Quelle: MEW 13 Januar 1859 - Februar 1860
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FRIEDRICH ENGELS
Po und Rhein [103]
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Geschrieben Ende Februar/Anfang März 1859.
Erschien 1859 als anonyme Broschüre bei Franz Duncker, Berlin.
Der vorliegende Abdruck fußt auf dieser Ausgabe. Die Korrektur
sinnverändernder Druckfehler wird in Fußnoten vermerkt.
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I
Seit Anfang dieses Jahres ist es zum Stichwort eines großen Teils
der deutschen Presse geworden, daß d e r R h e i n a m P o
v e r t e i d i g t w e r d e n m u ß.
Dies Stichwort hatte seine volle Berechtigung gegenüber den bona-
partischen Rüstungen und Drohungen. Mit richtigem Instinkt wurde
es in Deutschland herausgefühlt, daß, wenn der Po für Louis-
Napoleon der Vorwand war, der Rhein unter allen Umständen sein
Endziel sein mußte. Nur ein Krieg um die Rheingrenze kann
möglicherweise den Blitzableiter abgeben gegen die beiden den
Bonapartismus im Innern Frankreichs bedrohenden Elemente: die
"patriotische Überkraft" [104] der revolutionären Massen und das
gärende Mißbehagen der "Bourgeoisie". Den einen gäbe es nationale
Beschäftigung, den andern die Aussicht auf einen neuen Markt. Das
Gerede von der Befreiung Italiens konnte daher in Deutschland
nicht mißverstanden werden. Es war der Fall des alten
Sprichworts: Man schlägt den Sack und meint den Esel. Fand
Italien sich veranlaßt, den Sack vorzustellen, so hatte doch
Deutschland diesmal keine Lust, den Esel abzugeben.
Die Behauptung des Po hatte also im vorliegenden Fall einfach die
Bedeutung: daß Deutschland, mit einem Angriff bedroht, bei dem es
sich in letzter Instanz um den Besitz einiger seiner besten Pro-
vinzen handelte, in keiner Weise daran denken konnte, eine seiner
stärksten, ja geradezu seine stärkste militärische Position ohne
Schwertstreich aufzugeben. In diesem Sinn war allerdings ganz
Deutschland bei der Verteidigung des Po interessiert. Am Vorabend
eines Kriegs wie im Kriege selbst besetzt man jede benutzbare
Stellung, von der aus man den Feind bedrohen und ihm schaden
kann, ohne moralische Reflexionen darüber anzustellen, ob dies
mit der ewigen Gerechtigkeit und dem Nationalitätsprinzip verein-
bar ist. Man wehrt sich eben seiner Haut.
Diese Art, den Rhein am Po zu verteidigen, ist aber sehr zu un-
terscheiden von der Tendenz sehr vieler deutscher Militärs und
Politiker, den Po, d. h. die Lombardei und Venedig, für ein un-
entbehrliches strategisches
#228# Friedrich Engels
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Komplement und sozusagen für einen integrierenden Teil Deutsch-
lands zu erklären. Diese Ansicht ist besonders seit den Feldzügen
in Italien 1848 und 1849 aufgestellt und theoretisch verteidigt
worden; so vom General von Radowitz in der Paulskirche [105], vom
General von Willisen in seinem "Italienischen Feldzug des Jahres
1848". Im außeröstreichischen Süddeutschland hat besonders der
bayerische General von Hailbronner mit einer gewissen an Be-
geistrung streifenden Vorliebe dies Thema behandelt. Das Haupt-
argument ist immer politischer Natur: Italien sei total außer-
stande, unabhängig zu bleiben; entweder Deutschland oder
Frankreich müsse in Italien herrschen; zögen sich die Östreicher
heute aus Italien zurück, so ständen morgen die Franzosen im
Etschtale und an den Toren von Triest, und die ganze Südgrenze
Deutschlands sei entblößt dem "Erbfeinde" preisgegeben. Darum be-
haupte Östreich die Lombardei im Namen und Interesse Deutsch-
lands.
Man sieht, die militärischen Autoritäten für diese Ansicht gehö-
ren zu den ersten Deutschlands. Trotzdem müssen wir ihr entschie-
den entgegentreten.
