Quelle: MEW 10 Januar 1854 - Januar 1855


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       Friedrich Engels
       
       Die Kriegsfrage in Europa
       
       ["New-York Daily Tribune" Nr. 4019 vom 6. März 1854, Leitartikel]
       Obwohl uns  die Ankunft  der "Nashville"  nicht in den Besitz we-
       sentlich neuer Nachrichten vom Kriegsschauplatz bringt, setzt sie
       uns doch  von einer Tatsache in Kenntnis, die für den gegenwärti-
       gen Stand  der Dinge  von großer Bedeutung ist. Jetzt nämlich, in
       letzter Stunde, da die russischen Gesandten Paris und London ver-
       lassen haben,  da der  britische und der französische Botschafter
       aus St.  Petersburg abberufen wurden, da die See- und Landstreit-
       macht Frankreichs  und Englands  bereits für  direkte Kriegshand-
       lungen zusammengezogen wird - in diesem letzten Augenblick unter-
       breiten die  beiden westlichen  Regierungen neue Verhandlungsvor-
       schläge, in  denen sie beinahe allem zustimmen, was Rußland will.
       Man wird  sich erinnern, daß die Hauptforderung Rußlands war, man
       solle ihm  das Recht  zuerkennen, den  Streit, der,  wie  es  be-
       hauptete, nur Rußland und die Türkei etwas angehe, mit der Pforte
       unmittelbar, ohne  die Einmischung  anderer  Mächte,  beizulegen.
       Dieses Recht  wurde jetzt den Russen zugestanden. Die Vorschläge,
       die der Brief Napoleons [68], den wir an anderer Stelle wiederge-
       ben, enthält,  besagen, daß Rußland direkt mit der Türkei verhan-
       deln, der zwischen beiden Parteien abzuschließende Vertrag jedoch
       von den  vier Mächten  garantiert werden soll. Diese Garantie ist
       die Kehrseite der Konzession, da sie den Westmächten einen beque-
       men Vorwand bietet, sich in jeden zukünftigen Streit gleicher Art
       einzumischen. Aber  dadurch kann  Rußlands Lage  nicht  schlimmer
       werden, als  sie jetzt  ist, da Kaiser Nikolaus einsehen muß, daß
       er keinen  Versuch zur Zerstückelung der Türkei unternehmen kann,
       ohne einen Krieg mit England und Frankreich zu riskieren. Und au-
       ßerdem wird  der tatsächliche  Gewinn Rußlands  vom Charakter des
       Vertrages abhängen,  der noch  nicht abgeschlossen  ist; Rußland,
       das nun gesehen hat, wie feige die Westmächte
       
       #73# Die Kriegsfrage in Europa
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       vor einem Krieg zurückweichen, braucht seine Armeen nur weiter in
       Bereitschaft zu  halten und sein System der Einschüchterung fort-
       zuführen, um  jeden Punkt der Verhandlungen zu gewinnen. Außerdem
       braucht die  russische Diplomatie  kaum den  Kampf mit  den  vor-
       trefflichen Gesandten  zu fürchten, die die berühmte erste Wiener
       Note [69] zusammenschusterten.
       Ob jedoch  der Zar  diesen Vorschlag annehmen oder sich auf seine
       Armee verlassen  wird, bleibt  noch abzuwarten.  Er kann  es sich
       nicht leisten,  alle fünf Jahre einmal solche Rüstungen und Trup-
       penverschiebungen in  seinem gewaltigen  Reich durchzuführen. Die
       Vorbereitungen sind  in so  großem Maßstab  getroffen worden, daß
       nur ein  sehr wesentlicher  materieller Gewinn  die Kosten decken
       kann.  Die   russische  Bevölkerung   ist  gründlich  in  Kriegs-
       begeisterung versetzt  worden. Wir  haben die Kopie eines Briefes
       gesehen, den  ein russischer Kaufmann geschrieben hat - nicht ei-
       ner der  vielen deutschen, englischen oder französischen Händler,
       die sich in Moskau niedergelassen haben, sondern wirklich ein al-
       ter Moskauer,  ein echter  Sohn der  Swjataja Rus 1*), der einige
       Waren für englische Rechnung in Kommission hat und gefragt worden
       war, ob im Falle eines Krieges die Gefahr bestünde, daß diese Wa-
       ren konfisziert  werden. Der  alte Russe, ganz entrüstet darüber,
       daß seiner  Regierung so etwas zugetraut werde, und mit der offi-
       ziellen Phraseologie sehr gut vertraut, wonach Rußland, im Gegen-
       satz zu  den revolutionären  sozialistischen Ländern des Westens,
       der große  Verfechter von  "Ordnung, Eigentum,  Familie und Reli-
       gion" ist, erwidert, daß
       
       "hier in  Rußland, Gott  sei gelobt,  die Unterscheidung zwischen
       m e i n   und   d e i n  noch in voller Kraft und Ihr Besitz hier
       sicher ist, wie sonst nirgendwo. Ich würde Ihnen sogar raten, so-
       viel wie  möglich von  Ihrem Eigentum  hierherzusenden, denn hier
       wird es  vielleicht sicherer sein als da, wo es sich jetzt befin-
       det. Sie   k ö n n t e n   v i e l l e i c h t   G r u n d    z u
       B e f ü r c h t u n g e n   f ü r   I h r e   L a n d s l e u t e
       h a b e n,  aber keineswegs für Ihr Eigentum."
       
