Quelle: MEW 9 März - Dezember 1853
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Friedrich Engels
Die Russen in der Türkei
["New-York Daily Tribune" Nr. 3900 vom 17. Oktober 1853,
Leitartikel]
Die Gewißheit des Krieges und die Wahrscheinlichkeit, daß jeder
Dampfer, der jetzt aus Europa eintrifft, über die taktischen Be-
wegungen von Armeen und über den Ausgang von Schlachten Nachricht
bringen wird, macht es mehr denn je erforderlich, die jeweiligen
Positionen und die Kräfte der kriegführenden Mächte sowie die
verschiedenen Tatumstände genau zu kennen, welche den Verlauf des
Feldzugs bestimmen werden. Dieser Notwendigkeit denken wir an
Hand einer knappen Analyse der offensiven und defensiven Elemente
auf beiden Seiten sowie der wichtigsten strategischen Erwägungen
nachzukommen, die wahrscheinlich bei den Absichten der sich ge-
genüberstehenden Befehlshaber eine Rolle spielen.
Die russischen Truppen, die die Donaufürstentümer besetzt halten,
bestanden anfangs aus 2 Infanteriekorps und der üblichen Reserve
an Kavallerie und Artillerie. Ein Infanteriekorps in Rußland um-
faßt 3 Divisionen oder 6 Infanteriebrigaden, mehrere Regimenter
leichte Kavallerie und eine Artilleriebrigade; insgesamt dürfte
es ungefähr 55 000 Mann stark sein mit ungefähr 100 Geschützen.
Zu je 2 Infanteriekorps gehört ein "Reservekavalleriekorps" und
auch Reserveartillerie einschließlich schwerer Festungs-
artillerie. Demnach belief sich die Besatzungsarmee auf dem
Papier ursprünglich auf ungefähr 125 000 Mann. Ein drittes
Infanteriekorps rückt inzwischen über den Pruth vor, und wir
können daher nach Abzug aller zu erwartenden Ausfälle die
russischen Truppen, die an der Donau konzentriert sind, auf
140 000 bis 150 000 Mann schätzen. Wie viele zum gegebenen
Zeitpunkt in der Lage sein werden, sich um die Fahnen zu scharen,
hängt von den gesundheitlichen Verhältnissen in jenem Gebiet ab,
von der größeren oder geringeren Tüchtigkeit des russischen
Verpflegungswesens und von anderen Umständen
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ähnlicher Natur, die man unmöglich aus der Ferne richtig einzu-
schätzen vermag:
Auf Grund aller uns zur Verfügung stehenden Informationen kann
die türkische Armee, die den Russen an der Donau gegenübersteht,
auf allerhöchstem 110 000 bis 120 000 Mann geschätzt werden. Vor
dem Eintreffen der ägyptischen Truppen hieß es allgemein, daß sie
nicht stärker als 90 000 Mann war. Folglich sind, soweit wir das
beurteilen können, die Türken rein zahlenmäßig offensichtlich un-
terlegen. Und hinsichtlich des eigentlichen Wertes und der Quali-
tät beider Armeen sind ihnen die Russen ebenfalls überlegen. Es
stimmt zwar, daß die türkische Artillerie, die von hervorragenden
französischen und preußischen Offizieren ausgebildet wurde, hohes
Ansehen genießt, während die russischen Kanoniere bekanntlich
schlecht treffen; aber die türkische Infanterie kann man trotz
aller in letzter Zeit vorgenommenen Verbesserungen nicht mit den
russischen Grenadieren vergleichen, und den türkischen Reitern
fehlt noch jene Disziplin und Standhaftigkeit in der Schlacht,
die einen zweiten und dritten Angriff möglich machen, wenn der
erste zurückgeschlagen worden ist.
Auf beiden Seiten sind die Generale verhältnismäßig neu. Wir hat-
ten bereits Gelegenheit, die militärischen Verdienste des pursten
Gortschakow, des russischen Befehlshabers, und die Gründe, wes-
halb der Kaiser ihn auf jenen Posten berief, unseren Lesern dar-
zulegen [266]. Obwohl Gortschakow ein ehrenhafter Mann ist und
mit Eifer für Rußlands "historische Sendung" eintritt, muß sich
erst noch zeigen, ob er einen Feldzug von solch einem Ausmaß, wie
den jetzt eröffneten, führen kann. Omer Pascha, der türkische
Oberbefehlshaber, ist besser bekannt, und was wir über ihn wis-
sen, lautet im allgemeinen günstig. Von seinen Feldzügen gegen
Kurdistan und Montenegro war der erste unter schwierigen Bedin-
gungen erfolgreich; der zweite, außerordentlich gut überlegt,
hätte fast ohne Blutvergießen zum Erfolg geführt, hätte sich
nicht die Diplomatie eingemischt [267]. Also liegt die Überlegen-
heit auf Seiten der Türkei vielleicht vor allem in der Führung;
in beinahe allen anderen Beziehungen sind die Russen im Vorteil.