Zu einem mit wahrem Fanatismus verteidigten Glaubensartikel aber
wird diese Ansicht in der Augsburger "Allgemeinen Zeitung", die
sich zum Moniteur der deutschen Interessen in Italien aufgeworfen
hat. Dies christlich-germanische Blatt, trotz seines Hasses gegen
Juden und Türken, ließe eher sich selbst beschneiden als das
"deutsche" Gebiet in Italien. Was von den politisierenden Generä-
len schließlich doch nur als eine prächtige militärische Position
in den Händen Deutschlands verteidigt wird, das ist in der Augs-
burger "Allg[emeinen] Zeitung" ein wesentlicher Bestandteil einer
politischen Theorie. Wir meinen jene "mitteleuropäische Groß-
machtstheorie", die aus Östreich, Preußen und dem übrigen
Deutschland einen Bundesstaat unter Östreichs vorwiegendem Ein-
fluß errichten, Ungarn und die slawisch-rumänischen Donauländer
durch Kolonisation, Schulen und sanfte Gewalt germanisieren, den
Schwerpunkt dieses Länderkomplexes dadurch mehr und mehr nach
Südosten, nach Wien verlegen und nebenbei auch Elsaß und Lothrin-
gen wiedererobern möchte [106]. Die "mitteleuropäische Großmacht"
soll eine Art Wiedergeburt des Heiligen Römischen Reichs Deut-
scher Nation [107] sein und scheint unter andern auch den Zweck
zu haben, die weiland östreichischen Niederlande [108] sowie Hol-
land sich als Vasallenstaaten einzuverleiben. Des Deutschen Va-
terland wird ungefähr zweimal so weit reichen, als jetzt die
deutsche Zunge klingt [109]; und wenn das alles in Erfüllung ge-
gangen ist, dann ist Deutschland der Schiedsrichter und Herr Eu-
ropas. Daß sich dies alles aber erfülle, dafür ist auch schon ge-
sorgt. Die Romanen sind im akuten Verfall begriffen, die Spanier
und Italiener sind bereits total
#229# Po und Rhein
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zugrunde gegangen, und die Franzosen erleben in diesem Augen-
blicke ebenfalls ihre Auflösung. Auf der andern Seite sind die
Slawen unfähig zur wahren modernen Staatenbildung und haben den
welthistorischen Beruf, germanisiert zu werden, wobei dann das
hauptsächlichste Werkzeug der Vorsehung wieder das verjüngte
Östreich ist. Der einzige Stamm, der sich noch sittliche Kraft
und historische Befähigung bewahrt hat, sind also die Germanen,
und von diesen sind die Engländer auch so tief in insularen Ego-
ismus und Materialismus versunken, daß man ihren Einfluß, ihren
Handel und ihre Industrie durch kräftige Schutzzölle, durch eine
Art rationellen Kontinentalsystems [110] vom europäischen Fest-
land entfernt halten muß. Auf diese Weise kann es dem deutschen
sittlichen Ernst und der jugendlichen mitteleuropäischen Groß-
macht gar nicht fehlen, daß diese letztere binnen kurzem die
Weltherrschaft zu Wasser und zu Lande an sich reißt und eine neue
geschichtliche Ära einweiht, bei der Deutschland seit langer Zeit
endlich einmal wieder die erste Violine spielt und die übrigen
Nationen nach ihr tanzen.
Franzosen und Russen gehört das Land,
Das Meer gehört den Briten;
Wir aber besitzen im Luftreich des Traums
Die Herrschaft unbestritten. [111]
Auf die politische Seite dieser patriotischen Phantasien ein-
zugehn, kann uns hier nicht einfallen. Wir haben sie nur eben im
Zusammenhang skizziert, damit man uns nicht etwa später diese
sämtlichen Herrlichkeiten als neue Beweisgründe für die Notwen-
digkeit der "deutschen" Herrschaft in Italien wieder vorführt.
Uns interessiert hier einzig die militärische Frage: Bedarf
Deutschland zu seiner Verteidigung die permanente Herrschaft über
Italien und speziell den vollen militärischen Besitz der Lombar-
dei und Venedigs?
Die Frage auf ihren reinsten militärischen Ausdruck reduziert,
lautet: Bedarf Deutschland zur Verteidigung seiner Südgrenze den
Besitz der Etsch, des Mincio und des unteren Po, mit den Brücken-
köpfen Peschiera und Mantua?
Ehe wir sie zu beantworten versuchen, bemerken wir vorher noch
ausdrücklich: Wenn wir hier von Deutschland reden, so verstehen
wir darunter eine einige Macht, deren militärische Kräfte und Ak-
tionen 1*) von einem Zentrum aus geleitet werden - Deutschland
nicht als einen idealen, sondern als einen wirklichen politischen
Körper. Unter andern Voraussetzungen kann von den politischen und
militärischen Bedürfnissen Deutschlands überhaupt keine Rede
sein.
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1*) (1859) Nation
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II
Noch mehr als Belgien ist Oberitalien seit Jahrhunderten das
Schlachtfeld, auf dem Deutsche und Franzosen ihre Kriege gegen-
einander ausgefochten haben. Der Besitz Belgiens und des Po-Tals
für den Angreifer ist notwendige Bedingung sei es einer deutschen
Invasion Frankreichs, sei es einer französischen Invasion
Deutschlands; erst dieser Besitz sichert vollständig Flanken und
Rücken der Invasion. Nur der Fall einer ganz sichern Neutralität
dieser Länder könnte eine Ausnahme bilden, und dieser Fall hat
bis jetzt nie existiert.
