Quelle: MEW 12 April 1856 - Januar 1859


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       #579#
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       Karl Marx
       
       Mazzinis neues Manifest
       
       ["New-York Daily Tribune" Nr. 5453 vom 13. Oktober 1858]
       London, 21.  September 1858  Nachdem die  genuesische "Dio  e Po-
       polo", die letzte auf italienischem Boden herausgegebene republi-
       kanische Zeitung,  der unaufhörlichen Verfolgung durch die sardi-
       nische Regierung  schließlich erlegen  ist, bringt  Mazzini,  den
       nichts entmutigen kann, in London eine italienische Zeitung unter
       dem Titel  "Pensiero ed  Azione" [411] heraus, die zweimal monat-
       lich erscheinen soll.
       Aus der  letzten Nummer  dieses Organs  übersetzen  wir  Mazzinis
       neues Manifest.  Wir betrachten es als ein historisches Dokument,
       das dem  Leser die  Möglichkeit gibt, sich selbst ein Urteil über
       die Lebenskraft und die Perspektiven des Teils der revolutionären
       Emigration zu  bilden, der  sich unter  dem Banner  der römischen
       Triumvirn [346]  gesammelt hat. Anstatt die großen sozialen Ursa-
       chen für  das Scheitern  der Revolution  von 1848/49 eingehend zu
       erforschen und sich zu bemühen, die realen Verhältnisse zu analy-
       sieren, die  unauffällig in  den letzten zehn Jahren herangereift
       sind und  in ihrer  Gesamtheit den Boden für eine neue und macht-
       vollere Bewegung  vorbereitet haben,  verfällt Mazzini,  wie  uns
       scheint, wieder  in seine  veralteten Grillen  zurück und  stellt
       sich ein  imaginäres Problem, das natürlich nur zu einer trügeri-
       schen Lösung  führen kann. Für ihn bleibt weiterhin die allumfas-
       sende Frage,  warum die  Emigranten in ihrer Gesamtheit mit ihren
       Versuchen, die Welt zu erneuern, gescheitert sind; noch immer be-
       schäftigt er sich damit, Geheimmittel für die Heilung ihrer poli-
       tischen Lähmung zu offerieren. Er sagt:
       
       "Im Jahre  1852 erklärte ich in einem an die europäische Demokra-
       tie gerichteten  Memorandum: was müßte heute die Losung, der Sam-
       melruf der  Partei sein? Die Antwort ist sehr einfach. Sie ist in
       dem einen Wort  A k t i o n  enthalten, aber geeinte,
       