Obwohl die Türken den Krieg erklärt haben und wahrscheinlich
leidenschaftlicher als die Russen darauf brennen, mit dem Feind
handgemein zu werden, scheint es dennoch offensichtlich, daß sie
als die Schwächeren den größeren Vorteil in der Defensive und die
Russen in der Offensive haben werden. Das schließt natürlich die
Chancen aus, die sich aus offenkundigen Fehlern der beiden Gene-
rale in ihren Maßnähmen ergeben können. Wären die Türken für die
Offensive stark genug, so stünde ihre Taktik fest. Sie müßten die
Russen dann durch Scheinmanöver an der oberen Donau täuschen,
ihre
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Truppen schnell zwischen Silistria und Hirsowa konzentrieren, die
untere Donau überqueren, den Feind an seiner schwächsten Stelle
angreifen, d.h. also auf dem engen Landstreifen, der die Grenze
zwischen der Walachei und der Moldau bildet, dann die russischen
Truppen in den beiden Donaufürstentümern voneinander trennen, mit
konzentrierten Kräften das Korps in der Moldau zurückdrängen und
das in der Walachei isolierte und abgeschnittene Korps zerschla-
gen. Aber da die Türken bei einer offensiven Bewegung keinerlei
Aussichten auf Erfolg haben, könnten sie eine solche Operation
billigerweise nur dann wagen, wenn der russische Befehlshaber un-
erhörte Fehler macht.
Wenn die Russen die Gelegenheit zur Offensive ergreifen, so müs-
sen sie zwei natürliche Hindernisse überwinden, ehe sie zum Her-
zen des Türkischen Reiches vordringen; zuerst die Donau und dann
den Balkan. Das Überqueren eines breiten Stromes, selbst ange-
sichts einer feindlichen Armee, ist ein militärisches Unterneh-
men, das im Laufe der Revolutionskriege und der napoleonischen
Kriege so oft vollbracht worden ist, daß heutzutage jeder Leut-
nant weiß, wie man so etwas macht. Ein paar Scheinmanöver, ein
gut ausgerüsteter Pontontrain, einige Batterien zur Sicherung der
Brücken, wohlüberlegte Maßnahmen zur Sicherung des Rückzugs und
eine tapfere Avantgarde, das sind ungefähr alle erforderlichen
Bedingungen. Aber das Überschreiten eines großen Gebirgszuges und
besonders eines mit so wenigen Pässen und gangbaren Straßen wie
der Balkan, ist ein ernsteres Unternehmen. Wenn dieser Gebirgszug
in einer Entfernung von nicht mehr als 40 bis 60 Meilen parallel
zu einem Fluß verläuft wie der Balkan zur Donaµ, dann wird die
Angelegenheit noch ernster, denn ein in den Bergen geschlagenes
Korps kann bei aktiver Verfolgung von seinen Brücken abgeschnit-
ten und in den Strom getrieben werden, ehe Unterstützung eintref-
fen kann; eine auf diese Weise in einer großen Schlacht geschla-
gene Armee wäre unvermeidlich verloren. Gerade diese geringe Ent-
fernung zwischen Donau und Balkan und ihr paralleler Verlauf ma-
chen die natürliche militärische Stärke der Türkei aus. Der Bal-
kan, von der mazedonisch-serbischen Grenze bis zum Schwarzen
Meer, d.h. der eigentliche Balkan, "Weliki Balkan", hat fünf
Pässe, von denen zwei solche Gebirgsstraßen sind wie eben in der
Türkei üblich. Diese beiden sind der Paß von Ichtiman, auf der
Straße von Belgrad über Sofia, Philippopel, Adrianopel nach Kon-
stantinopel, und der Paß von Dobrol, an der Straße von Silistria
und Schumla. Von den anderen drei liegen zwei zwischen den eben
genannten Und der dritte zwischen Dobrol und dem Schwarzen Meer;
diese können für eine große Armee mit dem Train als unpassierbar
gelten. Kleinere Truppenteile mögen passieren können, eventuell
sogar leichte Feldartillerie, aber sie
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können für die Eindringlinge nicht als Operations- und Verbin-
dungslinien ihres Hauptkorps dienen.