Wenn auf den Schlachtfeldern des Po-Tals indirekt und mittelbar
das Geschick Frankreichs und Deutschlands seit dem Tage von Pavia
[83] entschieden wurde, so wurde das Geschick Italiens dort
gleichzeitig direkt und unmittelbar entschieden. Mit den großen
stehenden Heeren der neueren Zeit, mit der wachsenden Macht
Frankreichs und Deutschlands, mit dem politischen Zerfallen Ita-
liens verlor das eigentliche alte Italien, südlich des Rubikon,
alle militärische Bedeutung, und der Besitz des alten Cisalpini-
schen Galliens zog die Herrschaft über die schmale, langge-
streckte Halbinsel unvermeidlich nach sich. In den Bassins des Po
und der Etsch, an der genuesischen, romagnolischen und venetiani-
schen Küste saß die dichteste Bevölkerung, konzentrierte sich der
blühendste Ackerbau, die tätigste Industrie, der lebhafteste Han-
del Italiens. Die Halbinsel, Neapel und der Kirchenstaat, blieben
verhältnismäßig stationär in ihrer gesellschaftlichen Entwick-
lung; ihre Kriegsmacht hatte seit Jahrhunderten nicht mehr ge-
zählt. Wer das Po-Tal besaß, schnitt die Landverbindung der
Halbinsel mit dem übrigen Festland ab und konnte sie
"gelegentlich mit leichter Mühe unterwerfen. So die Franzosen
zweimal im Revolutionskriege, so die Östreicher zweimal in diesem
Jahrhundert. Daher hat nur das Bassin des Po und der Etsch Bedeu-
tung für den Krieg.
Eingefaßt auf drei Seiten von der ununterbrochenen Gebirgskette
der Alpen und Apenninen und auf der vierten, von Aquileja bis Ri-
mini, vom
#231# Po und Rhein
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Adriatischen Meer, bildet dies Bassin einen von der Natur sehr
scharf markierten Bodenabschnitt, den der Po von West nach Ost
durchläuft. Die südliche oder apenninische Abgrenzung hat kein
Interesse für uns hier; die nördliche oder alpinische desto mehr.
Ihr schneebedeckter Rücken ist nur an wenigen Stellen auf chaus-
sierten Wegen zu passieren; selbst die Zahl der Fahr- und Saum-
wege und der Fußpfade ist beschränkt; langgestreckte Tal-defileen
führen zu den Pässen über das Hochgebirg.
Die deutsche Grenze umfaßt Norditalien von der Mündung des Isonzo
bis zum Stilfser Joch; von da bis Genf reicht die Grenze der
Schweiz; von Genf bis zur Mündung des Var stößt Frankreich an.
Vom Adriatischen Meer bis zum Stilfser Joch, nach Westen gerech-
net, führt jeder folgende Paß immer tiefer ins Herz des Po-
Bassins, umgeht also alle weiter östlich liegenden Stellungen ei-
ner italienischen oder französischen Armee. Die Grenzlinie des
Isonzo wird gleich durch den ersten Paß von Karfreit (Caporetto)
auf Cividale umgangen. Der Paß von Pontafel umgeht die Stellung
am Tagliamento, die auch noch von zwei nichtchaussierten Pässen
aus Kärnten und Cadore in die Flanke genommen wird. Der Brenner-
paß umgeht die Piavelinie durch den Peutelsteiner Paß von Brune-
cken auf Cortina d'Ampezzo und Belluno, die Brentalinie durch die
Val Sugana auf Bassano, die Etschlinie durch' das Etschtal, den
Chiese durch Judikarien, den Oglio auf nichtchaussierten Wegen
über den Tonale und endlich alles Gebiet östlich der Adda über
das Stilfser Joch und durch das Veltlin.
Man sollte sagen, daß bei einer so günstigen strategischen Lage
der wirkliche Besitz der Ebenen bis zum Po uns Deutschen ziemlich
gleichgültig sein könnte. Wo will, bei gleichen Kräften, die
feindliche Armee sich östlich von der Adda oder nördlich vom Po
aufstellen? Alle ihre Stellungen sind umgangen; wo sie den Po
oder die Adda auch überschreitet, ihre Flanke ist bedroht; zieht
sie sich südlich vom Po, so gefährdet sie ihre Verbindung mit
Mailand und Piemont, geht sie hinter den Tessin, so riskiert sie
ihren Zusammenhang mit der ganzen Halbinsel. Wäre sie verwegen
genug, offensiv in der Richtung auf Wien vorzugehn, so kann sie
jeden Tag abgeschnitten und genötigt werden, mit dem Rücken nach
dem feindlichen Lande, mit der Front nach Italien eine Schlacht
zu liefern. Wird sie dann geschlagen, so ist es ein zweites Ma-
rengo [86] mit gewechselten Rollen ; schlägt sie die Deutschen,
so müssen diese sich sehr albern anstellen, wenn sie ihren
Rückzug nach Tirol verlieren.
Der Bau der Straße über das Stilfser Joch ist der Beweis, daß die
Östreicher aus ihrer Niederlage von Marengo das Richtige gelernt
haben. Napoleon baute die Simplonstraße, um einen gedeckten Auf-
gang nach dem Herzen
#232# Friedrich Engels
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Italiens zu haben; die östreicher ergänzten ihr System offensiver
Verteidigung in der Lombardei durch die Straße von Stilfs nach
Bormio. Man wird sagen, dieser Paß sei zu hoch, um im Winter
praktikabel zu bleiben; die ganze Route sei zu schwierig, indem
sie auf einer Entfernung von mindestens fünfzig deutschen Meilen
(von Füssen in Bayern bis Lecco am Comer See) fortwährend durch
unwirtbares Hochgebirg geht und auf diese Strecke drei Ge-
birgspässe kommen; daß sie endlich in dem langen Defilee am Comer
See und im Hochgebirge selbst leicht zu sperren sei. Sehen wir
zu.
