Quelle: MEW 11 Januar 1855 - April 1856


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       Karl Marx/Friedrich Engels
       
       Aus dem Parlamente - Vom Kriegsschauplatze
       
       ["Neue Oder-Zeitung" Nr. 337 vom 23. Juli 1855]
       London, 20. Juli. Die Debatte über Roebucks Antrag ist keineswegs
       ausgefallen, wie das Ministerium sich geschmeichelt. Noch gestern
       morgen prophezeite es in seinen halboffiziellen Organen, Roebucks
       Antrag werde mit 5 gegen 1 Stimme verworfen werden. Gestern nacht
       schätzte es sich glücklich, die previous question [203], d.h. die
       Ablehnung des  Hauses, überhaupt  über den Antrag zu entscheiden,
       mit 289 gegen 182 Stimmen durchzusetzen. Dasselbe Haus, das Aber-
       deen zur Resignation zwang, weil er ein Untersuchungskomitee ver-
       weigerte, rettet  Palmerston, indem  es zum Schlüsse über das Ur-
       teil seine  eigenen Komitees  zu kommen verweigert. Die Vertagung
       des  Parlaments   vertagt  Palmerstons  Kabinett  bis  zur  neuen
       Session. Dann  ist sein  Lebenstermin abgelaufen. Auf die Sitzung
       selbst werden wir zurückkommen.
       In diesem  Augenblick ist ein Stillstand in den Kriegsoperationen
       in der  Krim eingetreten.  Keine Sturmversuche  mehr, die Kanonen
       sind beinahe  verstummt; und würde nicht das Büchsenfeuer bestän-
       dig zwischen den zwei Verschanzungslinien gewechselt, schöben die
       Alliierten ihre  Position durch Minieren und Sappen nicht auf den
       Malachowhügel vor,  machten die  Russen nicht  gelegentlich  Aus-
       fälle, so  könnte man  alle Feindseligkeiten für suspendiert hal-
       ten.
       Es ist  dies die  Stille, die dem Sturm vorhergeht. In 2-3 Wochen
       wird ein  Kampf, Mann gegen Mann, beginnen, wilder als bei Inker-
       man, dem  Grünen Mamelon  oder dem Sturme vom 18. Juni. Der Monat
       August muß  zu einem  gewissen Punkte entscheiden: die nun unter-
       wegs begriffenen  russischen Streitkräfte  werden dann  angelangt
       und die Reihen der Alliierten durch Krankheit gelichtet sein. Der
       Kampf auf  Leben und  Tod wird  dann beginnen, und die Alliierten
       werden genug  zu tun haben, ihren Grund und Boden auf dem Plateau
       zu behaupten.
       Die Einnahme der Südseite von Sewastopol für dieses Jahr ist eine
       Vorstellung, jetzt  selbst von  der englischen Presse aufgegeben.
       Sie sind  auf die  Hoffnung reduziert, Sewastopol Stück für Stück
       niederzuwerfen; und wenn
       
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       sie es  durchsetzen, mit  derselben Eile  vorzugehen wie  bisher,
       wird die  Belagerung in  ihrer Dauer  die von Troja erreichen. Es
       ist durchaus  kein Grund  für den  Glauben vorhanden, daß sie ihr
       Werk in  beschleunigter Geschwindigkeit  vollbringen werden, denn
       wir sind  jetzt so gut wie offiziell unterrichtet, daß das bisher
       befolgte fehlerhafte  System hartnäckig  fortgesetzt werden soll.
       Der Krim-Korrespondent  des "Constitutionnel", ein Mann von hohem
       Range in  der französischen  Armee (es  soll General  Regnault de
       S[ain]t-Jean-d'Angely sein,  Kommandant der  Garden), hat dem Pu-
       blikum angekündigt, es könne sich die Mühe sparen, sich in Speku-
       lationen über  eine Kampagne  im freien  Felde und die eventuelle
       Einschließung der  Nordseite von Sewastopol zu ergehen. Unter ge-
       genwärtigen Umständen,  sagt er,  könne das  nicht geschehen ohne
       Aufhebung der Belagerung und ohne Überlassung des ganzen Plateaus
       an die  Russen. Es  sei daher  entschieden [worden],  so hart als
       möglich auf die einmal angegriffene Position loszuhämmern, bis zu
       ihrer völligen  Zerstörung. Die Ankündigungen dieses Briefes kön-
       nen als halboffiziell betrachtet werden, da jeder Grund vorhanden
       ist, zu  glauben, nicht  nur, daß  Bonaparte sie billigt, sondern
       selbst, daß er jeden Bericht aus dieser Quelle vor dem Drucke re-
       vidiert. Regnault  ist einer  seiner speziellen  Günstlinge - der
       Kriegsminister, der zur Zeit der legislativen Nationalversammlung
       seine Unterschrift hergab zur Absetzung Changarniers.
       Was die Folge von alledem sein muß, ist leicht vorherzusagen. Die
       russische Armee  in und  um Sewastopol  bestand aus dem 3. und 4.
       Korps, 2 Divisionen des 5. und 1 des 6. Korps, außer Seesoldaten,
       Matrosen, lokalen  Truppen, Kosaken und Kavallerie, zusammen eine
       Armee von  180 Bataillons  oder 90 000 Mann Infanterie mit 30 000
       Mann Artillerie,  Kavallerie usw.,  nebst etwa  40000 Kranken und
       Verwundeten. Selbst  der französische "Moniteur" schätzt ihre Ef-
       fektivkraft unter  Waffen auf 110 000 Mann. Nun befinden sich das
       ganze 2. Korps (50 Bataillons, 32 Schwadronen und 96 Kanonen) und
       zwei Grenadierdivisionen  mit einer  Division Kavallerie  (24 Ba-
       taillons, 2 Schwadronen, 72 Kanonen) auf dem Marsch oder schon in
       der  Nähe   Sewastopols.  Sie  repräsentieren  eine  additionelle
       Streitkraft von  55 000 Mann  Infanterie, 10 000  Kavallerie  und
       Kosaken und 5000 Artillerie. Die Russen werden so bald eine Armee
       von mindestens  175 000  Mann  konzentriert  haben,  beträchtlich
       mehr, als  den Alliierten  übrigbleiben kann  nach ihren jüngsten
       Verlusten in den Ausfällen und durch Krankheit. Daß die Russen so
       fähig sein  werden, mindestens  ihr bisheriges Terrain zu behaup-
       ten, ist  um so mehr zu erwarten, als sie beständig die durch An-
       strengungen erschöpften  Truppen der Garnison durch frische ablö-
       sen können.
       Die Alliierten auf der anderen Seite haben keine Chance, ähnliche
       Verstärkungen
       
