Quelle: MEW 11 Januar 1855 - April 1856
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Karl Marx/Friedrich Engels
Das Vorspiel bei Lord Palmerston -
Verlauf der letzten Ereignisse in der Krim [159]
["Neue Oder-Zeitung" Nr. 243 vom 29. Mai 1855]
London, 24. Mai. Sobald Disraelis Motion eine regelmäßige
Schlacht zwischen den Ins und Outs 1*) des Unterhauses in Aus-
sicht gestellt hatte, ließ Palmerston den Alarmruf erschallen und
beschied, einige Stunden vor Eröffnung der Sitzung, das ministe-
rielle Gefolge nebst Peeliten [11], Manchesterschule [45] und
sog. "Independenten" in seine Amtswohnung nach Downing Street
[153]. 202 Parlamentler erschienen, mit Einschluß des Herrn
Layard, der sich unfähig fühlte, dem ministeriellen Sirenenruf zu
widerstehen. Palmerston diplomatisierte, beichtete, bereute, be-
schwichtigte, beschwatzte. Er nahm lächelnd die schulmeister-
lichen Zurechtweisungen der Herren Bright, Lowe und Layard hin.
Er überließ Lord Robert Grosvenor und Sir James Graham zu
vermitteln mit den "Aufgeregten". Von dem Augenblicke, wo er die
Malkontenten um sich geschart sah in seiner Amtswohnung, gemischt
mit seinen Getreuen, war er ihrer sicher. Sie waren verstimmt,
aber aussöhnungsbedürftig. Das Resultat der Unterhaussitzung war
somit antizipiert; es blieb nichts mehr übrig als die
parlamentarische Aufführung der Komödie vor dem Publikum. Die
Pointe war abgebrochen. Eine kurze Skizze dieser Komödie werden
wir geben, sobald ihr Schlußakt gespielt hat.
Die Rückkehr des warmen und feuchten Wetters hat die Krankheits-
formen, die der Frühlings- und Sommerjahreszeit in der Krim ei-
gen, neubelebt. Cholera und kaltes Fieber sind im alliierten
Feldlager wieder erschienen, bisher noch nicht mit großer Gewalt-
samkeit, aber hinreichend, eine Warnung zu geben für die Zukunft.
Das Miasma, das von der Masse verwesender animalischer Materie
ausströmt, die über der ganzen Oberfläche des Chersones nur ein
paar Zoll unter der Erddecke begraben liegt, hat sich
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bemerkbar gemacht. Gleichzeitig ist der moralische Zustand der
Belagerungsarmee nichts weniger als befriedigend. 1*) Nachdem sie
die Härten und Gefahren eines beispiellosen Winterfeldzugs über-
dauert, wurden die Soldaten einigermaßen in Ordnung und bei gutem
Mut erhalten durch die Rückkehr des Frühlings und die stets wie-
derholten Versprechen einer schleunigen und glorreichen Beendi-
gung der Belagerung; aber Tag auf Tag ging vorüber, ohne daß sie
einen Fortschritt machten, während die Russen über ihre Linien
hinausavancierten und Redouten auf dem zwischen beiden Parteien
bestrittenen Boden aufführten. Die Zuaven wurden undisziplinier-
bar und wurden infolgedessen zur Schlachterei auf den Berg Sapun,
am 23. Februar, geleitet. 2*) Etwas mehr Beweglichkeit - man kann
es nicht Tätigkeit nennen - zeigte sich dann auf Seite der alli-
ierten Generale; aber kein sichres Ziel, kein bestimmter Plan
wurde konsequent befolgt. Der Geist der Meuterei unter den Fran-
zosen wurde wieder niedergehalten durch die beständigen Ausfälle
der Russen, die ihnen etwas zu tun gaben, und durch die Eröffnung
des zweiten Bombardements, das diesmal aber sicher mit dem Spek-
takelstück des großen Sturms enden sollte. Ein klägliches Fiasko
folgte. 3*) Dann kommen Ingenieuroperationen, träge, schwierig,
unfruchtbar an Erfolgen, wie sie den Geist von Soldaten auf-
rechterhalten. Sie wurden bald satt dieser nächtlichen Kämpfe in
den Laufgräben, wo Hunderte fielen, ohne daß ein Fortschritt
sichtbar. Wieder wurde der Sturm verlangt und wieder Canrobert zu
Verheißungen getrieben, deren Erfüllung er unmöglich wußte. Pé-
lissier rettete ihn vor einer Erneuerung meuterischer Szenen
durch die Nachtattacke vom 1. Mai. Es heißt, daß er sie trotz ei-
nes Gegenbefehls von Canrobert ausführte, der im Augenblick ein-
traf, wo die Truppen vorwärts lanciert waren. Diese erfolgreiche
Affäre soll den Mut der Truppen wiederbelebt haben. In der Zwi-
schenzeit langte die piemontesische Reserve an, der Chersones
füllte sich. Die Truppen glaubten sich durch diese Verstärkungen
zu unmittelbarer Aktion befähigt. Es m u ß t e etwas geschehen.