Der Paß ist allerdings der höchste fahrbare in der ganzen Alpen-
kette, 8600 Fuß, und mag im Winter stark verschneien. Wenn wir
uns indes der Winterkampagne Macdonalds 1800 bis 1801 1*), an
Splügen und Tonale erinnern, so werden wir auf solche Hindernisse
nicht viel geben. Alle Alpenpässe verschneien im Winter und wer-
den darum doch passiert. Die jetzt seit Armstrongs Herstellung
einer brauchbaren, von hinten geladenen, gezogenen Kanone schwer-
lich noch aufschiebbare Umgestaltung aller Artillerien wird auch
leichteres Geschütz in die Feldartillerie einführen und dadurch
die Beweglichkeit erleichtern. Ein ernsthafteres Hindernis ist
der lange Marsch im Hochgebirge und die wiederholte Gebirgsüber-
steigung. Der Stilfser Paß geht nicht über die Wasserscheide der
nord- und südalpinischen Flüsse, sondern über die zwei adriati-
schen Gewässer der Etsch und Adda, und setzt daher voraus, daß
die Hauptkette der Alpen vorher am Brenner- oder Finstermünzpaß
überstiegen worden, um vom Inntal ins Etschtal zu gelangen. Da
nun der Inn in Tirol ziemlich von Westen nach Osten zwischen zwei
Bergketten läuft, so müssen Truppen vom Bodensee und aus Bayern
auch noch die nördlichere dieser Bergketten übersteigen, so daß
wir im ganzen zwei oder drei Bergpässe auf dieser einen Route ha-
ben. So beschwerlich dies ist, so ist dies doch kein entscheiden-
des Hindernis, eine Armee auf diesem Wege nach Italien zu führen.
Eine Eisenbahn im Inntal, die schon teilweise fertig, und die im
Etschtal projektierte Bahn wird diesen Übelstand bald auf ein
Minimum reduzieren. Napoleons Weg über den Bernhard von Lausanne
bis Ivrea führte zwar nur ungefähr 30 Meilen durchs Hochgebirge;
aber der Weg von Udine nach Wien, auf dem Napoleon 1797 vordrang
und auf dem 1809 Eugène und Macdonald sich mit Napoleon bei Wien
vereinigten, läuft über 60 Meilen lang durchs Hochgebirg und
führt ebenfalls über drei Alpenpässe. Der Weg von Pont-de-Beau-
voisin über den Kleinen Bernhard nach Ivrea, die Route, die, ohne
die Schweiz zu berühren, direkt von Frankreich am weitesten nach
Italien hineinführt, also zum Umgehen die geschickteste ist,
zieht sich
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1*) (1859) 1799 bis 1800
#233# Po und Rhein
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auch über 40 Meilen durchs Hochgebirg, und ebenso die Simplon-
straße von Lausanne nach Sesto Calende. - Was endlich das Sperren
der Straße im Passe selbst oder am Corner See angeht, so ist man
seit den Feldzügen der Franzosen in den Alpen nicht so geneigt
mehr, an die Wirksamkeit von Sperrpunkten zu glauben. Dominie-
rende Höhen und die Möglichkeit der Umgehung machen sie ziemlich
nutzlos; die Franzosen nahmen viele mit Sturm und sind nie ernst-
lich durch die Befestigungen der Pässe aufgehalten worden. Die
etwaigen Befestigungen des Passes auf der italienischen Seite
sind über den Cevedale, den Monte Corno und Gavia und den Tonale
und Aprica zu umgehen. Aus dem Veltlin führen viele Saumwege nach
der Bergamasca, und die Absperrung des langen Défilées am Corner
See ist teils hierdurch, teils von Dervio aus oder von Bellano
durch die Val Sassina zu umgehen. Im Gebirgskrieg ist ein Vor-
dringen mit mehreren Kolonnen ohnehin geboten, und wenn eine
durchdringt, ist der Zweck gewöhnlich erreicht.
Wie sehr die schwierigsten Pässe so ziemlich zu allen Jahreszei-
ten praktikabel sind, wenn man nur gute Truppen und entschlossene
Generale hinschickt; wie sehr also auch geringfügige Nebenpässe,
selbst nicht fahrbare, als gute Operationslinien besonders zu Um-
gehungen zu gebrauchen sind; und wie wenig Sperrpunkte nützen -
das beweisen am besten die Feldzüge in den Alpen von 1796 bis
1801. Damals war noch kein einziger Alpenpaß chaussiert, und
trotzdem gingen die Armeen in allen Direktionen über die Berge.
