Quelle: MEW 9 März - Dezember 1853


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       Friedrich Engels
       
       Die russischen Niederlagen [328]
       
       ["New-York Daily Tribune" Nr. 3936 vom 28. November 1853,
       Leitartikel]
       Wir haben  die durch  die "Canada" herübergebrachten europäischen
       Zeitungen sorgfältig  durchgesehen, um  soweit wie irgend möglich
       Aufschluß über  die Kämpfe  zu bekommen, die in der Walachei zwi-
       schen den  Türken und den Russen stattgefunden haben, und sind in
       der Lage,  den durch die "Washington" mitgeteilten Tatsachen, die
       wir vergangenen Freitag 1*) kommentierten, einige wichtige Fakten
       hinzuzufügen. Zu  der Zeit  wußten wir,  daß  einige  Engagements
       stattgefunden hatten, doch über ihre Einzelheiten wissen wir auch
       heute nicht viel mehr. Die Berichte, die uns zugingen, sind immer
       noch zusammenhanglos, widerspruchsvoll und spärlich und werden es
       wahrscheinlich auch so lange bleiben, bis wir die offiziellen De-
       peschen der  türkischen Generale  erhalten. Soviel ist jedenfalls
       klar, daß  die Türken  mit einem  solchen Maß an Geschicklichkeit
       geführt worden  sind und mit einer derartig anhaltenden Begeiste-
       rung gekämpft  haben, die die Lobpreisungen ihrer wärmsten Bewun-
       derer rechtfertigt  - Lobpreisungen, die von der Masse der kühlen
       und unparteiischen  Beobachter als übertrieben betrachtet wurden.
       Das Resultat ist eine allgemeine Überraschung. Jedermann war dar-
       auf vorbereitet, von Omer Paschas Talenten als Feldherr die glän-
       zendsten Beweise  zu erhalten  ; aber der Wert seiner Armee wurde
       weder von  den westlichen Journalisten noch von den Staatsmännern
       richtig eingeschätzt.  Es trifft  zu: ihre Reihen setzen sich aus
       Türken zusammen,  aber diese  sind ganz andere Soldaten als jene,
       die Diebitsch 1829 zu Paaren trieb. Sie schlugen die Russen trotz
       deren großer  Überlegenheit und  unter ungünstigen Umständen. Wir
       erwarten, daß
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       1*) Siehe vorl. Band, S. 462-468
       
       #470# Friedrich Engels
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       sich dies  nur als der Auftakt und der Beginn weit entscheidende-
       rer Niederlagen erweisen wird.
       Wir erfahren  jetzt zum  ersten Male,  daß der Kriegsrat von Kon-
       stantinopel eine  Armee von ungefähr 25000 Mann bei Sofia konzen-
       triert hat, um in Serbien zu operieren, falls dies notwendig sein
       sollte. So  seltsam es  klingen mag,  aber über diese Streitmacht
       und ihre  Bestimmung scheinen  bisher  keine  Informationen  nach
       Westeuropa gelangt zu sein, aber es ist klar, daß Omer Pascha von
       ihr den  besten Gebrauch  gemacht hat. Ihre Aufstellung bei Sofia
       war ein  Fehler, denn wenn die Serben nicht revoltieren und keine
       gemeinsame Sache mit den Russen machen - was sie unter dem regie-
       renden Fürsten 1*) kaum tun werden -, besteht keine Veranlassung,
       eine Armee in jener Gegend zu halten; im Falle einer Revolte aber
       wären die Türken entweder gezwungen, in das Land einzumarschieren
       und sie  zu unterdrücken, wofür 25 000 Mann nicht ausreichen wür-
       den, da  die Russen  in der  Walachei stehen, oder sie müßten die
       Grenzpässe besetzen  und die Serben zwingen, im Lande zu bleiben,
       wofür ein  Viertel jener  Kräfte ausreichend wäre. Offensichtlich
       hatte Omer  Pascha die Angelegenheit in diesem Lichte betrachtet,
       denn er  ließ das Korps direkt nach Widdin marschieren und verei-
       nigte es mit den Kräften, die er bereits dort hatte. Ohne Zweifel
       hat diese  Verstärkung wesentlich zu dem Sieg beigetragen, den er
       jetzt über  den rechten Flügel der unter Führung von General Dan-
       nenberg stehenden  Russen erzielt  hat, einen  Sieg, über den wir
       keine weiteren Einzelheiten erfahren haben, außer der Anzahl rus-
       sischer Offiziere,  die getötet oder gefangengenommen wurden, der
       jedoch ein vollständiger Sieg gewesen sein muß und dessen morali-
       sche Seite sich für die Türken als weit stärker erweisen wird als
       die materielle.
       Gleichfalls erfahren  wir jetzt, daß die türkischen Streitkräfte,
       die von  Turtukai (einem  Punkt zwischen Rustschuk und Silistria)
       nach Oltenitza  übersetzten,  von  Ismail  Pascha,  d.h.  General
       Guyon, geführt  wurden (er  hat das Christentum nicht aufgegeben,
       obwohl er  einen hohen  Rang in  der Armee des Sultans einnimmt).
       Seine Tapferkeit im ungarischen Kriege hat ihm einen hervorragen-
       den Ruf  als kühner,  energischer und  äußerst schnell handelnder
       Offizier verschafft. Es gibt nur wenige Männer, die, ohne ein be-
       merkenswertes strategisches  Talent zu besitzen, Befehle mit sol-
       chem Erfolg  durchführen, wie  er es bei der jüngsten Gelegenheit
       bewiesen hat,  als er seinen Gegner mit dem Bajonett zurücktrieb.
       Die Niederlage von General Pawlow bei Oltenitza muß in einem ent-
       scheidenden Maße  das Land  hinter der  Aluta öffnen  und den Weg
       nach Bukarest  frei machen,  da es  sich erwiesen  hat, daß Fürst
       Gortschakow
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       1*) Alexander Karageorgewitsch, Fürst von Serbien
       
