Quelle: MEW 11 Januar 1855 - April 1856
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Karl Marx
Traditionelle englische Politik
["New-York Daily Tribune" Nr. 4597 vom 12. Januar 185,
Leitartikel]
Hinsichtlich der Außenpolitik der englischen Whigs ist eine
höchst irrige Meinung verbreitet; es wird angenommen, daß sie
seit eh und je die geschworenen Feinde Rußlands seien. Die Ge-
schichte beweist jedoch klar das Gegenteil. Im Tagebuch und im
Briefwechsel von James Harris, dem ersten Earl von Malmesbury -
der mehrere Jahre hindurch sowohl unter Regierungen der Whigs als
auch der Tories englischer Botschafter am Hofe von St. Petersburg
war - und in den von Lord John Russell herausgegebenen Memoiren
und Briefwechsel von Charles James Fox [289] finden wir erstaun-
liche Enthüllungen einer Whig-Politik, wie sie von Fox inspiriert
und eingeleitet wurde, der immer noch der politische Oberpriester
der Whigs ist und von ihnen ebensosehr verehrt wird wie Mohammed
von den Osmanen. Um nun zu verstehen, wie es kam, daß sich Eng-
land Rußland gegenüber geradezu sklavisch benommen hat, wollen
wir uns für einen Augenblick Dingen zuwenden, die sich vor Fox'
Eintritt ins Kabinett zutrugen.
Aus dem Tagebuch des Earl von Malmesbury ersehen wir die begie-
rige, ungeduldige Hast, mit der England bestrebt war, während un-
seres Unabhängigkeitskrieges auf Rußland einen diplomatischen
Druck auszuüben. [290] Sein Botschafter war instruiert worden,
mit allen Mitteln eine Offensiv- und Defensivallianz zu schlie-
ßen. Die Zarin gab beim ersten Mal eine ausweichende Antwort;
schon das Wort "offensiv" war Katharina verhaßt; und es war not-
wendig, zunächst den Lauf der Dinge abzuwarten. Schließlich er-
kannte der englische Diplomat, daß das Hindernis in Rußlands
Wunsch nach englischer Unterstützung bei seiner Türkenpolitik be-
stand. Harris machte seiner Regierung klar, daß es erforderlich
sei, den russischen Appetit zu
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ermuntern, wolle man sich seine Hilfe gegen die amerikanischen
Kolonien sichern.
Im folgenden Jahr nimmt der Vorschlag von Sir James Harris eine
mildere Form an; er bittet nicht um eine Allianz. Ein russischer,
von der Kriegsflotte unterstützter Protest, um Frankreich und
Spanien in Schach zu halten, wird für England annehmbar sein. Die
Kaiserin erwidert, daß sie keinerlei Veranlassung zu einer sol-
chen Maßnahme sehen könne. Der Botschafter hält ihr mit krieche-
rischer Schmeichelei entgegen, daß
"ein russischer Herrscher des 17. Jahrhunderts wohl derartiges
geäußert haben könnte, aber seit jener Zeit sei Rußland eine
tonangebende Macht in Europa geworden, und die Angelegenheiten
Europas seien auch die Angelegenheiten Rußlands. Wenn Peter der
Große die russische Flotte mit der Englands verbündet sehen
könnte, würde er gestehen, nicht länger der erste der russischen
Herrscher gewesen zu sein"
und so weiter in dieser Tonart.
Die Kaiserin akzeptierte diese Schmeichelei, verwarf aber die
Vorschläge des Botschafters. Zwei Monate später, am 5. November
1779, schrieb König Georg seiner "Lady Schwester", der Zarin, in
altmodischem Französisch einen eigenhändigen Brief. Er bestünde
nicht länger auf einen formalen Protest, sondern wäre mit einer
einfachen Demonstration zufrieden.
"Das bloße Erscheinen eines Teils der kaiserlichen Flotte" - so
lauteten seine königlichen Worte - "wird genügen, um den Frieden
Europas wiederherzustellen und zu bestätigen, und die gegen Eng-
land verbündete Liga wird sofort verschwinden."
Hat je eine andere Großmacht mit solch erniedrigender Demut um
Hilfe gebeten?
Aber diese ganze Scharwenzelei Englands verfehlte ihren Zweck und
im Jahre 1780 wurde die bewaffnete Neutralität verkündet. England
schluckte geduldig die Pille. Um die Dosis schmackhafter zu ma-
chen, hatte die Regierung vorher verkündet, daß die Hände ls-
schiffe Rußlands nicht von englischen Kreuzern angehalten oder
behindert werden sollten. So verzichtete England damals ohne je-
den Zwang auf das Recht der Durchsuchung fremder Schiffe. Bald
danach versicherte der englische Diplomat dem Kabinett zu St. Pe-
tersburg, daß britische Kriegsschiffe die Untertanen der Kaiserin
bei ihren Handelsgeschäften nicht belästigen würden, und 1781 be-
zeichnete es Sir James Harris als ein Verdienst der englischen
Admiralität, daß sie die zahlreichen Fälle übersähe, in denen
russische Schiffe den Feinden Englands Schiffsvorräte brächten,
und daß die Admiralität, wo auch immer solche Schiffe irrtüm-
licherweise festgehalten oder behindert worden seien, großzügig
Schadenersatz
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für das Anhalten geleistet habe. Jedes nur denkbare Mittel wurde
von dem englischen Kabinett angewandt, um Rußland zu überreden,
auf die Neutralität zu verzichten. Lord Stormont schreibt daher
an den Botschafter in St. Petersburg:
"Gibt es denn gar kein wertvolles Objekt, mit dem man den Ehrgeiz
der Kaiserin herausfordern könnte, keine ihrer Flotte und ihrem
Handel vorteilhafte Konzession, die sie bewegen könnte, uns gegen
unsere rebellischen Kolonien zu helfen?"