1799 ging schon anfangs März Loison mit einer französischen Bri-
gade auf Fußpfaden über die Wasserscheide zwischen Reuß und
Rhein, während Lecourbe über den Bernhardin und die Viamala ging,
von dort den Albula-Julier-Paß überstieg (7100 Fuß hoch) und
schon am 24. März das Defilee von Martinsbruck durch Umgehung
nahm, indem er Dessolle durch das Münstertal über den Pisoc und
das Wormser Joch (Fußweg 7850 Fuß hoch) ins obere Etschtal und
von dort auf die Reschen-Scheideck sandte. Anfangs Mai zog Le-
courbe sich wieder über den Albula zurück.
Im September desselben Jahres erfolgte Suworows Zug, auf dem, wie
der alte Soldat sich in seiner gewaltsamen Bildersprache aus-
drückte, das russische Bajonett durch die Alpen drang (Ruskij
styk prognal cres Alpow). Er sandte seine Artillerie größtenteils
über den Splügen, ließ eine Umgehungskolonne durch die Val Blegno
über den Lukmanier (Fußpfad, 5948 Fuß) und von dort über den Six-
madun (6500 Fuß ungefähr) in das obere Reußtal eindringen, wäh-
rend er selbst den damals kaum fahrbaren Weg des Sankt Gotthard
passierte (6594 Fuß). Den Sperrpunkt der Teufelsbrücke erstürmte
er am 24. bis 26. September; aber bei Altdorf angekommen, vor
sich den See und auf allen andern Seiten die Franzosen, blieb ihm
nichts, als das Schächental
#234# Friedrich Engels
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tal hinauf über den Kinzig-Kulm ins Muotatal zu gehen. Dort ange-
kommen, nachdem er alle Artillerie und Bagage im Reußtal gelas-
sen, fand er die Franzosen wieder in Übermacht vor sich, während
Lecourbe ihm auf den Fersen saß. Suworow ging über den Pragel ins
Klöntal, um auf diesem Wege die Rheinebene zu gewinnen. Im Defi-
lee von Näfels stieß er auf unüberwindlichen Widerstand, und nun
blieb ihm nichts übrig, als auf dem Fußpfad über den Panixer Paß,
8000 Fuß hoch, das obere Rheintal und die Verbindung mit dem
Splügen zu gewinnen. Am 6. Oktober begann der Übergang, am 10.
war das Hauptquartier in Ilanz. Diese Passage war bis dahin der
großartigste aller modernen Alpenübergänge.
Von Napoleons Übergang über den Großen Bernhard wollen wir nicht
viel sagen. Gegen die übrigen ähnlichen Operationen jener Zeit
steht sie zurück. Die Jahreszeit war günstig, und das einzig Be-
merkenswerte ist die geschickte Manier, wie der Sperrpunkt Fort
Bard umgangen wurde.
Dagegen verdienen besonders rühmliche Erwähnung Macdonalds Opera-
tionen im Winter 1800/1801. Bestimmt, mit 15 000 Mann als linker
Flügel der französischen Armee von Italien den rechten Flügel der
Östreicher an Mincio und Etsch zu umgehen, passierte er i m
t i e f s t e n W i n t e r m i t a l l e n W a f f e n-
g a t t u n g e n den Splügen (6510 Fuß). Unter den größten
Mühseligkeiten, oft durch Lawinen und Schneestürme unterbrochen,
führte er vom 1. bis 7. Dezember seine Armee über den Paß und
marschierte die Adda hinauf durchs Veltlin an den Aprica. Die
Östreicher scheuten sich ebensowenig vor dem Hochgebirgswinter.
Sie behielten den Albula, Julier und Braulio (Wormser Joch)
besetzt und machten am letzteren sogar einen Überfall, bei dem
sie ein Detachement demontierter französischer Husaren gefangen-
nahmen. Nachdem Macdonald den Apricapaß vom Adda- ins Ogliotal
überstiegen hatte, erstieg er den sehr hohen Paß des Tonale auf
Fußpfaden und griff die Östreicher am 22. Dezember an, die das
Defilee im Paß mit Eisblöcken verschanzt hatten. Sowohl an diesem
Tage wie im zweiten Angriff (31. Dezember - er war also neun Tage
im Hochgebirge geblieben!) zurückgeworfen, ging er die Val Camo-
nica herab bis zum Lago d'Iseo, schickte Kavallerie und Artille-
rie 1*) durch die Ebene und überstieg mit der Infanterie die drei
Bergrücken, die nach Val Trompia, Val Sabbia und nach Judikarien
führten, wo er, in Storo, schon am 6. Januar ankam. Baraguay
d'Hilliers war gleichzeitig aus dem Inntal über die Reschen-
Scheideck (Finstermünzpaß) ins obere Etschtal gegangen. - Wenn
solche Manöver vor sechzig Jahren möglich
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1*) (1859) Infanterie
#235# Po und Rhein
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waren, was können wir jetzt nicht tun, wo wir in den meisten Päs-
sen die schönsten Chausseen haben!
