Quelle: MEW 11 Januar 1855 - April 1856


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       #314#
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       Karl Marx
       
       Anzeige über die Einnahme Sewastopols - Von der Pariser Börse -
       Über die Massacre bei Hangö im Oberhaus [183]
       
       ["Neue Oder-Zeitung" Nr. 289 und 290 vom 25. und 26. Juni 1855]
       London, 22.  Juni. Der  zweite Akt der "Nachtwandlerin" [184] war
       eben beendet,  der  Vorhang  des  Drury-Lane-Theaters  fiel,  als
       plötzlich ein  ungeheurer Paukenschlag  das Publikum, das sich zu
       Erfrischungen drängte, zurückrief. Der Vorhang rollte wieder auf,
       der Theaterdirektor  trat vor und hielt in melodramatischer Exal-
       tation folgende Anrede:
       
       "Ladies und Gentlemen! Ich bin so glücklich, Ihnen ein großes Er-
       eignis anzeigen zu können. Die Alliierten haben Sewastopol genom-
       men."
       
       Enthusiastischer Triumphschrei, Hurras, Vivats, Regen von Blumen-
       sträußen. Das  Orchester spielte und das Publikum sang: "God save
       the Queen",  "Rule Britannia"  und "Partant pour la Syrie". [185]
       Eine Stimme  aus den  oberen Regionen  rief: "La  Marseillaise!",
       verhallte aber  ohne Echo. Die Improvisation des Theaterdirektors
       basierte auf  einer telegraphischen  Depesche, die zwar nicht die
       Einnahme von  Sewastopol meldet,  wohl aber, daß die Franzosen in
       ihrem Sturm  auf Malachow  und die  Engländer in ihrem Sturm, auf
       den Redan, am 18. Juni, mit  b e d e u t e n d e m  V e r l u s t
       z u r ü c k g e s c h l a g e n   wurden. Der  Mime kopierte  ge-
       stern abend  auf den  Brettern von Drury-Lane einen andern Schau-
       spieldirektor, der vor beinahe einem Jahre mitten in einem großen
       militärischen Spektakelstück  [186] die unerwarteten, unvergeßli-
       chen Worte improvisierte: "Messieurs, Sevastopol est pris!" 1*)
       Die unbegreifliche  Verstocktheit, womit Pélissier fortfährt, die
       Kräfte der  alliierten Armee aufzureiben in einseitigen Angriffen
       auf die  Südseite, soll  ihren Erklärungsgrund  finden  nicht  in
       m i l i t ä r i s c h e n,  sondern in  f i n a n z i e l l e n
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       1*) "Meine Herren, Sewastopol ist genommen!"
       
