache ist, daß die Arbeiter, wie gewöhnlich, zu spät merkten,
daß der Wert ihrer Arbeit bereits vor vielen Monaten um 30% ge-
stiegen war, und dann, im Sommer dieses Jahres - erst dann - fin-
gen sie zu streiken an, zunächst um 10% Lohnerhöhung, dann um
weitere 10% und so fort, um soviel natürlich, wie sie erhalten
konnten. Die ständigen Erfolge dieser Streiks trugen zu ihrer
Verbreitung über das ganze Land bei und waren das beste Zeugnis
für ihre Rechtmäßigkeit; und ihr schnelles Aufeinanderfolgen in
demselben Berufszweig, durchgeführt von den gleichen Arbeitern,
die neue Erhöhungen forderten, hatte vollauf bewiesen, daß die
Arbeiter, Angebot
#346# Karl Marx
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und Nachfrage entsprechend, längst Anspruch auf Lohnerhöhungen
gehabt hatten, welche ihnen lediglich infolge ihrer Unkenntnis
der Lage am Arbeitsmarkt vorenthalten worden war. Als sie
schließlich mit ihr vertraut wurden, kehrten die Fabrikanten, die
die ganze Zeit das "ewige Gesetz von Nachfrage und Zufuhr" gepre-
digt hatten, zur Doktrin des "aufgeklärten Despotismus" zurück
und erhoben den Anspruch, mit ihrem Eigentum nach Gutdünken zu
verfahren; sie erklärten erzürnt in Form eines U l t i m a-
t u m s, daß die Arbeiter nicht verstünden, was gut für sie sei.
Die Veränderung der allgemeinen wirtschaftlichen Perspektiven
mußte auch zu einer Veränderung des Verhältnisses zwischen Arbei-
tern und ihren Unternehmern führen. Die plötzlich eingetretene
Veränderung fiel zusammen mit vielen Streiks, die bereits begon-
nen hatten und mit noch mehr, die vorbereitet wurden. Zweifellos
werden sie trotz der Depression noch weitergehen und auch um hö-
here Löhne geführt werden, denn auf das Argument der Fabrikanten,
sie wären nicht in der Lage, Lohnerhöhungen zu zahlen, werden die
Arbeiter antworten, die Lebensmittel seien teurer geworden, wobei
beide Argumente gleich gewichtig sind. Falls jedoch, wie ich an-
nehme, die Depression andauern sollte, werden die Arbeiter bald
ihre ganze Schwere zu verspüren bekommen, und sie werden - sehr
aussichtslos - gegen L o h n h e r a b s e t z u n g e n zu
kämpfen haben. Doch dann wird ihre Aktivität bald auf die
p o l i t i s c h e E b e n e übergreifen, wobei d i e i m
S t r e i k g e s c h a f f e n e n n e u e n G e w e r k-
s c h a f t s o r g a n i s a t i o n e n f ü r s i e v o n
u n s c h ä t z b a r e m W e r t s e i n w e r d e n.
Karl Marx
Aus dem Englischen.
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