Schon aus diesen Skizzen sehen wir, daß von allen Sperrpunkten
nur diejenigen einige Haltbarkeit besaßen, die aus Ungeschick
oder Mangel an Zeit nicht umgangen wurden. Der Tonale z.B. war
unhaltbar, sobald Baraguay d'Hilliers im oberen Etschtal er-
schien. Die übrigen Kampagnen beweisen, daß sie entweder durch
Umgehung, aber oft auch durch Sturm genommen wurden. Luziensteig
wurde zwei- oder dreimal gestürmt, ebenso Malborgeth im Pontafel-
paß 1797 und 1809. Die Tiroler Sperrpunkte hielten weder Joubert
1797 noch Ney 1805 auf. Man weiß, was Napoleon behauptet, daß auf
Wegen umgangen werden könne, die für eine Ziege praktikabel
seien. Und seitdem man auf diese Weise Krieg führt, sind alle
Sperrpunkte zu umgehen.
Es ist demnach nicht abzusehen, wie bei gleichen Kräften eine
feindliche Armee die Lombardei östlich von der Adda gegen eine
über die Alpen vordringende deutsche Armee im freien Felde ver-
teidigen kann. Es bliebe ihr nur noch die Chance, sich zwischen
den bestehenden oder neu zu errichtenden Festungen aufzustellen
und zwischen diesen zu manövrieren. Diese Möglichkeit werden wir
weiter unten erwägen.
Welche Pässe stehen nun Frankreich offen, um in Italien einzu-
dringen? Während Deutschland die eine Hälfte der Nordgrenze Ita-
liens ganz umfaßt, läuft die französische Grenze in ziemlich
grader Linie von Norden nach Süden, umfaßt und umgeht gar nichts.
Erst wenn Savoyen und ein Teil des genuesischen Küstenlandes ero-
bert ist, können über den Kleinen Bernhard und einige Seealpen-
pässe Umgehungen vorbereitet werden, deren Wirkung indes bloß bis
an die Sesia und die Bormida geht, also weder die Lombardei noch
die Herzogtümer, geschweige denn die Halbinsel erreicht. Nur eine
Landung in Genua, die indes für eine große Armee doch wohl ihre
Schwierigkeiten haben wird, könnte zu einer Umgehung von ganz
Piemont führen; eine Landung weiter östlich, z.B. in der Spezia,
könnte sich schon nicht mehr auf Piemont und Frankreich basieren,
sondern nur auf die Halbinsel und wäre daher in demselben Maße
umgangen, wie sie selbst umginge.
Bis jetzt haben wir die Schweiz als neutral vorausgesetzt. Für
den Fall, daß sie in den Krieg hineingezogen würde, bekäme
Frankreich einen Paß mehr zur Verfügung: den Simplon (der Große
Bernhard, auf Aosta führend wie der Kleine, würde keine neuen
Vorteile bieten außer der kürzeren Linie). Der Simplon führt an
den Tessin und deckt dadurch den Franzosen Piemont. Die Deutschen
erhielten in derselben Weise den untergeordneten Splügen, der am
Corner See mit der Stilfser Straße zusammenstößt, und den
Bernhardin, dessen Wirkung bis an den Tessin reicht. Der Gotthard
könnte nach
#236# Friedrich Engels
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Umständen beiden Parteien dienen, würde ihnen aber wenig neue
Flankenvorteile eröffnen. So sehen wir, daß der Einfluß einer
französischen Umgehung durch die Alpen einerseits und der einer
deutschen andererseits bis zur jetzigen lombardisch-piemontesi-
schen Grenze, bis an den Tessin reicht. Wenn aber die Deutschen
am Tessin, wenn sie nur bei Piacenza und Cremona stehen, so ver-
legen sie den Franzosen den Landweg nach der italienischen
Halbinsel. Mit andern Worten: Wenn Frankreich Piemont dominiert,
so dominiert Deutschland das ganze übrige Italien.
Ein taktischer Vorteil kommt den Deutschen außerdem noch zugut:
Auf der ganzen deutschen Grenzlinie ist bei allen wichtigen Päs-
sen - das Stilfser Joch ausgenommen - die Wasserscheide auf deut-
schem Gebiet. Der Fella im Pontafelpaß entspringt in Kärnten, der
Boite im Peutelsteiner Paß in Tirol. In dieser letzteren Provinz
ist der Vorteil entscheidend. Das obere Brentatal (Val Sugana),
das obere Chiesetal (Judikarien) und mehr als die Hälfte des
Laufs der Etsch gehören zu Tirol. Wenn auch im einzelnen Fall
nicht ohne genaues Studium der Lokalität zu entscheiden ist, ob
wirklich taktischer Vorteil aus dem Besitz der Wasserscheide bei
Hochgebirgspässen hervorgeht, so ist doch so viel sicher, daß im
Durchschnitt die Chancen der Überhöhung wie der Umgehung auf sei-
ten dessen sind, der den Gebirgskamm und ein Stück des Abhangs
auf der feindlichen Seite besetzt hält; und daß man ferner da-
durch in den Stand gesetzt wird, die unpraktikabelsten Stellen
der Nebenpässe schon vor Ausbruch des Kriegs für alle Waffen
gangbar zu machen, was in Tirol von entscheidender Wichtigkeit
für die Verbindungen werden kann. Wenn dies Vordringen unseres
Gebiets auf die feindliche Seite erst die Ausdehnung erhält, die
das deutsche Bundesgebiet in Südtirol hat; wenn, wie hier, die
beiden Hauptpässe, der Brenner- und Finstermünzpaß, weitab von
der feindlichen Grenze zurückliegen; wenn außerdem entscheidende
Nebenpässe wie die durch Judikarien und die Val Sugana ganz dem
deutschen Gebiet angehören, so sind dadurch die taktischen Bedin-
gungen einer Invasion Oberitaliens so enorm erleichtert, daß sie
im Kriegsfall nur mit Verstand benutzt zu werden brauchen, um den
Erfolg sicherzustellen.
