Quelle: MEW 12 April 1856 - Januar 1859


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       Karl Marx
       
       Das neue Ministerium
       
       ["New-York Daily Tribune" Nr. 5492 vom 27. November 1858]
       Berlin, 9. November 1858
       "Und so  bringt das Dreherchen der Zeit seine gerechte Vergeltung
       herbei." [439]  Herr von  Auerswald, der  Vizepräsident des neuen
       Kabinetts, war,  wie ich  schon in einem früheren Artikel 1*) ge-
       sagt habe,  das nominelle Haupt des ersten regulären Ministeriums
       der Revolutionsepoche.  Seinerzeit wurde  seine Ernennung  ebenso
       als ein  Symptom der  Reaktion angesehen, wie man jetzt, nach Ab-
       lauf von  zehn Jahren, in ihr ein Symptom des Fortschritts sieht.
       Er war  der Nachfolger  des Getreidehändlers  Camphausen, den der
       revolutionäre Sturm aus seinem Kontor in Köln nach Berlin auf die
       Stufen des preußischen Throns geworfen hatte. Das Ministerium Au-
       erswald bestand  von Ende  Juni bis zum 7. September 18481. Unab-
       hängig davon,  was er  tun oder  nicht tun  konnte, hatte im Juni
       1848 allein  sein Name  an der Spitze der Kabinettsliste eine be-
       sondere Bedeutung. Sein Vorgänger Camphausen ist aus Rheinpreußen
       gebürtig. Auerswald  aus Ostpreußen;  jener  ist  Privatkaufmann,
       dieser Staatsbeamter,  jener ist  ein Bourgeois, dieser ein Adli-
       ger; jener  ist reich, dieser arm. So war es klar, daß schon Ende
       Juni 1848,  nur drei  Monate nach  den Märztagen, sich das Pendel
       der preußischen  Revolution von  Westen nach Osten bewegt hatte -
       von der  Nachbarschaft mit  Frankreich zur Nachbarschaft mit Ruß-
       land, von den gewöhnlichen Sterblichen zu den Mandarinen, von der
       Bourgeoisie zum  Adel, vom  Geldbeutel zu  Rang und Würden. Außer
       dieser Bedeutung,  die Auerswalds  Name hatte, kann man nicht sa-
       gen, daß  er während  der drei Monate, in denen sein Kabinett be-
       stand, irgend  etwas Bedeutendes  geleistet hat.  Wenn Sie  einen
       Preußen nach dem Charakter des damaligen Kabinetts Auerswald fra-
       gen, wird  er sicherlich  seinen Zeigefinger  an die Stirn legen,
       sie mit ernster Miene reiben,
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       1*) Siehe vorl. Band, S. 632
       