       Mittlerweile haben die Kriegsvorbereitungen in England und Frank-
       reich ein äußerst großes Ausmaß erreicht. Das französische Ozean-
       geschwader wurde  von Brest nach Toulon beordert, um Truppen nach
       der  Levante   zu  transportieren.   Unterschiedlichen  Berichten
       zufolge sollen  vierzig- oder sechzigtausend Mann abtransportiert
       werden, von  denen ein  großer Teil  aus der  afrikanischen Armee
       kommt. Die  Expedition wird  besonders starke  Schützenregimenter
       haben und  entweder von Baraguay d'Hilliers oder Saint-Arnaud be-
       fehligt werden. Die britische Regierung wird ungefähr 18 000 Mann
       entsenden (22  Regimenter zu je 850 Mann), und an dem Tag, da wir
       unsere letzten  Nachrichten erhielten, war ein Teil davon bereits
       nach Malta eingeschifft
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       1*) Heiligen Rus
       
       #74# Friedrich Engels
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       worden, wo  der allgemeine  Sammelplatz sein soll. Die Infanterie
       wird mit  Dampfschiffen transportiert,  und für den Transport der
       Kavallerie sind Segelschiffe eingesetzt. Die Ostseeflotte, die am
       6. März  auf der  Themse, in der Nähe von Sheerness, konzentriert
       werden soll, wird aus fünfzehn Linienschiffen, acht Fregatten und
       siebzehn kleineren  Schiffen bestehen. Das ist die größte Flotte,
       die die  Briten seit  dem letzten  Kriege zusammengebracht haben,
       und da  die Hälfte davon aus Rad- oder Schraubendampfern bestehen
       wird und deren Einsatzkraft und Wasserverdrängung gegenwärtig un-
       gefähr um 50 Prozent höher liegen als vor fünfzig Jahren, ist die
       Ostseeflotte womöglich  die stärkste  Seestreitmacht, die  je ein
       Land geschaffen  hat. Sir  Charles Napier  soll  sie  befehligen;
       sollte es  Krieg geben, ist er der Mann, der seine Kanonen sofort
       auf den entscheidenden Punkt richten wird.
       An der Donau hat die Schlacht von Cetate offensichtlich eine Ver-
       zögerung des  russischen Angriffs  auf  Kalafat  bewirkt.  Dieser
       fünftägige Kampf  hat die  Russen davon  überzeugt, daß  es nicht
       leicht sein  wird, ein  befestigtes Lager  zu nehmen,  das solche
       Ausfälle unternehmen kann. Sogar der ausdrückliche Befehl des Au-
       tokraten selber  scheint nicht  zu genügen, um seine Truppen nach
       solch einem  Vorgeschmack zu einem übereilten Angriff zu zwingen.
       Die Anwesenheit General Schilders, des Chefs der Genietruppe, der
       eigens aus  Warschau geschickt  wurde, scheint sogar ein dem kai-
       serlichen Befehl  entgegengesetztes Ergebnis  erbracht zu  haben,
       denn statt  den Angriff  zu beschleunigen, genügte ihm die Inspi-
       zierung der  Befestigungen aus  einiger Entfernung,  um  sich  zu
       überzeugen, daß  mehr Truppen und schwere Geschütze benötigt wür-
       den, als  sofort zusammengebracht  werden könnten. Deshalb ziehen
       die Russen  seit einiger  Zeit  soviel  Truppen  wie  möglich  um
       Kalafat zusammen  und schaffen  ihre Belagerungsgeschütze  heran,
       von denen sie zweiundsiebzig Stück in die Walachei gebracht haben
       sollen. Die  "London Times" schätzt ihre Truppen auf 65 000 Mann,
       was etwas  hoch ist,  wenn wir die Stärke der gesamten russischen
       Armee in  den Fürstentümern  in Betracht  ziehen. Diese Armee be-
       steht aus sechs Divisionen Infanterie, drei Divisionen Kavallerie
       und ungefähr  dreihundert Feldgeschützen  neben Kosaken, Schützen
       und anderen  Spezialtruppen in  einer vor  Beginn des Krieges mit
       120 000 Mann  angegebenen Gesamtstärke. Angenommen, ihre Verluste
       durch Krankheit  und auf  dem Schlachtfeld  betragen 30 000 Mann,
       dann bleiben ungefähr 90 000 Kampffähige. Davon werden mindestens
       35 000 gebraucht,  um die Donaulinie zu schützen, die wichtigsten
       Städte besetzt  zu halten und die Kommunikationen zu sichern. Für
       einen Angriff auf Kalafat blieben also allerhöchstens 55 000 Mann
       übrig.
       