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       zu erhalten.  Sie zählen jetzt 21 Divisionen Infanterie (12 fran-
       zösische, 4  englische, 3 türkische, 2 piemontesische) oder unge-
       fähr 190  Bataillons, 3  Divisionen Kavallerie (1 französische, 1
       englische, 1  türkische) oder  ungefähr 60  Schwadronen und  eine
       entsprechende Zahl  von Kanonen;  aber da ihre Bataillons und be-
       sonders ihre  Schwadronen sehr  gelichtet sind durch die Verluste
       der Kampagne,  wird ihre  Gesamtkraft nicht 110 000 Mann Infante-
       rie, 7500  Kavallerie und  30 000-35 000  Artillerie,  Train  und
       Dienstunfähige überschreiten.  Wenn daher  die Kräfte  der beiden
       kämpfenden Parteien  sich so  nahe das Gleichgewicht gehalten vor
       der Ankunft  der russischen Verstärkungen, muß die Waage sich of-
       fenbar gegen  die Alliierten  neigen, sobald  jene anlangen.  Was
       bisher nachgeschickt  worden ist,  sind bloß Detachements von den
       Depots, um die engagierten Bataillons und Schwadronen wieder aus-
       zufüllen, und  es kann sich nicht auf viel belaufen, wenn die Be-
       richte der  Presse zuverlässig. Unterdes sollen 3 Divisionen nach
       Marseille und  Toulon marschieren, wo sich Dampfboote konzentrie-
       ren, während  in England  die für  die Krim bestimmten Regimenter
       Befehl erhalten  haben, sich für unmittelbare Verschiffung bereit
       zu halten.  Letztere werden ungefähr eine Division Infanterie und
       eine Division Kavallerie zählen. So mögen ungefähr 33000 Mann In-
       fanterie mit  vielleicht 2500  Kavallerie und Artillerie nach und
       nach in  der Krim  anlangen während  August und  September.  Dies
       hängt jedoch  ganz von der Geschwindigkeit ihrer Einschiffung ab.
       Unter allen  Umständen werden die Alliierten sich wieder in nume-
       rischer Unterordnung  befinden und  können wieder auf dem Plateau
       eingezwängt werden, wo sie den letzten traurigen Winter verkamen.
       Ob es  den Russen  diesmal gelingen  wird, sie  aus diesem festen
       Schlupfwinkel zu vertreiben, wagen wir nicht zu entscheiden. Aber
       ihr eigenes  Terrain zu halten, ist offenbar alles, was die Alli-
       ierten erwarten können, außer wenn sie Verstärkungen auf giganti-
       schem Maßstab erhielten. So könnte der Krieg reduziert werden auf
       eine Reihe  von Treffen  und Handgemengen, ebenso resultatlos wie
       blutig, worin  jede Seite Tag nach Tag frische Truppenkörper vor-
       schicken wird,  um dem  Feind im  Handgemenge zu begegnen, sei es
       auf den Wällen der Stadt, den Brustwehren der Laufgräben oder den
       eskarpierten Anhöhen um Inkerman und Balaklawa. Von allen Chancen
       ist es  die wahrscheinlichste,  daß die  Sache sich  so verlaufen
       wird. Es  kann keine  Lage feindlicher Armeen ersonnen werden, wo
       größerer Blutverlust  zu unwichtigem  Resultaten führt,  als  von
       solchen Gefechten  zu erwarten. Und dies ist zuwege gebracht wor-
       den durch die Mittelmäßigkeit der Obergenerale auf beiden Seiten,
       durch ohnmächtigen Dilettantismus zu Paris und absichtlichen Ver-
       rat zu London.

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