Die Expedition nach Kertsch wurde beschlossen und segelte ab.
Aber bevor sie die Reede jener Stadt erreicht, veranlaßt eine De-
pesche von
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1*) In der "New-York Daily Tribune" Nr. 4414 vom 12. Juni 1855
beginnt der Artikel an Stelle des obenstehenden Textes mit den
Worten: "Es ist sicher, daß die Resignierung des Generals Canro-
bert auf das Kommando der französischen Armee in der Krim keinen
Augenblick zu früh erfolgte. Die Moral der Armee befand sich be-
reits in einem sehr unbefriedigenden und zweifelhaften Zustand."
- 2*) An Stelle dieses Satzes heißt es in der "New-York Daily
Tribune": "Dies fachte den Geist der französischen Soldaten an,
die Zuaven meuterten und wurden infolgedessen am 23. Februar zur
Schlachterei auf den Berg Sapun geleitet." - 3*) An Stelle dieses
Satzes heißt es in der "New-York Daily Tribune": "Indessen wurde
das Feuer fortgeführt, schwächer und immer schwächer werdend, und
hörte endlich auf, ohne daß ein Versuch zu einem Sturm unternom-
men wurde."
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Paris den Canrobert, sie z u r ü c k z u r u f e n. Raglan wil-
ligte natürlich ein. Brown und Lyons, die Kommandanten der briti-
schen Land- und Seekräfte auf dieser Expedition, flehten ihre
französischen Kollegen an, den Platz t r o t z der Kontreordre
anzugreifen. Vergeblich. Die Expedition mußte zurücksegeln 1*).
Diesmal war die Entrüstung der Truppen nicht länger zu meistern.
Selbst die Engländer sprachen eine Sprache, die keiner Mißdeutung
fähig war; die Franzosen befanden sich in einem Zustande, der an
Meuterei streifte. Es blieb also nichts übrig für Canrobert, als
auf das Kommando einer Armee zu resignieren, über die er allen
Einfluß und Kontrolle verloren hatte. Pélissier war der einzig
mögliche Nachfolger, da die Soldaten, der im Treibhaus des Bona-
partismus aufgeschossenen Generale lange müde, w i e d e r-
h o l t e i n e n F ü h r e r a u s d e r a l t e n a f-
r i k a n i s c h e n S c h u l e v e r l a n g t h a t t e n.
2*) Pélissier genießt das Vertrauen der Soldaten, aber er
übernimmt den Oberbefehl unter schwierigen Umständen. Er muß
handeln, und zwar rasch 3*). Da der Sturm unmöglich ist, bleibt
nichts übrig, als ins Feld den Russen entgegenrücken, und zwar
nicht auf dem früher von uns beschriebenen Wege, wo die ganze
Armee auf e i n e r e i n z i g e n, dazu noch stark von den
Russen verschanzten Straße zu marschieren hätte, sondern durch
Verteilung der Armee über die vielen kleinen Bergpfade und meist
nur von Schafen und ihren Hirten betretenen Stege, die es möglich
machen, die russische Position zu flankieren. Hier bietet sich
eine Schwierigkeit. 4*) Die Franzosen besitzen nicht mehr
Transportmittel als für
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1*) In der "New-York Daily Tribune" heißt es weiter: "und es ist
sogar mitgeteilt worden, daß Canrobert in seiner Übereilung den
Befehl, der nur bedingt war, falsch ausgelegt hat." - 2*) Diese
Stelle lautet in der "New-York Daily Tribune" folgendermaßen:
"Pélissier war der einzig mögliche Nachfolger. Die Soldaten waren
dieser jungen Generale müde, die in dem munteren Treibhaus des
Bonapartismus zu den höchsten Ehrenstellen avancierten. Sie hat-
ten wiederholt nach einem Führer geschrien, der lange in der al-
ten afrikanischen Schule gestanden hat, nach einem Mann, der in
den algerischen Kriegen ein verantwortliches Kommando innehatte
und es mit Ehren innehatte. Pélissier war beinahe der einzige