Solange die Schweiz neutral bleibt, ist also Tirol, und sobald
die Neutralität der Schweiz aufhört, ist Graubünden und Tirol
(das Inntal und Rheintal) der geradeste Weg für ein deutsches
Heer, das gegen Italien operiert. Auf dieser Linie drangen die
Hohenstaufen nach Italien; auf keiner andern kann ein militärisch
wie ein Staat agierendes Deutschland mit raschen Schlägen ent-
scheidend in Italien wirken. Für diese Linie aber ist nicht In-
neröstreich, sondern Oberschwaben und Bayern, vom Bodensee bis
Salzburg, die Operationsbasis.
#237# Po und Rhein
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Im ganzen Mittelalter hat dies gegolten. Erst als Östreich sich
an der Mitteldonau konsolidierte, als Wien Zentralpunkt der Mon-
archie wurde, als das deutsche Reich zerfiel und in Italien nicht
mehr deutsche, sondern nur noch östreichische Kriege geführt wur-
den, erst da wurde die alte, kurze, grade Linie von Innsbruck auf
Verona und von Lindau auf Mailand verlassen, erst da trat die
lange, krumme, schlechte Linie von Wien über Klagenfurt und Tre-
viso auf Vicenza an ihre Stelle, eine Linie, auf die sich früher
eine deutsche Armee nur im äußersten Notfall des bedrohten Rück-
zugs, nie aber für den Angriff verlassen hätte.
Solange das deutsche Reich als eine wirkliche Militärmacht be-
stand, solange es demgemäß seine Angriffe gegen Italien auf Ober-
schwaben und Bayern basierte, solange mochte es die Unterwerfung
Oberitaliens aus politischen Gründen anstreben, nie aber aus rein
militärischen. In den langen Kämpfen um Italien ist die Lombardei
bald deutsch, bald unabhängig, bald spanisch, bald östreichisch
gewesen; die Lombardei aber, was nicht zu vergessen ist, war von
Venedig getrennt, und Venedig war unabhängig. Und obwohl die Lom-
bardei Mantua besaß, so schloß sie doch grade die Minciolinie und
das Gebiet zwischen Mincio und Isonzo aus, ohne dessen Besitz,
wie uns jetzt versichert wird, Deutschland nicht ruhig schlafen
kann. Deutschland (durch Vermittelung Östreichs) ist erst seit
1814 in den vollen Besitz der Minciolinie gekommen. Und wenn auch
Deutschland, als politischer Körper, im siebzehnten und achtzehn-
ten Jahrhundert eben nicht die brillanteste Rolle gespielt hat,
so war doch der mangelnde Besitz der Minciolinie jedenfalls nicht
schuld daran.
Allerdings ist die strategische Arrondierung der Staaten und ihre
Begrenzung durch verteidigungsfähige Linien mehr in den Vorder-
grund getreten, seit die Französische Revolution und Napoleon be-
weglichere Armeen geschaffen und mit diesen Armeen Europa in al-
len Richtungen durchzogen haben. War im Siebenjährigen Kriege
[112] noch das Operationsfeld einer Armee auf eine bloße Provinz
beschränkt, drehten sich monatelange Manöver um einzelne Festun-
gen, Stellungen oder Operationsbasen, so kommt heute in jedem
Kriege die Terrainkonfiguration ganzer Länder in Betracht, und
die Wichtigkeit, die früher an einzelne taktische Positionen ge-
knüpft war, klebt jetzt nur noch an großen Festungsgruppen, lan-
gen Flußlinien oder hohen, stark ausgesprochenen Gebirgsketten.
Und in dieser Beziehung sind Linien wie die des Mincio und der
Etsch allerdings von weit größerer Bedeutung als früher.
Sehen wir uns also diese Linien einmal an.