       #580# Karl Marx
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       europäische, unaufhörliche,  konsequente, kühne Aktion. Ihr könnt
       die Freiheit  nur erlangen, wenn ihr euch zum Freiheitsbewußtsein
       durchringt, und dieses Bewußtsein könnt ihr euch nur durch Aktion
       erkämpfen. Euer Schicksal liegt in euren eigenen Händen. Die Welt
       wartet auf euch. Die  I n i t i a t i v e  ist überall da, wo ein
       Volk im  Begriff ist, sich zu erheben, wo es bereit ist, zu kämp-
       fen und, wenn es sein muß, auch für die Rettung aller zu sterben,
       und auf seihe Banner die Zeichen schreibt: Gott, Volk, Gerechtig-
       keit, Wahrheit,  Tugend. Erhebt  euch für  alle, und  alle werden
       euch folgen. Es ist notwendig, daß sich die ganze Partei läutert.
       Jeder möge  die Lösung  dort eifrig  suchen, wo  er glaubt, einen
       Hoffnungsstrahl erhascht  zu haben.  Doch möge er nicht nur seine
       eigene Sache  verteidigen, möge  er die  große Armee  der Zukunft
       nicht verlassen  ... Wir  sind nicht die Demokratie, wir sind nur
       ihre Avantgarde.  Wir haben ihr nur den Weg zu bahnen. Alles, was
       wir brauchen,  ist Einheit des Planes, Gemeinsamkeit der Anstren-
       gungen... Seit diesem Appell sind sechs Jahre verflossen, und die
       Frage bleibt  unverändert. Die Kräfte der Partei sind zahlenmäßig
       gewachsen, aber  die Einheit  der Partei ist noch nicht erreicht.
       Einige kleine  organisierte Gruppen  beweisen  durch  ihre  uner-
       schöpfliche Lebenskraft  und den  Schrecken, mit dem sie das Herz
       des Feindes erfüllen, die Macht der Einheit; aber die große Masse
       der Partei ist noch immer unorganisiert, isoliert und infolgedes-
       sen inaktiv  und ohnmächtig.  Kleine Gruppen  der Sache ergebener
       Menschen, welche die schmachvolle Inaktivität nicht ertragen kön-
       nen, kämpfen  hier und  da als  tirailleurs 1*) an allen Frontab-
       schnitten, jeder  auf eigene Faust, für seine eigene Heimat, ohne
       Verständnis für  das gemeinsame Ziel; zu schwach, um an einem ge-
       gebenen Punkte  zu siegen;  sie erheben  Protest und gehen in den
       Tod. Die Masse der Armee kann ihnen nicht zu Hilfe eilen, sie hat
       weder einen  Plan, noch  die Mittel,  noch die  Führer... Es  gab
       einen Augenblick,  da das  Bündnis der Regierungen auseinanderge-
       fallen war. Der Krimkrieg bot den unterdrückten Völkern eine gün-
       stige Gelegenheit,  die sie blitzschnell hätten ergreifen müssen;
       aber da  es ihnen an Organisation mangelte, ließen sie diese Mög-
       lichkeit vorübergehen. Wir haben gesehen, wie echte Revolutionäre
       die Befreiung  ihrer Länder mit den vermessenen Plänen eines Man-
       nes verbanden, dessen Eingreifen in nationale Angelegenheiten und
       dessen Appell  zum Aufstand sicheren Untergang bedeutete. Wir ha-
       ben gesehen, wie Polen, Sobieski und die historische Mission ver-
       gessend, die ihre Nation im christlichen Europa erfüllt hat, sich
       in die  Dienste der Türkei begaben und dort die Rolle von Kosaken
       spielten. Da  waren Völker  wie die  Rumänen, die die Vorstellung
       hatten, daß  sie mit  Hilfe der  Diplomatie ihre Einheit erringen
       könnten, als  ob jemals  in der Weltgeschichte eine Nation anders
       entstanden ist  als durch den Kampf ihrer Söhne. Andere, wie z.B.
       die Italiener,  waren entschlossen,  zu Warten, bis Österreich in
       den Kampf einbezogen sein wird, als ob Österreich eine andere Po-
       sition einnehmen  würde, als die der bewaffneten Neutralität. Nur
       Griechenland stürzte  sich in  den Kampf; doch es erkannte nicht,
       daß, solange  ein Bündnis der Regierungen besteht, keine griechi-
       sche nationale Bewegung möglich ist, es sei denn, eine Revolution
       ereignet sich, die diese Kräfte zersplittert, und ein Bündnis des
       hellenischen Elements
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       1*) Plänkler
       