Mann dieser Art unter der Herrschaft des Kaisers; dieser hatte
ihn mit der offenbaren Absicht dort hingesandt, um ihn früher
oder später zum Nachfolger Canroberts zu machen. Welches auch im-
mer seine Fähigkeiten sein mochten, er hatte das Vertrauen der
Truppen, und das ist sehr viel." - 3*) Dieser Satz wird in der
"New-York Daily Tribune" wie folgt fortgesetzt: "bevor die Leute
die Frische des Enthusiasmus verlieren, die die Gewißheit der
unmittelbaren Aktion ihnen eingeflößt haben muß." - 4*) Die bei-
den vorhergehenden Sätze lauten in der "New-York Daily Tribune"
folgendermaßen: "Da der Sturm unmöglich ist, bleibt nichts übrig,
als ins Feld den Russen entgegenrücken, und das kann nur gesche-
hen, indem die russische Position in der Weise umgangen wird, wie
wir es vorhergehend geschildert haben. Tatsächlich finden wir un-
sere Ansicht darüber von einem britischen Offizier bestätigt, der
im Londoner 'Morning Herald' sagt, es sei die allgemeine Ansicht
der kompetenten Leute, daß es keinen anderen Weg gäbe, den Kampf
mit Erfolg aufzunehmen. Jedoch herrscht eine sehr ernste Schwie-
rigkeit, diesen Plan auszuführen."
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ungefähr 30 000 Mann auf sehr kurze Entfernung von der Küste. Die
Transportmittel der Engländer würden erschöpft sein, wenn sie
eine einzige Division nicht weiter als bei Tschorgun an der
Tschornaja placierten. Wie ins Feld rücken, die Nordseite im
Falle des Erfolges einschließen, den Feind nach Bachtschissarai
verfolgen und eine Verbindung mit Omer Pascha bewerkstelligen,
ist bei diesem Mangel an Transportmitteln schwer zu erraten. Um
so mehr, da die Russen ihrer Gewohnheit gemäß Sorge tragen wer-
den, nichts als Ruinen hinter sich zu lassen, so daß eine Zufuhr
von Karren, Pferden, Kamelen usw. nur zu erhalten, nachdem die
Alliierten ihnen eine völlige Niederlage beigebracht. Wir werden
sehen, wie Pélissier sich aus diesen Schwierigkeiten herauswin-
det.
Wir haben schon früher auf einige sonderbare, mit Pélissiers Er-
nennung zusammenhängende Umstände hingewiesen. 1*) Es ist hier
indes noch ein Gesichtspunkt wahrzunehmen. Als der Krieg begann,
wurde der Oberbefehl dem bonapartistischen General par ex-
cellence, S[ain]t-Arnaud, anvertraut. Er tat seinem Kaiser den
Dienst, sofort zu sterben. Dann wurde keiner der Bonapartisten
ersten Ranges ernannt, weder Magnan noch Castellane, noch Roguet,
noch Baraguay d'Hilliers. Zu Canrobert wurde Zuflucht genommen,
einem Manne von weniger tiefer und nicht so alter bonapartisti-
scher Tinktur, aber von mehr afrikanischer Erfahrung. Jetzt, wo
das Kommando wieder wechselt, werden die Bonapartisten du len-
demain 2*) ebenso ausgeschlossen wie die de la veille 3*), und
der Posten wird einem simplen afrikanischen General übergeben,
ohne irgend ausgeprägte politische Färbung, aber von langem
Dienstalter und in der Armee bekannt. Muß diese absteigende Linie
nicht notwendig zu Changarnier, Lamoricière oder Cavaignac füh-
ren, d.h. aus dem Bonapartismus heraus?
"Untüchtigkeit für den Frieden wie für den Krieg, das ist unsere
Situation!" bemerkte vor einigen Tagen ein französischer Staats-
mann, für den alles mit dem imperatorischen 4*) Regime auf dem
Spiel steht. Daß er recht hatte, beweist jeder Akt des re-
staurierten Kaisertums, bis auf die Ernennung von Pélissier.
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1*) Siehe vorl. Band, S. 242/243 - 2*) von morgen - 3*) von ge-
stern - 4*) in der "Neuen Oder-Zeitung": imperialistischen
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