Quelle: MEW 11 Januar 1855 - April 1856


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       Friedrich Engels
       
       Der europäische Krieg
       
       ["New-York Daily Tribune" Nr. 4616 vom 4. Februar 1856,
       Leitartikel]
       Das System der Kriegführung, das bisher von den Westmächten gegen
       Rußland angewandt  wurde, ist  völlig  niedergebrochen.  Es  wird
       nicht angehen,  die diesjährige  Kampagne,  wenn  überhaupt  eine
       Kampagne stattfinden wird, nach dem bisherigen Plan fortzuführen.
       Die  gesamten   Kräfte  Frankreichs,  Englands,  der  Türkei  und
       Sardiniens  gegen   einen  besonderen   Punkt  auf  der  Krim  zu
       konzentrieren, gegen  einen Punkt,  den man  bei  Verwendung  in-
       direkter Mittel  noch nebenbei  hätte gewinnen  können; um diesen
       Punkt elf  lange Monate  zu kämpfen und dann nur die Hälfte davon
       zu erlangen;  alle anderen  günstigen Gelegenheiten,  dem  Feinde
       wirksame Schläge  zu versetzen,  in solch einem Maße ungenutzt zu
       lassen, daß  Rußland durch die Eroberung von Kars einen Ausgleich
       für den  Verlust der  Südseite Sewastopols  erhalten konnte - all
       das mochte  bei ein  oder zwei Kampagnen in einem Kriege angehen,
       in welchem  die verwundbarsten  Punkte der  gegnerischen Parteien
       durch die  Neutralität Mitteleuropas gedeckt waren. Aber das geht
       nicht länger  an. Der  Kriegsrat, der gerade in Paris getagt hat,
       ist der  beste Beweis,  daß wir  nun im  Ernst so etwas wie Krieg
       haben werden, wenn der Krieg überhaupt weitergehen soll. [296]
       Der Krieg, wie er bisher geführt wurde, ist ein Zustand offiziel-
       ler Feindseligkeiten  gewesen, gemildert  durch ausnehmende  Höf-
       lichkeit. Wir  meinen ' hier nicht die Höflichkeiten, die die un-
       umgänglichen Verhandlungen  unter der  weißen Fahne kennzeichnen,
       sondern die  Höflichkeiten, die  selbst die Kriegsräte der krieg-
       führenden Parteien  ihren Gegnern  erweisen. Die  Schuld, daß der
       Krieg überhaupt  entstand, ist  in einer  Fehlkalkulation  Kaiser
       Nikolaus'  zu   suchen.  Er  hatte  niemals  erwartet,  daß  sich
       Frankreich und England zusammentun würden, um sich seinen Absich-
       ten gegenüber der Türkei zu
       