       #471# Die russischen Niederlagen
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       nicht, wie  berichtet wurde,  auf Slatina vorgerückt ist, sondern
       in der  Hauptstadt der  Fürstentümer verbleibt, wobei er es klüg-
       lich vorzieht,  seine Kräfte nicht zu teilen, was wiederum andeu-
       tet, daß er sich selbst nicht völlig sicher fühlt. Zweifellos ist
       in der  Nähe jenes  Ortes bald darauf eine entscheidende Schlacht
       geschlagen worden.  Wenn Gortschakow  nicht ein Aufschneider ist,
       und wenn  er dort  zwischen siebzig- und achtzigtausend Mann kon-
       zentrieren kann  - eine  Anzahl, die alle gerechtfertigten Abzüge
       von der  offiziell gemeldeten  Stärke der  Streitmacht der Russen
       ihm noch übriglassen -, so ist der Vorteil entschieden auf seiner
       Seite. Aber  wenn man  berücksichtigt, wie falsch und übertrieben
       die Zahlenangaben aus dem russischen Lager sind, wenn man berück-
       sichtigt, daß  Omer Paschas  Armee stärker  und kampffähiger ist,
       dann ergibt  sich, daß  das Kräfteverhältnis  in dieser  Kampagne
       ausgeglichener ist,  als man  es sich vorgestellt hatte, und eine
       Niederlage Gortschakows rückt in den Bereich der Möglichkeit. Si-
       cherlich, wenn der türkische Generalissimus fünfzig- bis sechzig-
       tausend bereits  siegestrunkener Truppen  für den  entscheidenden
       Kampf konzentrieren  kann -  und wir  sehen jetzt nichts, was das
       verhindern könnte -, hat er große Aussichten auf Erfolg. Wenn wir
       dies sagen,  so möchten wir mit Zurückhaltung sprechen, denn wenn
       unsere Sympathien auch auf Seiten der Türken sind, so hat es doch
       keinen Zweck, ihre Lage günstiger einzuschätzen, als sie ist.
       Es ist unmöglich, die geographische Struktur der Walachei zu stu-
       dieren, besonders  vom militärischen  Standpunkt aus, ohne an die
       Lombardei erinnert zu werden. In dem einen Falle bilden die Donau
       und in  dem andern  der Po  und seine Zuflüsse die Süd- und West-
       grenzen. Auch  haben die Türken sich einen ähnlichen Feldzugsplan
       zu eigen  gemacht, wie  ihn die  Piemontesen in  der Kampagne von
       1849 durchführten  und der  mit der unheilvollen Schlacht von No-
       vara [329]  endete. Wenn  sich die  Türken als siegreich erweisen
       sollten, so  können sie uns um so mehr Bewunderung abfordern, und
       um so  offenkundiger wird die prahlerische Unfähigkeit der Mosko-
       witer. In  jedem Falle ist Gortschakow kein Radetzky und Omer Pa-
       scha kein Ramorino.
       Geschrieben etwa 11. November 1853.
       
       Aus dem Englischen.

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