1828 und 1829 operierten die russischen Truppen auf der Linie Si-
listria-Paß-Dobrol-Adrianopel-Ainadschik; da dies tatsächlich die
kürzeste und unmittelbarste Verbindung von der russischen Grenze
zur türkischen Hauptstadt ist, bietet sie sich von selbst als die
natürlichste für jede russische Armee an, die von Norden kommt,
von einer uneingeschränkt das Schwarze Meer beherrschenden Flotte
unterstützt wird und deren Aufgabe es ist, durch einen sieg-
reichen Vormarsch auf Konstantinopel eine schnelle Entscheidung
zu erzwingen. Um diese Straße zu passieren, muß eine russische
Armee, nachdem sie die Donau überschritten hat, eine starke, von
den beiden Festungen Schumla und Varna flankierte Position for-
cieren, beide Festungen einschließen oder einnehmen und dann den
Balkan überschreiten. 1828 setzten die Türken in dieser Stellung
ihre Hauptmacht aufs Spiel. Sie wurden bei Kulewtscha geschlagen;
Varna und Schumla wurden genommen, die Verteidigung des Balkans
war nur schwach, und die Russen erreichten, wenn auch sehr ge-
schwächt, Adrianopel, aber ohne auf Widerstand gestoßen zu sein,
da sich die türkische Armee völlig aufgelöst hatte und nicht eine
Brigade zur Verteidigung Konstantinopels zur Verfügung stand. Die
Türken begingen damals einen großen Fehler. Jeder Offizier weiß,
daß man eine Gebirgskette nicht durch eine davorliegende Defen-
sivstellung verteidigt und auch nicht durch Teilen der Defensiv-
kräfte, um alle Pässe zu sperren, sondern indem man eine zentrale
Position dahinter einnimmt, alle Pässe ständig beobachtet und -
wenn die Absichten des Feindes klar zutage getreten sind - sich
mit massierter Wucht auf die Spitzen seiner Kolonnen wirft, so-
bald sie aus den verschiedenen Schluchten der Gebirgskette her-
auskommen. Die starke Stellung quer zur russischen Operations-
linie zwischen Varna und Schumla verleitete die Türken dazu, dort
den entschiedenen Widerstand zu leisten, den sie in der Ebene von
Adrianopel mit konzentrierteren Kräften gegen einen notwendiger-
weise durch Krankheit und Detachierungen geschwächten Feind hätte
bieten müssen.
Wir sehen also, daß bei der Verteidigung der Linie Silistria-
Adrianopel der Übergang über die Donau hätte verteidigt werden
sollen, ohne einen entscheidenden Kampf zu riskieren. Der zweite
Widerstand hätte h i n t e r, nicht z w i s c h e n Schumla
und Varna geleistet werden müssen; einen entscheidenden Kampf
hätte man nur bei s e h r g r o ß e n Siegeschancen annehmen
dürfen. Der Rückzug über den Balkan ist der nächste Schritt, wo-
bei die Pässe von Détachements verteidigt bleiben, die so viel
Widerstand leisten können als ratsam erscheint, ohne es zu einem
entscheidenden Treffen kommen zu lassen. In der Zwischenzeit wer-
den sich die Russen durch Einschließen der Festungen
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schwächen, sie werden, wenn sie ihrer früheren Praxis folgen,
diese Festungen wieder im Sturm nehmen und bei diesem Vorgehen
viele Leute verlieren; denn es ist eine merkwürdige Tatsache und
typisch für die russische Armee, daß sie bis heute ohne fremde
Hilfe z u e i n e r r e g u l ä r e n B e l a g e r u n g
n i e m a l s i n d e r L a g e g e w e s e n i s t. Der
Mangel an erfahrenen Ingenieuren und Artilleristen, die Unmög-
lichkeit, in einem barbarischen Land große Kriegsmaterial- und
Belagerungsdepots anzulegen oder gar Material, ganz gleich wel-
cher Art, über ausgedehnte Landstrecken zu transportieren, haben
die Russen immer gezwungen, jeden befestigten Platz nach einer
kurzen, heftigen, aber selten sehr wirkungsvollen Kanonade im
Sturm zu nehmen. Auf diese Art eroberte Suworow Ismail und Ot-
schakow [268]; so wurden 1828 und 1829 die türkischen Festungen
in Europa und Asien gestürmt, und so eroberten die Russen 1831
auch Warschau, Auf jeden Fall werden die Russen geschwächt die
Balkanpässe erreichen, während die Türken Zeit gehabt haben, ihre
Détachements von allen Seiten zu konzentrieren. Wenn der Ein-
dringling bei seinem Versuch, den Balkan zu überschreiten, nicht
durch einen Schlag der gesamten türkischen Armee zurückgetrieben
wird, so könnte die entscheidende Schlacht unter den Mauern
Adrianopels ausgetragen werden, und wenn die Türken dann eine
Niederlage erleiden, haben sie wenigstens alle ihnen verbliebenen
Chancen genutzt.