       #585# Der europäische Krieg
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       widersetzen; er  war auf einen ruhigen kleinen Krieg mit dem Sul-
       tan aus,  auf einen  Krieg, der seine Truppen zum zweiten Mal vor
       die Mauern  Konstantinopels führen  [297] und die europäische Di-
       plomatie aufrütteln  könnte,  wenn  es  zu  spät  wäre,  und  der
       schließlich seinen  Diplomaten Gelegenheit  geben würde,  wie ge-
       wöhnlich auf Konferenzen und Kongressen doppelt so viel zu gewin-
       nen, als  seine Truppen  mit dem  Schwert hätten gewinnen können.
       Zum Unglück,  unerwartet und  gegen ihren Willen fanden sich, ehe
       sie dessen  gewahr wurden,  Rußland und  die Westmächte  in einen
       Krieg verstrickt,  und in  den Krieg mußten sie nun ziehen, wenn-
       gleich auch keiner von ihnen das wünschte. Jede Partei hatte aber
       in der  Perspektive ein  letztes Mittel der Kriegführung, mit dem
       sie glaubte,  die andere  davon abzuschrecken,  zum Äußersten  zu
       greifen. Es sollte ein Krieg von Prinzipien und von mehr oder we-
       niger revolutionärem Charakter werden, an dem Deutschland und die
       von  ihm  abhängigen  Gebiete,  Ungarn,  Polen,  Italien,  würden
       teilzunehmen haben.  Die Ultima  ratio des Westens bestand darin,
       einen Kampf  der unterdrückten  Nationalitäten  Ungarns,  Polens,
       Italiens und  mehr oder weniger auch Deutschlands auszulösen. Die
       Ultima ratio  Rußlands war  der Appell  an den  Panslawismus, die
       Verwirklichung des Traumes, den Enthusiasten unter der slawischen
       Bevölkerung Europas während der letzten fünfzig Jahre hegten.
       Aber weder die russische Regierung noch die Louis Bonapartes (von
       der Palmerstons  nicht zu reden) entschlossen sich, auf derartige
       Mittel zurückzugreifen,  ehe nicht der äußerste Notfall eingetre-
       ten war,  und demzufolge  ist der  Krieg geführt worden mit einer
       gegenseitigen Nachsicht  und Verbindlichkeit,  die kaum  zwischen
       legitimen Monarchen  aus uraltem Geschlecht üblich ist, noch viel
       weniger zwischen  solchen Emporkömmlingen und Usurpatoren wie die
       Romanows, die Hannoveraner und die Pseudo-Bonapartes. Die Ostsee-
       küste Rußlands wurde kaum angerührt; es wurden keinerlei Versuche
       gemacht, dort  festen Fuß  zu fassen.  Dort, wie  auch im  Weißen
       Meer, war  Privateigentum weit  mehr der  Gefahr  ausgesetzt  als
       Staatseigentum; und besonders an der Küste Finnlands schienen die
       britischen Flotten keinen anderen Zweck zu verfolgen als den, die
       Finnen mit der russischen Herrschaft auszusöhnen. Auf dem Schwar-
       zen Meer  wurde nach  ähnlichen Prinzipien verfahren. Die dorthin
       gesandten alliierten Truppen schienen mit der Absicht gekommen zu
       sein, die  Türken dazu zu bringen, sich nach einer russischen In-
       vasion zu  sehnen; denn  das ist  der einzige Schluß, den man aus
       ihrem Verhalten  von 1854 bis jetzt ziehen kann. Den harmlosesten
       Teil der  Zeit, die  sie in  der Türkei zubrachten, verlebten sie
       während ihres Aufenthalts in Varna, wo sie, unfähig etwas Nützli-
       ches zu tun, wenigstens keinen nennenswerten Schaden anrichteten,
       es sei denn unter sich selbst. Und schließlich brachen sie nach
       
       #586# Friedrich Engels
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       der Krim auf. Sie brachten es fertig, den Krieg so zu führen, daß
       die russische  Regierung allen  Grund hatte, mit ihnen höchst zu-
       frieden zu  sein. Der  Herzog von Cambridge hat neulich viele Me-
       daillen an  die von der Krim zurückgekehrten französischen Solda-
       ten verteilt;  aber keine  Medaillen, Kreuze,  Großkreuze, Sterne
       und Bänder,  die die  russische Regierung zu vergeben hat, werden
       hinlänglich die  Dankbarkeit ausdrücken  können, die sie den Lei-
       tern der  Kampagne von  1854 und 1855 schuldet. Als die russische
       Garnison die  Südseite Sewastopols aufgab, hatte das den Alliier-
       ten 250000  Mann an Toten und Verwundeten gekostet, außerdem Mil-
       lionen und  aber Millionen  an  Geld.  Die  Russen,  die  in  der
       Schlacht immer  besiegt wurden,  hatten ihre Feinde regelmäßig an
       Entschlossenheit und  Aktivität und  hinsichtlich  des  Geschicks
       ihres befehlshabenden  Ingenieurs 1*)  übertroffen. Wenn Inkerman
       [111] eine unauslöschliche Schande für die Russen war, so war die
       von den  Russen genau  vor der  Nase ihrer Gegner bewerkstelligte
       Errichtung von Redouten auf dem Sapun und dem Mamelon eine unaus-
       löschliche Schande  sowohl für  die Engländer als für die Franzo-
       sen. Und  doch scheint  es, daß  Sewastopol die  Kräfte  Rußlands
       nicht so  sehr erschöpft hat wie die der Alliierten, denn es hin-
       derte die Russen nicht daran, Kars zu nehmen.
       Diese Einnahme von Kars war in der Tat das Beschämendste, was den
       Alliierten zustoßen  konnte. Mit  der enormen  Seemacht die ihnen
       zur Verfügung  stand, und mit einer den Rüssen im Felde seit Juni
       1855 überlegenen Truppenstärke, haben sie niemals den schwächsten
       Punkt Rußlands,  die transkaukasischen Provinzen angegriffen. Ja,
       sie erlaubten  sogar den Russen, in jenem Gebiet eine unabhängige
       Operationsbasis zu  organisieren, eine Art von Statthalterschaft,
       die in der Lage ist, einem Angriff von überlegenen Kräften einige
       Zeit standzuhalten,  wenn auch die Kommunikationen zum Mutterland
       unterbunden sein  mochten. Nicht  zufrieden damit,  nicht gewarnt
       durch die  ununterbrochenen Niederlagen, die die asiatisch-türki-
       sche Armee  in den Jahren 1853 und 1854 erlitten hatte, hinderten
       sie die  türkische Armee  Omer Paschas daran, etwas Sinnvolles in
       Asien zu  tun, indem sie sie auf der Krim festhielten und ihr auf
       der Krim nichts weiter zu tun gaben, als für ihre Alliierten Holz
       zu schlagen  und Wasser zu Schöpfen. Nachdem also die ganze Küste
       von der  Straße von  Kertsch bis  nach Batum sorgfältig von allen
       russischen Siedlungen  geräumt und  dadurch eine  Linie  gewonnen
       war, auf der man zehn oder fünfzehn Punkte als Hauptbasen für be-
       liebige Operationen gegen Kaukasien oder Transkaukasien aussuchen
       konnte - den schwächsten Teil Rußlands, wie wir schon oft gezeigt
       haben -, wurde nichts unternommen,
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       1*) Todtleben
       