       #637# Das neue Ministerium
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       ganz in  der Art  des Hudibras  [440], und endlich, wie aus einem
       Dämmerzustand erwachend,  ausrufen: "Ach, Sie meinen das Kabinett
       Hansemann!" Tatsächlich war die Seele des Kabinetts Auerswald der
       Finanzminister Hansemann,  den er  aus  dem  Kabinett  Camphausen
       übernommen hatte.  So müssen wir also, um Auerswald als Minister-
       präsidenten zu charakterisieren, über Hansemann sprechen. Dieser,
       ein Aachener Kaufmann, hat 1847 im Vereinigten Landtag sein poli-
       tisches Glaubensbekenntnis  in der  später berühmt gewordenen Re-
       plik an die Adresse des preußischen Königtums zusammengefaßt: "In
       Geldsachen hört die Gemütlichkeit auf." 1*) Dieser Ausspruch war,
       wenn es  erlaubt ist, parva componere magnis 2*), unter den dama-
       ligen Umständen  ein Gegenstück  zu Sieyès' berühmten Worten: "Le
       tiers état  est tout." [441] Unter Friedrich Wilhelm III., als es
       niemand außer  den lizenzierten Dienern der preußischen Universi-
       täten wagte, über Politik zu schreiben, veröffentlichte Hansemann
       ein Buch,  das Preußen  mit Frankreich  verglich [442]  und stark
       nach der  Seite des letzteren tendierte, aber so geschickt und in
       einem so  gemäßigten Ton, daß es sogar der preußischen Zensur un-
       möglich war,  seine beleidigende  Gegenüberstellung zu unterdrüc-
       ken. In  jenen Tagen,  da in  Deutschland eine Aktiengesellschaft
       noch eine  rara avis 3*) war, hatte er den Ehrgeiz, ein deutscher
       Hudson 4*)  zu werden und zeigte sich als vollkommener Experte in
       jener Börsenjobberei,  die heute  in allen  zivilisierten Ländern
       blüht und  vom Crédit mobilier [32] sogar zum System erhoben wor-
       den ist.  In jenen Tagen, da das altmodische Deutschland noch der
       Meinung war,  ein Bankrott  schände eines Mannes ehrlichen Namen,
       versuchte Hansemann  nachzuweisen, die Aufeinanderfolge der Bank-
       rotte im  Handel sei fast ebenso produktiv wie die Fruchtfolge in
       der Landwirtschaft.  Die Amtstätigkeit  dieses Mannes, der Auers-
       wald seinen  Namen lieh,  ging von  der falschen Vorstellung aus,
       daß die paar Wochen Revolution die Pfeiler des alten Staates hin-
       reichend erschüttert,  Dynastie, Aristokratie und Bürokratie hin-
       reichend gedemütigt,  das politische  Übergewicht der Bourgeoisie
       für immer  gesichert hätten,  daß jetzt nur noch übrigbliebe, die
       unaufhörlich anrollenden Wogen der Revolution zu brechen. Das Mi-
       nisterium erwies sich als ein so erfolgreicher Wellenbrecher, daß
       es drei  Monate nach seiner Ernennung selber gebrochen wurde, daß
       diese liberalen  Speichellecker selber  von den hinter ihnen ste-
       henden Höflingen,  für die  sie bloß  die Kastanien aus dem Feuer
       geholt hatten,  in völlig unzeremonieller Weise beiseite geworfen
       wurden. Auerswald  und Hansemann  standen in  der traurigen Rolle
       betrogener Betrüger da. Überdies befand sich
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       1*) Dieser Ausspruch in der "New-York Daily Tribune" englisch und
       deutsch -  2*) Kleines mit Großem zu vergleichen - 3*) Seltenheit
       - 4*) siehe vorl. Band, S. 198
       
       #638# Karl Marx
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       Auerswald in  der keineswegs  beneidenswerten Lage  eines Mannes,
       der für  die preußische  Außenpolitik verantwortlich war; denn er
       vereinigte in  seiner Person  das Amt des Ministerpräsidenten und
       das des  Ministers für Auswärtiges. Wenn zumindest die Innenpoli-
       tik des  Ministeriums von  den offenkundigen Interessen der ange-
       sichts des Fortschreitens der Revolution erschreckten Bourgeoisie
       diktiert war,  so wurde  die Außenpolitik  ausschließlich von der
       Kamarilla gelenkt,  in deren Händen Auerswald ein bloßes Werkzeug
       war. Im  Juni 1850  wurde er zum Oberpräsidenten der Rheinprovinz
       ernannt, aber  sehr bald  von Herrn von Westphalen aus diesem Amt
       entlassen, der  die preußische  Bürokratie mit derselben Kaltblü-
       tigkeit von  Liberalen bereinigte, mit der ein schottischer Adli-
       ger seine Güter von Menschen bereinigt. Als Mitglied des Abgeord-
       netenhauses 1*)  begnügte sich Auerswald mit einer derart verwäs-
       serten Opposition, daß sie nur von dem Auge eines politischen Ho-
       möopathen bemerkt  werden konnte. Auerswald ist einer der aristo-
       kratischen Vertreter  des ostpreußischen  Liberalismus. Die  Ele-
       mente dieses  Liberalismus sind:  die Erinnerungen  an die Kriege
       gegen Napoleon  und die damaligen Hoffnungen der gebildeteren Pa-
       trioten; einige allgemeine Ideen, die Königsberg, als das Zentrum
       der Kantschen  Philosophie, fast  als sein  lokales Eigentum  be-
       trachtet; die  Interessengemeinschaft der adligen Kornproduzenten
       mit den  Bewohnern der  Küstenstädte,  die  das  Korn  ausführen;
       Freihandelsdoktrinen verschiedener  Art, denn die Provinz Preußen
       ist kein  Industriegebiet, sondern lebt hauptsächlich vom Verkauf
       ihrer  landwirtschaftlichen   Produkte  nach  England.  Herr  von
       Schleinitz, der  Minister des  Äußeren, hatte  schon einmal,  und
       zwar 1849,  das gleiche  Amt inne  und hatte  sich während seiner
       kurzen Amtszeit  eng mit der Gothaer Partei [443] verbunden, die,
       wäre sie  erfolgreich, Deutschland in zwei Teile teilen würde, in
       einen nördlichen,  der sich  mit Preußen, und in einen südlichen,
       der sich  mit Österreich  vereinigen würde.  Tatsächlich ist  das
       Verschlucken  Deutschlands   durch  diese  beiden  großen  gegen-
       sätzlichen Monarchien  das offen  bekannte Ziel  der Gothaer. Ge-
       länge es  ihnen, zwei  Deutschlands zu  schaffen, würde  ein töd-
       licher Konflikt entstehen, stünde ein neuer Dreißigjähriger Krieg
       bevor, und  der Zweikampf  zwischen den  beiden sich  befehdenden
       Deutschlands würde  schließlich beendet werden, indem Rußland das
       eine und Frankreich das andere Deutschland einstecken würde.
       Herrn von  Bonin, den  Kriegsminister, habe ich bereits in meinem
       vorigen Artikel erwähnt. 2*) Hier füge ich nur hinzu, daß er sich
       während seines Kommandos
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       1*) Abgeordnetenhauses: in  der "New-York Daily Tribune" englisch
       und deutsch - 2*) siehe vorl. Band, S. 631
       