Aber ein russischer Sieg bei Adrianopel kann unter den gegenwär-
tigen Umständen nur sehr wenig entscheiden. Die britischen und
französischen Flotten liegen vor Konstantinopel, und direkt vor
ihren Augen kann kein russischer General auf diese Hauptstadt
marschieren. Die Russen, die bei Adrianopel aufgehalten werden,
und die nicht mit der Unterstützung ihrer Flotte rechnen könnten,
da sie selbst gefährdet wäre, würden bald zu Tausenden das Opfer
von Krankheiten werden und müßten sich wieder über den Balkan zu-
rückziehen. So würden sie selbst bei einem Siege ihr eigentliches
Kriegsziel nicht erreichen. Es gibt allerdings noch eine andere
Operationslinie, die vielleicht vorteilhafter wäre. Sie ergibt
sich aus der Route, die von Widdin und Nikopolis über Sofia nach
Adrianopel führt. Abgesehen von politischen Erwägungen würde es
keinem vernünftigen russischen General in den Sinn kommen, dieser
Route zu folgen. Aber solange sich Rußland auf Österreich verlas-
sen kann - solange die Annäherung einer russischen Armee an die
serbische Grenze, verbunden mit russischen Intrigen in Serbien,
aufständische Bewegungen in diesem Land, in Montenegro sowie un-
ter der überwiegend griechisch-slawischen Bevölkerung von Bos-
nien, Mazedonien und Bulgarien auslösen könnte - solange die
einen rein militärischen Feldzug krönende Operation, die Einnahme
von Konstantinopel, wegen der Anwesenheit einer
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europäischen Flotte nicht in Frage kommt - so lange wird dieser
erwähnte Feldzugsplan der einzige sein, den die Russen mit guten
Erfolgsaussichten annehmen können und noch dazu, ohne England und
Frankreich durch einen unmittelbaren Vormarsch auf Konstantinopel
zu entschlossenen, kriegerischen Aktionen zu treiben.
Auf Grund der gegenwärtigen Position der russischen Armee sieht
es tatsächlich so aus, als ob etwas in dieser Art geplant sei.
Ihr rechter Flügelist bis nach Krajowa, nahe der westlichen
Grenze der Walachei, ausgedehnt worden, und eine allgemeine Ver-
schiebung der Truppen in Richtung auf ""die obere Donau hat
stattgefunden. Da dieses Manöver völlig außerhalb der Operations-
linie Silistria-Schumla liegt, kann es nur zum Ziel haben, die
Verbindung mit Serbien aufzunehmen, dem Zentrum slawischen
Nationalstrebens und des griechisch-orthodoxen Glaubens in der
Türkei. Eine Defensivstellung an der unteren Donau, verbunden mit
einem Vorgehen über die obere Donau in Richtung Sofia, würde bei
einer Unterstützung Österreichs und in Verbindung mit einer Bewe-
gung der türkischen Slawen für ihre nationale Unabhängigkeit völ-
lig sicher sein; und eine derartige Bewegung könnte nicht wirksa-
mer ausgelöst werden als durch einen Vormarsch der russischen Ar-
mee auf das Zentrum der slawischen Bevölkerung der Türkei. Auf
diese Weise wird der Zar weit leichter und auf eine weit weniger
offensive Art das erreichen, was er während der ganzen Auseinan-
dersetzungen verlangt hat: die Zusammenfassung aller in der Tür-
kei lebenden Slawen in gesonderten Fürstentümern, wie es heute
die Moldau, die Walachei und Serbien sind. Wenn Bulgarien, Mon-
tenegro und Mazedonien unter der nominellen Herrschaft des
Sultans und dem wirklichen Protektorat des Zaren stehen, würde
die europäische Türkei auf die Umgebung von Konstantinopel be-
grenzt und ihres Soldatennachschubs aus Albanien beraubt sein.
Das wäre für Rußland ein weit besseres Ergebnis als ein entschei-
dender Sieg bei Adrianopel, nach dem seine Truppen auf einen to-
ten Punkt geraten würden. Allem Anschein nach strebt Rußland die-
ses Ergebnis an. Es bleibt abzuwarten, ob es sich nicht irrt,
wenn es sich auf die Slawen in der Türkei verläßt, jedenfalls
wäre kein Grund zur Verwunderung, wenn sie sich alle gegen Ruß-
land wendeten.
Geschrieben 29. September 1853.
Aus dem Englischen.
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