       #315# Von der Pariser Börse - Über die Massacre bei Hangö...
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       Motiven. Bonaparte  hat bekanntlich schon Milliarden auf die Ein-
       nahme von  Sewastopol gezogen  und von  der französischen  Nation
       diskontieren lassen.  Er steht  im Begriff,  wieder 800 Millionen
       oder ungefähr  so zuziehn.  Eine Abschlagszahlung  auf die  schon
       zirkulierenden Wechsel  schien also  unerläßlich,  und  wenn  der
       Übergang über  die  Tschornaja    w i r k l i c h e    R e s u l-
       t a t e   hat,  verspricht  der  Angriff  auf  die  Südseite  von
       Sewastopol  b l e n d e n d e n  S c h e i n  e r f o l g.  "Fall
       von Sewastopol"  würde wohltun  im Prospektus  der neuen Anleihe,
       und wenn eine Anleihe für den Krieg, warum sollte nicht ein Krieg
       für die  Anleihe gemacht  werden! Vor  diesem Standpunkt muß alle
       kriegswissenschaftliche Kritik verstummen. Es existiert überhaupt
       ein mysteriöser  Zusammenhang zwischen  dem Krieg in der Krim und
       der Börse  zu Paris.  Wie alle  Wege nach  Rom führen,  so laufen
       bekanntlich alle  elektrischen Drähte  in den Tuilerien zusammen,
       wo sie  in ein  "Kabinettsekret" münden.  Nun ist bemerkt worden,
       daß die  wichtigsten telegraphischen  Depeschen Stunden später in
       Paris als in London veröffentlicht werden. Während dieser Stunden
       soll ein gewisser Korse, mit Namen Orsi, unendlich geschäftig auf
       der Pariser  Börse tun.  Dieser Orsi,  wie  in  London  allgemein
       bekannt, war  in vergangnen Zeiten der "providentielle" Agent des
       damals Verbannten 1*) auf dem Londoner Stock-Exchange 2*).
       Bewiesen nicht schon die vom englischen Kabinett veröffentlichten
       Depeschen des Admirals Dundas, daß das russische  M a s s a c r e
       b e i   H a n g ö   keinen Vorwand  fand in irgendeinem Mißbrauch
       der Parlamentärflagge  auf seiten  der Offiziere  oder Mannschaft
       des vom "Cossack" abgeordneten Bootes, so würde die Erzählung des
       "Invalide Russe"  [187] jeden  Zweifel über  diesen Punkt nieder-
       schlagen. Die Russen ahnten offenbar nicht, daß ein Matrose, John
       Brown, lebendig  davongekommen  und  Zeugnis  gegen  sie  ablegen
       würde. Der  "Invalide" hielt  es also für überflüssig, das engli-
       sche Boot  der Spionage,  des Sondierens usw. anzuklagen, und fa-
       brizierte seine  Historia aus  dem Stegreif,  mit dem Abbé Sieyès
       überzeugt, daß "die Toten nicht sprechen". Die Affäre kam gestern
       im Oberhaus  zur Sprache.  Wir können indes nicht mit der "Times"
       übereinstimmen, daß  "dieser sonst  aus Gewohnheit und Prinzip so
       kaltvornehme Senat"  diesmal von den unverfälschten Lauten wahrer
       Leidenschaft erbebt sei. Wir finden affektierte Entrüstung in der
       Phrase, in  der.; Sache  zärtliche Sorgfalt  für  die  "russische
       Ehre" und ängstliche Abwehr der Nationalrache. Der auswärtige Mi-
       nister der Tories, Graf Malmesbury, erhob sich, setzte den Tatbe-
       stand kurz auseinander und rief dann aus:
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       1*) Louis Bonaparte 2*) Börse
       
       #316# Karl Marx
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       "Ich habe  die englische Geschichte durchwühlt und kann kein Bei-
       spiel einer  ähnlichen abscheulichen Handlung finden. Welche Maß-
       regel denkt  die Regierung unter diesen Umständen zu ergreifen? -
       Es ist  ein Gegenstand von der höchsten Wichtigkeit für jeden Of-
       fizier und  jede Armee in Europa, daß diese Angelegenheit ergrün-
       det  werde   und  angemessene  Strafe  auf  die  Vollbringer  der
       Schandtat falle."
       
       Clarendon, der  auswärtige  Minister  der  Whigs,  erklärte,  die
       "Entrüstung" seines Kollegen zu teilen. Es ist eine so schreckli-
       che und  unvergleichliche Gewalttat,  so sehr  im Widerspruch mit
       den Gebräuchen  und Gewohnheiten  zivilisierter Nationen, daß man
       unterstellen muß,  daß die  Vollbringer derselben nicht gehandelt
       haben können im Auftrag oder mit der Bewilligung ihrer Vorgesetz-
       ten. Es  sei möglich,  daß der  Befehlshaber der  500 Russen kein
       commissioned officer  1*) (jeder englische Offizier bis zum Leut-
       nantsrang hinab  besitzt eine   c o m m i s s i o n   2*),  nicht
       aber die Sergeanten und Unteroffiziere) gewesen sei. Es sei daher
       glaublich, daß  die russische Regierung diesen Akt mißbillige. Er
       habe daher  dem englischen  Gesandten in  Kopenhagen aufgetragen,
       durch den dänischen Gesandten in Petersburg der russischen Regie-
       rung vorzustellen,  daß das  englische Kabinett  mit der höchsten
       Spannung erwarte,  welche Schritte die russische Regierung genom-
       men habe  oder zu  nehmen beabsichtige,  um ihre  Denkweise  über
       einen Akt zu konstatieren, der vielleicht keine Überraschung her-
       vorgerufen, wenn er in einer wilden Insel der Südsee vorgefallen,
       aber nicht im zivilisierten Europa erwartet werde und, wenn nicht
       streng und  entsprechend bestraft  von der  russischen Regierung,
       die härteste Repressalie verdienen würde. Das englische Kabinett,
       schloß Clarendon,  erwarte die  russische Erklärung,  um demgemäß
       weitere Schritte zu ergreifen.
       Lord Colchester glaubt,
       
