Quelle: MEW 9 März - Dezember 1853


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       #472#
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       Karl Marx
       
       Die Arbeiterfrage
       
       ["New-York Daily Tribune" Nr. 3936 vom 28. November 1853]
       London, Freitag, 11. November 1853
       "Glänzende Gelegenheiten  und  welchen  Gebrauch  man  von  ihnen
       machte", so lautet der Titel einer der äußerst tragikomischen Er-
       güsse des  gewichtigen und  tiefgründigen "Economist"  [330]. Die
       "glänzenden Gelegenheiten" wurden selbstverständlich vom Freihan-
       del geboten,  und der  "Gebrauch" oder  vielmehr "Mißbrauch", der
       von ihnen gemacht wurde, bezieht sich auf die Arbeiterklasse.
       
       "Zum ersten Male hielt die Arbeiterklasse ihre Zukunft in eigenen
       Händen!  Die   Bevölkerung  des  Vereinigten  Königreichs  begann
       tatsächlich   a b z u n e h m e n,   die Auswanderung überwog den
       natürlichen Zuwachs.  Wie haben die Arbeiter ihre Gelegenheit ge-
       nutzt? Was  haben sie  gemacht? Genau  das, was sie vorher zu tun
       pflegten, wenn  wieder einmal vorübergehend die Sonne schien: ge-
       heiratet und sich so schnell wie möglich vermehrt. Bei dieser Zu-
       wachsrate wird es nicht lange dauern, bis die Wirkung der Auswan-
       derung wieder  aufgewogen ist  und die glänzende Gelegenheit ver-
       tan."
       
       Die glänzende  Gelegenheit,   n i c h t   zu  heiraten  und  sich
       n i c h t  zu vermehren, es sei denn, in dem von Malthus und sei-
       nen Jüngern  gestatteten begrenzten Umfang! Welch glänzende Mora-
       lität! Aber wie der "Economist" selbst feststellt, hat die Bevöl-
       kerung bisher  abgenommen und die Auswanderung noch nicht wettge-
       macht. Übervölkerung ist also nicht für die katastrophalen Zeiten
       verantwortlich zu machen.
       
       "Weiter hätten  die arbeitenden  Klassen die  seltene Gelegenheit
       nutzen sollen,  zu sparen und Kapitalisten zu werden. In kaum ei-
       nem Falle  scheinen sie  in die  Reihen der Kapitalisten emporge-
       stiegen zu  sein oder auch nur damit begonnen zu haben. Sie haben
       ihre Gelegenheit vertan!"
       
       #473# Die Arbeiterfrage
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       Die Gelegenheit, Kapitalisten zu werden! Gleichzeitig erzählt der
       "Economist" den Arbeitern, sie könnten anstatt 15 Schilling jetzt
       16 Schilling  6 Pence  die Woche  einstecken, nachdem sie endlich
       10% über  ihren früheren  Verdienst erhalten.  Nun ist  aber  der
       Durchschnittslohn zu  hoch berechnet  mit 15 Schilling pro Woche.
       Aber das  tut nichts.  Wie soll man von 15 Schilling in der Woche
       ein Kapitalist  werden! Dieses  Problem ist wert, daß man es stu-
       diert. Die  Arbeiter hatten die falsche Vorstellung, daß sie ver-
       suchen müßten,  ihr Einkommen zu verbessern, um ihre Lage zu ver-
       bessern. "Sie  haben für mehr gestreikt, als ihnen dienlich gewe-
       sen wäre",  sagt der "Economist". Mit 15 Schilling die Woche hat-
       ten sie  die beste Gelegenheit,  K a p i t a l i s t e n  zu wer-
       den, aber mit 16 Schilling 6 Pence wäre diese Gelegenheit vorbei.
       Einerseits müssen  die Arbeiter  dafür sorgen,  daß Arbeitskräfte
       knapp und  Kapital im Überfluß vorhanden ist, um die Kapitalisten
       zu einer  Lohnerhöhung zwingen  zu können. Aber wenn es so kommt,
       daß Kapital  im Überfluß  vorhanden und Arbeiter knapp sind, dann
       dürfen sie sich auf keinen Fall dieser Macht bedienen, um derent-
       willen sie aufhören sollten zu heiraten und sich zu vermehren.
       "Sie haben  verschwenderischer gelebt."  Während der Korngesetze,
       sagt uns der gleiche "Economist", waren sie nur halbwegs ernährt,
       halbwegs gekleidet  und mehr oder weniger am Verhungern. Wenn sie
       denn überhaupt leben sollen, wie könnten sie es dann zuwege brin-
       gen, weniger verschwenderisch als vorher zu leben? Die Einfuhrta-
       bellen wurden  immer und  immer wieder  vom "Economist" hervorge-
       holt, um den wachsenden Wohlstand der Bevölkerung und die Solidi-
       tät der  getätigten Geschäfte  zu beweisen. Das, was also als ein
       Prüfstein für  die unaussprechlichen  Segnungen  des  Freihandels
       proklamiert wurde,  wird jetzt  als ein  Beweis für  die törichte
       Verschwendung der  Arbeiterklasse angeprangert. Es bleibt uns je-
       doch weiter unverständlich, wieso die Einfuhr bei abnehmender Be-
       völkerung und einer rückläufigen Konsumtion weiter zunehmen kann;
       wieso die  Ausfuhr bei  abnehmender Einfuhr weiter ansteigen kann
       und wieso  Industrie und  Handel sich  bei schrumpfender Ein- und
       Ausfuhr ausdehnen können?
       