       #587# Der europäische Krieg
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       bis schließlich  Kars hart  bedrängt wurde und man zuließ, da die
       Armee bei  Erzerum zu  nichts zu  gebrauchen war, daß Omer Pascha
       seine unglückliche Expedition nach Mingrelien unternahm - aber es
       war schon zu spät, um irgend etwas zu nützen.
       Diese Halsstarrigkeit,  die Wucht des Krieges auf einer Halbinsel
       von etwa  der Größe Long Islands zu konzentrieren, hat gewiß dazu
       gedient, alle unangenehmen Fragen auszuschalten. Keine Nationali-
       täten, kein Panslawismus, keine Schwierigkeiten mit Mitteleuropa,
       keine Notwendigkeiten,  Eroberungen zu  machen, keine großen ent-
       scheidenden Ergebnisse,  welche spätere Verhandlungen erschweren,
       weil sie  die Notwendigkeit  mit sich bringen, einer der Parteien
       wirkliche Opfer  aufzuerlegen, sind in Erscheinung getreten. Aber
       für die  in der  eigentlichen Kampagne stehenden Soldaten ist das
       weniger angenehm. Für sie, wenigstens vom Obersergeanten abwärts,
       ist der  Krieg eine  harte und unerbittliche Tatsache. Solange es
       Kriege gibt,  ist noch  nie so großartige Tapferkeit für so unzu-
       längliche Ergebnisse vergeudet worden wie in dieser Krimkampagne.
       Noch nie  hat man  derartige Mengen  von  erstklassigen  Soldaten
       geopfert und  noch dazu  in so  kurzer Zeit, um derartig zweifel-
       hafte Erfolge  herbeizuführen. Es  ist klar,  daß man  den Armeen
       solche Leiden  nicht wieder  zumuten kann.  Es müssen greifbarere
       Resultate erreicht  werden als  leerer "Ruhm". Man kann nicht mit
       einem Aufwand von zwei großen Schlachten und vier oder fünf Gene-
       ralstürmen pro  Jahr weiterkämpfen  und doch  immer auf derselben
       Stelle bleiben.  Das hält  auf die  Dauer keine  Armee aus. Keine
       Flotte wird  eine dritte Kampagne aushalten, die ebenso resultat-
       los ist  wie die  beiden vorhergehenden in der Ostsee und auf dem
       Schwarzen Meer. Falls der Krieg fortgeführt wird, werden wir also
       hören, daß  der Einfall  in Finnland, Estland und Bessarabien be-
       vorsteht; man  verspricht uns schwedische Hilfstruppen und öster-
       reichische Demonstrationen.  Aber gleichzeitig  erfahren wir, daß
       Rußland die österreichischen Vorschläge als Verhandlungsgrundlage
       angenommen hat [298], und wenn dies auch weit davon entfernt ist,
       die Frage  des Friedens  zu klären,  so gibt es doch die Möglich-
       keit, dieses Ziel zu erreichen.
       Es besteht  also Aussicht,  daß keine  neue Kampagne stattfindet;
       aber wenn  es doch  dazu kommt,  so dürfen  wir annehmen, daß sie
       viel ausgedehnter  Und ergebnisreicher  sein muß als die vorange-
       gangenen.
       Geschrieben um den 18. Januar 1856.
       
       Aus dem Englischen.

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