       "daß es  in jedem  solchen Falle  die Pflicht des Kommandierenden
       war, unmittelbar sich mit der höchsten russischen Behörde, die er
       erreichen konnte,  durch einen  Parlamentär unter  der  Friedens-
       flagge in  Verbindung zu setzen, die Umstände darzustellen und zu
       verlangen, daß die Untat verleugnet werde".
       
       Lord Malmesbury  erhebt sich  wieder, erklärt  sich im ganzen mit
       dem Verfahren  der Regierung  einverstanden, schaudert  aber, von
       Clarendon das  Wort "Repressalie"  vernommen  zu  haben.  England
       dürfe  nicht   auch  auf   russischen   Standpunkt   herabsinken.
       M o r a l i s c h  müsse es sich am Zaren rächen, alle Höfe Euro-
       pas zu  einem Protest am Petersburger Hof vermögen und so ein in-
       ternationales Urteil über Rußland verhängen. Alles in der Art von
       "Rache" würde den öffentlichen "Ekel" nur steigern. Der nominelle
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       1*) durch königliches Patent bestallter Offizier - 2*) Patent
       
       #317# Über die Massacre bei Hangö im Oberhaus
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       Präsident des  englischen Kabinetts,  Graf Granville,  greift des
       Torys Worte gierig auf und betet christlich: "Keine Wiedervergel-
       tung!"
       Was  zeigt   uns  nun   dieser,  wie   die   "Times"   behauptet,
       Leidenschaftsausbruch im Oberhaus? Der Tory, voll sittlicher Ent-
       rüstung, interpelliert.  Der Whig  überbietet ihn  an Entrüstung,
       administriert aber selbst unter der Hand der russischen Regierung
       Entschuldigungsgründe und zeigt ihr den Ausweg, einen Subalternen
       zu desavouieren  und zu opfern. Er deckt seinen Rückzug, indem er
       "eventualiter" etwas  von Repressalien  munkelt. Lord  Colchester
       will die  Russen für mörderisches Attentat auf Parlamentäre unter
       Friedensflagge züchtigen,  indem er ihnen einen neuen Parlamentär
       unter Friedensflagge  zuschickt. Der  Tory erhebt sich wieder und
       appelliert von  Repressalien an die Moral. Der Whig, froh die Re-
       pressalie los zu sein, selbst eventualiter, stimmt ein: "No reta-
       liation!" 1*)  Nichts als  Komödie. Das Oberhaus stellt sich zwi-
       schen die  Volksleidenschaft und  Rußland, um  Rußland zu decken.
       Der einzige  Pair, der  aus der Rolle fiel, war Brougham. "Wenn",
       sagte er,  "wenn das  Land je nach Blut schrie, so ist es jetzt."
       Was die  englische Sensibilität  gegen "Repressalien",  gegen das
       "Jus talionis"  2*) betrifft, hat Lord Malmesbury die Blätter der
       englischen Geschichte durchwühlt, ohne ein irisches Blatt zu fin-
       den, ein  indisches, ein  nordamerikanisches! Wann war die engli-
       sche Oligarchie je sentimental, außer gegen Rußland!
       In dem  Bericht des  Roebuck-Komitees,  der  dem  Hause  verlesen
       wurde, ist  sonderbarerweise der Schlußparagraph unterdrückt wor-
       den, ein  Paragraph, den Roebuck vorgeschlagen und der nach einer
       Abstimmung vom Komitee angenommen war. Er lautet wie folgt:
       
       "Was mit  ungenügender Information entworfen und unternommen war,
       ist ohne  hinreichende Vorsorge  und Vorsicht  ausgeführt worden.
       Dies Betragen  der Regierung  war die  erste und Hauptursache der
       Unglücksfälle, die unsre Armee in der Krim befielen."
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       1*) "Keine Wiedervergeltung!" - 2*) "Vergeltungsrecht"

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