       #581# Mazzinis neues Manifest
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       mit dem  slawo-rumänischen kommt zustande, um die Erhebung zu le-
       gitimieren. Der  von mir beklagte Mangel an Organisation und Pla-
       nung war niemals deutlicher sichtbar geworden. Daher die tödliche
       Entmutigung, die  zuweilen unsere  Reihen erfaßt...  Was kann ein
       einzelner, allein,  isoliert, fast oder ganz ohne Mittel, zur Lö-
       sung eines  Problems tun,  das ganz  Europa betrifft? Vereinigung
       allein kann  es bezwingen... 1848 erhoben wir uns an zehn Stellen
       im Namen all dessen, was groß und heilig ist. Freiheit, Solidari-
       tät, Volk,  Zusammenschluß, Vaterland, Europa, alles gehörte uns.
       Späterhin ließen  wir, betrogen,  verzaubert -  ich  weiß  nicht,
       durch welche  erbärmliche und  sträfliche Täuschung  - es zu, daß
       die Bewegungen  lokalen Charakter annahmen... Wir, die wir Louis-
       Philippe gestürzt hatten, wiederholten die schändliche Redensart,
       die sein  Regime resümiert: Chacun pour soi, chacun chez soi. 1*)
       Auf diese  Weise kamen wir zu Fall. Haben wir aus dieser bitteren
       Erfahrung  nichts   gelernt?  Haben  wir  bis  jetzt  noch  nicht
       begriffen, daß  unsere Kraft  in der  Vereinigung, und nur in der
       Vereinigung liegt?
       Der Mensch  besteht aus  Denken und Handeln. Denken, das nicht in
       Taten zum  Ausdruck kommt,  ist nur  der Schatten eines Menschen;
       Handeln, das  nicht durch  Denken gelenkt  und sanktioniert wird,
       ist nur  der galvanisierte  Leichnam eines Menschen - ist Gestalt
       ohne Seele.  Gott ist  Gott, weil  er die  absolute Identität von
       Denken und  Handeln ist.  Der Mensch  ist nur unter der Bedingung
       Mensch, daß er sich unaufhörlich so weit wie möglich diesem Ideal
       nähert... Wir können nicht siegen, wenn wir unsere Partei in Den-
       kende und Handelnde, in Menschen des Geistes und Menschen der Ak-
       tion spalten,  wenn wir ich weiß nicht was für eine Art von unmo-
       ralischer und widersinniger Trennung zwischen Theorie und Praxis,
       zwischen individueller und kollektiver Pflicht, zwischen Schrift-
       steller und  Verschwörer oder Kämpfer zulassen... Wir alle predi-
       gen Zusammenschluß  als das Losungswort der Epoche, deren Vorläu-
       fer wir  sind; doch  wie viele  von uns vereinigen sich mit ihren
       Brüdern, um mit ihnen gemeinsam zu wirken? Wir alle haben auf un-
       seren Lippen  die Worte   T o l e r a n z,   L i e b e,  F r e i-
       h e i t,   und doch  trennen wir  uns von unseren Gefährten, wenn
       ihre Ansichten  in dieser oder jener bestimmten Frage von unseren
       eigenen abweichen.  Wir spenden jenen begeistert Beifall, die ihr
       Leben opfern,  um uns  den Weg  zur Aktion  zu bahnen;  doch  wir
       folgen nicht  ihren Spuren.  Wir haben  etwas daran  auszusetzen,
       wenn übereilte  Versuche in  kleinem Umfang  unternommen  werden;
       doch wir tun nichts, sie in großem und machtvollem Ausmaß zu ver-
       wirklichen. Wir  alle bedauern  das Fehlen materieller Mittel für
       die Partei; doch wie viele von uns steuern regelmäßig ihr Scherf-
       lein bei für die gemeinsame Kasse? Wir erklären unsere Mißerfolge
       mit der  mächtigen Organisation  des Feindes; aber wie wenige ar-
       beiten daran, unsere Partei durch eine generelle einheitliche Or-
       ganisation  allmächtig  zu  machen,  welche,  die  Gegenwart  be-
       herrschend, die Zukunft widerspiegeln würde?... Gibt es denn kein
       Mittel, die  Partei aus dem gegenwärtigen kläglichen, zerrütteten
       Zustand herauszuführen?  Wir alle glauben, daß Denken heilig ist,
       daß seine Offenbarungen frei und unverletzlich sein
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       1*) Jeder für sich, jeder bei sich (zu Hause).
       
       #582# Karl Marx
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       sollten; daß  die soziale  Organisation der Gesellschaft schlecht
       ist, wenn  sie infolge äußerster materieller Ungleichheit den Ar-
       beitsmann dazu  verdammt, Teil einer Maschine zu sein und ihn des
       geistigen Lebens  beraubt. Wir glauben, daß das Leben des einzel-
       nen Menschen  geheiligt ist. Wir glauben, daß die Vereinigung der
       Menschen ebenso  geheiligt ist, daß sie der Kampfruf ist, der die
       besondere Mission  unserer Epoche ausdrückt. Wir glauben, daß der
       Staat sich nicht gegen sie stemmen, sondern sie ermutigen sollte.
       Wir sehen  mit Begeisterung  einer Zukunft  entgegen, in  der die
       allgemeine Vereinigung  der Produzenten  die Beteiligung  an  die
       Stelle der  Arbeitslöhne setzen wird. Wir glauben, daß die Arbeit
       eine heilige  Sache ist,  und halten jede Gesellschaft für schul-
       dig, in  der ein  Mensch, der  von seiner  Arbeit leben  will, es
       nicht kann.  Wir glauben  an die Nationalität, wir glauben an die
       Menschheit... Unter  Menschheit  verstehen  wir  die  Vereinigung
       freier und  gleicher Nationen  auf der zwiefachen Grundlage-Selb-
       ständigkeit ihrer  inneren Entwicklung  und Brüderlichkeit in der
       Regelung des  internationalen Lebens  und des  allgemeinen  Fort-
       schritts. Damit die Nationen und die Menschheit, wie wir sie ver-
       stehen, existieren können, glauben wir, daß die Landkarte Europas
       erneuert werden muß; wir glauben, daß eine neue territoriale Auf-
       teilung notwendig  ist, die die durch den Wiener Vertrag willkür-
       lich vorgenommene  Aufteilung aushebt und sich auf Verwandtschaft
       von Sprache,  Tradition und  Religion und  auf den geographischen
       und politischen  Verhältnissen jedes Landes begründet. Nun, denkt
       nicht, daß  diese gemeinsamen  Bekenntnisse für  eine brüderliche
       Organisation ausreichen?  Ich heiße euch nicht, sich einer einzi-
       gen Doktrin,  einer einzigen  Überzeugung unterzuordnen. Ich sage
       nur: laßt  uns gemeinsam  kämpfen gegen die Verneinung jeder Dok-
       trin; laßt uns vereint einen zweiten Marathon-Sieg über das Prin-
       zip der orientalischen Unbeweglichkeit erringen, die heute Europa
       erneut zu  erobern droht.  Alle Menschen, zu welcher republikani-
       schen Fraktion  sie auch  gehören; wenn  sie nur die von mir eben
       aufgeführten Gesinnungen gutheißen, sollten eine europäische Par-
       tei der  Aktion bilden,  in der Frankreich, Italien, Deutschland,
       die Schweiz,  Polen, Griechenland, Ungarn, Rumänien und die ande-
       ren unterdrückten  Nationen ebenso viele Sektionen bilden müßten;
       jede nationale Sektion sollte sich selbständig, mit einem eigenen
       Fonds konstituieren;  ein Zentralkomitee  mit einem  Zentralfonds
       sollte von den Delegierten der nationalen Sektionen gebildet wer-
       den usw.
       Ist die  Einheit der Partei einmal errungen, so löst sich das eu-
       ropäische Problem  in die Frage auf: wo beginnen? In Revolutionen
       wie im  Krieg hängt der Sieg von der schnellen Konzentrierung der
       größtmöglichen Zahl  von Streitkräften  an einem gegebenen Punkte
       ab. Erstrebt  die Partei  eine siegreiche  Revolution, so muß sie
       auf der  Landkarte Europas  diesen  Punkt  auswählen,  wo  es  am
       leichtesten und günstigsten ist, die Initiative zu ergreifen, und
       alle Kräfte,  über die jede Sektion verfügen mag, dort einsetzen.
       Rom und  Paris sind  die beiden  strategischen Punkte, wo die ge-
       meinsame Aktion  beginnen muß. Frankreich, das durch seine macht-
       volle Einheit, durch die Erinnerung an seine große Revolution und
       an die  napoleonischen Armeen,  durch den Einfluß, den jede Bewe-
       gung in  Paris auf  den Geist  Europas ausübt, ist noch immer das
       Land, dessen  Initiative mit  der größten  Gewißheit alle anderen
       unterdrückten Völker
       