       #639# Das neue Ministerium
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       im Krieg um Schleswig-Holstein [444] nicht so sehr durch die Ver-
       folgung der Dänen ausgezeichnet hat, als durch die der demokrati-
       schen Freiwilligen,  die unter der deutschen Fahne kämpften. Die-
       ser Krieg  war, wie  jedermann weiß, eine der blutigen Farcen der
       modernen Diplomatie. Herr von Patow, der Finanzminister, war Mit-
       glied des Kabinetts Camphausen. Im Abgeordnetenhaus haben ihn vor
       einigen Jahren die Krautjunker 1*) als Revolutionär gebrandmarkt.
       Irgendeine persönliche  Beleidigung kam  hinzu, und es folgte ein
       Duell mit  dem Grafen  Pfeil, das  ihn eine Zeitlang zum Liebling
       des Berliner  Publikums machte.  Patow könnte Mitglied der Liver-
       pooler Vereinigung  für Finanzreform  sein. Von Graf Pückler, dem
       Minister für  Landwirtschaft, läßt  sich nur  sagen, daß  er  ein
       Neffe des blasierten Autors der "Briefe eines Verstorbenen" [445]
       ist. Bethmann-Hollweg  war früher Kurator der Bonner Universität;
       diese Kuratoren  sind in  Wirklichkeit die  Großinquisitoren, mit
       denen die  preußische Regierung  die offiziellen Zentren der Wis-
       senschaft plagt.  Unter Friedrich  Wilhelm III. befaßten sie sich
       mit Demagogenriecherei,  unter Friedrich  Wilhelm IV. mit Ketzer-
       verfolgung. Bethmann widmete sich dem letzteren Geschäft. Vor der
       Revolution gehörte  er faktisch zur Kamarilla des Königs und ent-
       fernte sich  von ihr nur, als sie "zu weit" ging. Simons, der Ju-
       stizminister, und  von der  Heydt, der  Handelminister, sind  die
       einzigen Mitglieder  des Kabinetts Manteufel, die den Sturz ihres
       Chefs überlebt  haben. Beide  stammen aus  Rheinpreußen, aber aus
       dem protestantischen  Teil, der  auf dem rechten Rheinufer liegt.
       Da nach dem Plan einige gebürtige Rheinpreußen, jedoch unter Aus-
       schluß der rheinischen Liberalen, dem Kabinett angehören sollten,
       wurden die beiden Männer übernommen. Simons kann sich rühmen, die
       Gerichte auf  eine niedrigere Stufe heruntergewirtschaftet zu ha-
       ben, als jene, die in den schlimmsten Zeiten der preußischen Mon-
       archie jemals  erreicht worden  war. Von  der Heydt,  ein reicher
       Kaufmann aus  Elberfeld, hatte  1847 vom  König  gesagt:  "Dieser
       Mensch hat  uns so  oft belogen,  daß wir ihm nicht länger trauen
       können." 2*) Im Dezember 1848 trat er in das coup d'état-Ministe-
       rium ein. Gegenwärtig ist er der einzige preußische Minister, den
       man verdächtigt,  seine offizielle  Stellung zu  seinem  privaten
       Vorteil auszunutzen.  Ganz allgemein  ist das Gerücht verbreitet,
       daß er Staatsgeheimnisse gern den Handelsgeschäften der Elberfel-
       der Firma Heydt & Co. dienstbar macht.
       
       Aus dem Englischen.
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       1*) Krautjunker: in  der "New-York  Daily Tribune"  deutsch - 2*)
       dieser Ausspruch  in der  "New-York Daily  Tribune" englisch  und
       deutsch

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