Harris erwidert, daß ein solcher Köder die Abtretung von Minorca
sein könnte. 1781 wurde Minorca Katharina angeboten - aber picht
angenommen.
Im März 1782 trat Fox ins Kabinett ein, und sogleich wurde dem
russischen Botschafter in London mitgeteilt, daß England bereit
sei, mit Holland zu verhandeln, dem das vorhergehende Ministerium
den Krieg erklärt hatte auf Grund des Vertrages von 1674 [291],
in dem zugestanden war, daß freie Schiffe auch die Waren frei
machen, und daß es umgehend einen Waffenstillstand herbeiführen
würde. Harris wird von Fox angewiesen, diesen Schritt als einen
Beweis der Ehrerbietung darzustellen, welche der König den Wün-
schen und Meinungen der Kaiserin zu bezeigen wünscht. Fox aber
begnügt sich nicht damit. In einer Kabinettssitzung wird dem Kö-
nig nahegelegt, den russischen Botschafter, der in der Nähe des
Hofes residiert, wissen zu lassen, daß Seine Majestät die Ansich-
ten der Kaiserin zu teilen und die engsten Beziehungen zum Hofe
von St. Petersburg herzustellen und die Neutralitätserklärung zur
Grundlage von Abkommen zwischen beiden Ländern zu machen wünscht.
Bald danach trat Fox zurück. Sein Nachfolger, Lord Grantham, be-
stätigte, daß die ziemlich wohlwollende Haltung St. Petersburgs
gegenüber London die Frucht der Politik von Fox sei; und als Fox
wieder ins Kabinett eintrat, äußerte er die Meinung, daß eine Al-
lianz mit den Mächten des Nordens die von einem aufgeklärten Eng-
länder zu verfolgende Politik Wäre und es für immer bleiben
sollte. In einem seiner Briefe an Harris erinnert er ihn daran,
daß die Freundschaft mit dem Hof von St. Petersburg für Großbri-
tannien von größter Wichtigkeit ist, und versichert, daß es das
stolzeste Ziel seiner ersten kurzen Regierungszeit war, der Kai-
serin zu zeigen, wie aufrichtig das englische Ministerium be-
strebt war, ihrem Rat zu folgen und ihr Vertrauen zu gewinnen.
Fox hegte eine außerordentliche Vorliebe für eine Allianz mit
Rußland. Er riet dem König, an die Kaiserin zu schreiben und sie
zu ersuchen, den Angelegenheiten Englands ihre gnädige Aufmerk-
samkeit zu schenken.
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1791 sagte Fox, der sich damals in der Opposition befand, im Par-
lament, daß
"es einem britischen Haus durchaus neu sei, die wachsende Bedeu-
tung Rußlands als einen besorgniserregenden Umstand dargestellt
zu hören. Zwanzig Jahre zuvor hatte England russische Schiffe ins
Mittelmeer geführt. Er" (Fox) "habe dem König geraten, Rußland
bei der Annektierung der Krim nicht im Wege zu sein. England be-
stärkte Rußland in dem Bestreben, seine eigene Vergrößerung auf
den Ruinen der Türkei zu begründen. Es wäre Narrheit, auf Ruß-
lands größer gewordene Macht im Schwarzen Meer eifersüchtig zu
sein."
Im Verlaufe der gleichen Debatte bemerkte Burke, der damals zu
den Whigs gehörte:
"Es ist durchaus neu, das Türkische Reich als einen Teil des eu-
ropäischen Gleichgewichts zu betrachten";
und diese Ansichten vertrat Burke, den jede Partei in England für
das Musterbild des britischen Staatsmannes hält, in weit schärfe-
ren Worten immer wieder bis ans Ende seiner politischen Laufbahn,
und sie wurden von dem großen Führer der Whigs, der dann die Lei-
tung jener Partei übernahm, aufgegriffen.
Während Lord Greys Regierung in den Jahren 1831 und 1832 nahm
dieser Gelegenheit, in einer Debatte zur Außenpolitik seiner
Überzeugung Ausdruck zu geben, daß es der Türkei selbst und dem
Glück Europas zum Vorteil gereiche, wenn diese Macht in dem Rus-
sischen Reich aufginge. War denn damals Rußland weniger barba-
risch, als es jetzt dargestellt wird? War es damals in einem ge-
ringeren Ausmaße ein Land jenes abscheulichen Despotismus, den
die heutigen Whigs jetzt in so schrecklichen Farben ausmalen. Und
dennoch begehrte man in kriecherischer Unterwürfigkeit nicht al-
lein eine Allianz mit Rußland, sondern englische liberale Staats-
männer unterstützten diese gleiche Absicht, für die man sie jetzt
so heftig brandmarkt.
Geschrieben um den 28. Dezember 1855.
Aus dem Englischen.
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