       #583# Mazzinis neues Manifest
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       entflammen würde, obwohl jede wahrhaft revolutionäre Erhebung von
       seiner Seite  unfehlbar alle  Kräfte der  Regierungen Europas auf
       den Plan  rufen würde.  Abgesehen von  dieser einen  Ausnahme ist
       heute Italien  das Land,  das deutlich alle Merkmale für eine In-
       itiative in  sich vereint.  Über die Gemeinsamkeit der Ansichten,
       die es  vorwärtsdrängen, braucht  nichts gesagt  zu werden; schon
       seit zehn  Jahren hat  es dort, gänzlich ungewöhnlich für Europa,
       eine Reihe  hervorragender Protestaktionen gegeben. Die Sache der
       italienischen Nation  ist identisch mit der Sache aller Nationen,
       die durch die in Wien vorgenommene Aufteilung zertreten oder zer-
       stückelt worden  sind. Der  italienische Aufstand  würde, wenn er
       seinen Schlag gegen Österreich richtet, sofort den slawischen und
       rumänischen Kräften,  die im Herzen des Reiches ihr Joch abschüt-
       teln wollen, die Gelegenheit zur Aktion bieten. Die italienischen
       Truppen, die  über alle jene Teile des Reiches verstreut sind, wo
       die größte  Unzufriedenheit herrscht, würden diese Bewegungen un-
       terstützen.  Zwanzigtausend   Ungarn,  als  Soldaten  der  öster-
       reichischen Armee  in Italien,  würden sich um das Banner unseres
       Aufstandes scharen.  Darum ist  es unmöglich für die italienische
       Bewegung, daß sie. nur auf Italien beschränkt bleibt. Die geogra-
       phische Lage  Italiens und  eine Bevölkerung  von  fünfundzwanzig
       Millionen würden  der Aufstandsbewegung  die genügende  Dauer si-
       chern, um es den anderen Nationen zu ermöglichen, davon zu profi-
       tieren. Für  Österreich und  Frankreich, Frankreich  und  England
       gibt es in Italien keine solche übereinstimmenden Interessen, die
       allein eine  Einheit ihrer  Politik herstellen  könnten. Der Auf-
       stand in  Italien, der ohne den Sturz des Papsttums nicht möglich
       ist, würde  das Problem der Gewissensfreiheit in Europa lösen und
       die Sympathie all derer finden, denen diese Freiheit teuer ist."
       
       Aus dem Englischen.

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