       "Als drittes  hätten sie  von der glänzenden Gelegenheit Gebrauch
       machen sollen,  indem sie sich und ihren Kindern die bestmögliche
       Bildung verschaffen,  um sich  ihren verbesserten Lebensumständen
       anzupassen und  zu lernen, das beste daraus zu machen. Unglückli-
       cherweise müssen  wir feststellen, daß selten Schulen so schlecht
       besucht und Schulgelder derart schlecht bezahlt wurden."
       
       Ist diese  Tatsache so erstaunlich? Lebhafter Handel ging Hand in
       Hand mit vergrößerten Fabriken, mit verstärkter Anwendung von Ma-
       schinen,
       
       #474# Karl Marx
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       damit, daß  mehr erwachsene  Arbeiter durch Frauen und Kinder er-
       setzt wurden,  mit verlängerter  Arbeitszeit. Je  mehr Mütter und
       Kinder in  die Fabrik  gingen, um  so weniger konnten die Schulen
       besucht werden. Und für welche Art Bildung hättet ihr schließlich
       den Eltern  und ihren Kindern Gelegenheit geboten? Gelegenheit zu
       lernen, wie man den Bevölkerungszuwachs in dem von Malthus vorge-
       schriebenen Umfang hält, sagt der "Economist". Bildung, sagt Herr
       Cobden, würde  die  Arbeiter  erkennen  lassen,  daß  schmutzige,
       schlecht gelüftete, überfüllte Behausungen nicht das beste Mittel
       sind, Gesundheit  und Kraft  zu erhalten.  Das ist, als wolle man
       einen Menschen  vom Hungertod  erretten, indem  man ihm sagt, die
       Naturgesetze verlangen,  daß dem  menschlichen Körper  regelmäßig
       Nahrung zugeführt  wird. Bildung, schreibt die "Daily News" [28],
       hätte unseren  Arbeitern vermittelt,  wie man  trockenen  Knochen
       nahrhafte Substanzen  entzieht, wie man Teegebäck aus Stärke her-
       stellt und wie man Suppe aus Fabrikstaub kocht.
       Wenn wir also die glänzenden Gelegenheiten, die von der Arbeiter-
       klasse vertan  worden sind, noch einmal zusammenfassen, so beste-
       hen sie  aus der glänzenden Gelegenheit,  n i c h t  zu heiraten,
       aus der  Gelegenheit,   w e n i g e r  verschwenderisch zu leben,
       keine höheren  Löhne zu  verlangen, mit 15 Schilling in der Woche
       Kapitalisten zu  werden und  zu lernen,  wie man mit schlechterer
       Nahrung den  Körper zusammenhält und mit den verderblichen Lehren
       von Malthus die Seele erniedrigt.
       Vergangenen Freitag  besuchte Ernest  Jones die Stadt Preston, um
       zu den  ausgesperrten Fabrikarbeitern  über die  Arbeiterfrage zu
       sprechen. Zur  festgesetzten Zeit  hatten sich  mindestens 15 000
       Menschen (der  "Preston Pilot" [331] schätzt die Zahl auf 12 000)
       auf dem  Platz versammelt,  und Herr Jones erhielt bei seiner An-
       kunft einen  begeisterten Empfang.  Ich bringe einige Auszüge aus
       seiner Rede:
       
       "Warum haben  diese Kämpfe  stattgefunden? Warum finden sie jetzt
       statt? Warum  werden sie wiederkehren? Weil der Springquell eures
       Lebens von  der Hand des Kapitals versiegelt ist, das seinen gol-
       denen Becher bis auf den Grund leert und euch den Bodensatz über-
       läßt. Warum seid ihr auch vom Leben ausgesperrt, wenn ihr von der
       Fabrik ausgesperrt  seid? Weil  ihr keine  andere Fabrik habt, in
       der ihr arbeiten könnt - keine andere Möglichkeit habt, euch euer
       Brot zu  verdienen. Wieso  hat  der  Kapitalist  diese  ungeheure
       Macht? Weil  er über alle Arbeitsmittel verfügt... Daher sind die
       Arbeitsmittel der  Angelpunkt, um den sich die Zukunft des Volkes
       dreht... Nur  eine Massenbewegung  der Arbeiter aller Berufe, nur
       eine nationale Bewegung der ganzen Arbeiterklasse kann allein zum
       triumphalen Erfolg führen... Zersplittert und lokalisiert ihr eu-
       ren Kampf,  so könnt  ihr ihn verlieren - nationalisiert ihn, und
       der Sieg ist euch gewiß." [332]
       
       #475# Die Arbeiterfrage
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       Mit sehr  herzlichen Worten beantragte Herr George Cowell, unter-
       stützt von Herrn John Matthews, Ernest Jones für seinen Besuch in
       Preston und  für den  Dienst, den er der Sache der Arbeiterklasse
       leistet, den Dank auszusprechen.
       Die Fabrikanten hatten große Anstrengungen gemacht, um Ernest Jo-
       nes daran  zu hindern,  die Stadt  zu besuchen; so konnte man für
       das Meeting  keine Halle bekommen, und es mußten daher in Manche-
       ster Plakate  gedruckt werden,  die ankündigten,  daß das Meeting
       unter freiem  Himmel stattfinden  würde. Von interessierter Seite
       war eifrig  das Gerücht  verbreitet worden,  daß Herr Jones gegen
       den Streik  auftreten und  Zwietracht unter  den  Arbeitern  säen
       werde; außerdem  hatte man Briefe versandt, daß er persönlich ge-
       fährdet sei, wenn er Preston besuche.
       Karl Marx
       
       Aus dem Englischen.

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