       #75# Die Kriegsfrage in Europa
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       Betrachten Sie  nun die  Positionen der beiden Armeen. Die Russen
       vernachlässigen die  ganze Donaulinie,  lassen die  Stellung Omer
       Paschas bei  Schumla außer  acht und  lenken ihre Hauptkräfte und
       selbst ihre schwere Artillerie auf einen Punkt an ihrem äußersten
       rechten Flügel,  wo sie  weiter von Bukarest, ihrer unmittelbaren
       Operationsbasis, entfernt  sind als  die Türken.  Ihr Rücken  ist
       deshalb so  sehr, wie  nur denkbar, entblößt. Noch schlimmer ist,
       daß sie,  um überhaupt  etwas Rückendeckung  zu haben,  gezwungen
       sind, ihre Kräfte zu teilen und mit einer Streitmacht vor Kalafat
       zu erscheinen,  die in  keiner Weise  so offensichtlich überlegen
       ist, daß sie einen Sieg garantieren und damit ein solches Manöver
       rechtfertigen könnte.  Sie lassen  an dreißig bis vierzig Prozent
       ihrer Armee  verstreut hinter den Hauptkräften, und diese Truppen
       sind gewiß  nicht in  der Lage,  einen entschlossenen Angriff zu-
       rückzuschlagen. Folglich  ist weder  die Eroberung Kalafats gesi-
       chert, noch  sind die Kommunikationen der Belagerungsarmee außer-
       halb des  Gefahrenbereichs. Der  Schnitzer ist so offenkundig, so
       kolossal, daß nur die absolute Gewißheit der Tatsache einen Mili-
       tär zwingen kann, zu glauben, daß er begangen wurde.
       Wenn Omer  Pascha, der  immer noch über die stärkeren Kräfte ver-
       fügt, die  Donau an  einem Punkt  zwischen Rustschuk  und Hirsowa
       mit, sagen  wir, siebzigtausend  Mann überschreitet,  so muß  die
       russische Armee  entweder bis  zum letzten Mann vernichtet werden
       oder in  Österreich Zuflucht  suchen. Er hatte einen vollen Monat
       Zeit, solch eine Masse zu konzentrieren. Warum geht er nicht über
       einen Fluß,  der nicht  mehr durch  Treibeis unpassierbar gemacht
       wird? Warum  nimmt er  nicht einmal  seinen Brückenkopf bei Olte-
       nitza wieder ein, um sich von hier aus jederzeit in Marsch setzen
       zu können?  Es ist  unmöglich, daß  Omer Pascha die Möglichkeiten
       nicht erkennt,  die die  Russen  ihm  durch  ihren  beispiellosen
       Schnitzer geboten  haben. Wie  es scheint,  müssen ihm  die Hände
       durch die Diplomatie gebunden sein. Seine Untätigkeit muß als Ge-
       genleistung angesehen werden für die Spazierfahrt der vereinigten
       Flotten im  Schwarzen Meer.  Die russische  Armee darf nicht ver-
       nichtet oder  gezwungen werden, Zuflucht in Österreich zu suchen,
       weil sonst ein Frieden durch neue Komplikationen gefährdet würde.
       Und um dieser Intrigen und gewissenlosen Tätigkeit diplomatischer
       Spekulanten willen  muß es  Omer Pascha  zulassen, daß die Russen
       Kalafat bombardieren,  daß sie ihre ganze Armee, ihre gesamte Be-
       lagerungsartillerie seiner  Gnade ausliefern,  während ihm  nicht
       erlaubt ist,  diese Gelegenheit auszunutzen. In der Tat, der rus-
       sische Befehlshaber  hätte wohl  niemals versucht, auf Kalafat zu
       marschieren, wenn  er nicht wirklich die bestimmte Garantie dafür
       gehabt hätte, daß er in den Flanken und im Rücken nicht angegrif-
       fen wird. Andernfalls
       
       #76# Friedrich Engels
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       hätte er  es trotz  aller strengen  Anweisungen verdient, auf der
       Stelle verurteilt  und erschossen  zu werden.  Und wenn wir nicht
       durch den  jetzt hier fälligen Dampfer oder spätestens in einigen
       Tagen erfahren,  daß Omer  Pascha die Donau überschritten hat und
       auf Bukarest  marschiert, erscheint die Schlußfolgerung kaum ver-
       meidlich, daß  die Westmächte  ein regelrechtes Übereinkommen ge-
       troffen haben,  Kalafat zu  opfern, um  den militärischen Ehrgeiz
       der Russen  zu befriedigen,  ohne den  Türken zu erlauben, es auf
       die einzig wirksame Weise zu verteidigen - durch eine Offensivbe-
       wegung weiter unten an der Donau. [70]
       Geschrieben am 13. Februar 1854.
       
       Aus dem Englischen.

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