Alle Flüsse, die östlich vom Simplon von den Alpen in die ober-
italienische Ebene zum Po oder direkt zum Adriatischen Meer flie-
ßen, bilden mit dem
#238# Friedrich Engels
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Po oder allein einen nach Osten konkaven Bogen. Sie sind dadurch
der Verteidigung einer im Osten stehenden Armee günstiger als der
einer im Westen stehenden. Man sehe den Tessin, die Adda, den
Oglio, den Chiese, den Mincio, die Etsch, die Brenta, die Piave,
den Tagliamento darauf an; jeder Fluß, allein oder mit dem ansto-
ßenden Teil des Po zusammen, bildet einen Kreisbogen, dessen Zen-
trum nach Osten zu liegt. Dadurch wird die auf dem linken
(östlichen) Ufer stehende Armee befähigt, eine Zentralstellung
rückwärts zu nehmen, von der aus sie jeden ernsthaft angegriffe-
nen Punkt des Flußlaufs in verhältnismäßig kurzer Zeit erreichen
kann; sie hält die Jominische "innere Linie" [113], sie mar-
schiert auf dem Radius oder der Sehne, während der Feind auf der
längeren Peripherie manövrieren muß. Findet sich die Armee des
rechten Ufers in der Defensive, so wird umgekehrt dieser Umstand
ihr ungünstig sein; der Feind ist in seinen falschen Angriffen
durch die Lokalität unterstützt, und dieselben kürzeren Entfer-
nungen von den einzelnen Punkten der Peripherie, die ihm bei der
Verteidigung zugut kommen, geben nun seinem Angriff ein entschei-
dendes Übergewicht. So sind also die lombardisch-venetianischen
Flußlinien durchaus für eine deutsche Armee in Defensive und Of-
fensive günstig, für eine italienische oder italienisch-
französische Armee ungünstig; und wenn hierzu noch der schon ent-
wickelte Umstand kommt, daß die Tiroler Pässe diese sämtlichen
Linien umgehen, so ist wahrlich kein Grund vorhanden, an der Si-
cherheit Deutschlands zu verzweifeln, selbst wenn kein östreichi-
scher Soldat mehr auf italienischem Boden stände; denn dieser
lombardische Boden gehört uns, sooft wir wollen.
Diese lombardischen Flußlinien sind übrigens meist sehr unbedeu-
tend und zur ernsthaften Verteidigung wenig geeignet. Abgesehen
vom Po selbst, über den wir weiter unten sprechen werden, finden
sich im ganzen Bassin nur zwei für Frankreich oder Deutschland
wirklich bedeutende Positionen; sie sind von den betreffenden Ge-
neralstäben richtig in ihrer Stärke erfaßt und befestigt worden
und werden im nächsten Kriege unbedingt die entscheidende Rolle
spielen. In Piemont, eine Meile unterhalb Casale, biegt der Po
seinen bis dahin östlichen Lauf nach Süden, verläuft auf stark
drei Meilen nach Südsüdost und wendet sich dann wieder nach
Osten. An der nördlichen Biegung fließt von Norden die Sesia, an
der südlichen von Südwesten der Tanaro ein. Mit diesem vereinigen
sich unmittelbar vor ihrem Einfluß, dicht bei Alessandria, die
Bormida, die Orba und der Belbo und bilden zusammen ein System
strahlenförmig nach einem Mittelpunkt zusammenströmender Fluß-
linien, deren wichtigster Knotenpunkt durch das verschanzte Lager
von Alessandria gedeckt wird. Von Alessandria aus kann eine Armee
beliebig die Ufer der kleineren Flüsse wechseln, kann die vor der
Front liegende Linie
#239# Po und Rhein
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des Po verteidigen, kann bei dem ebenfalls befestigten Gasale
über den Po gehn oder auf dem rechten Po-Ufer flußabwärts operie-
ren. Diese Stellung, durch hinreichende Befestigungen verstärkt,
ist die einzige, die Piemont deckt oder zur Basis offensiver Ope-
rationen gegen die Lombardei und die Herzogtümer dienen kann. Sie
leidet indes daran, daß sie keine Tiefe hat, und da sie sowohl
umgangen als in der Front durchbrochen werden kann, so ist dieser
Umstand sehr ungünstig; ein kräftiger und geschickter Angriff
würde sie bald auf das noch unvollendete verschanzte Lager von
Alessandria reduzieren, und wieweit dies die Verteidiger vor der
Notwendigkeit schützen würde, sich unter ungünstigen Umständen zu
schlagen, darüber fehlen alle Anhaltspunkte, da weder die neue-
sten dortigen Befestigungsanlagen noch der erreichte Grad ihrer
Vollendung bekannt sind. Die Wichtigkeit dieser Position für die
Verteidigung Piemonts gegen Angriffe von Osten hatte schon Napo-
leon erkannt und Alessandria demzufolge neu befestigen lassen.
1814 bewährte der Platz seine schützende Kraft nicht; wieweit er
dies heutzutage vermag, werden wir vielleicht bald zu sehn Gele-
genheit haben.
Die zweite Position, die für das Venetianische dasselbe und noch
viel mehr gegen Angriffe aus Westen leistet, was Alessandria für
Piemont, ist die des Mincio und der Etsch. Aus dem Gardasee her-
austretend, fließt der Mincio vier Meilen weit, bis Mantua, in
südlicher Richtung, erleidet bei Mantua eine seeartige, von Sümp-
fen umgebene Ausbuchtung und fließt dann in südöstlicher Richtung
dem Po zu. Die Flußstrecke unterhalb der Mantuaner Sümpfe bis zur
Mündung ist zu kurz, um einer Armee zum Übergang zu dienen, indem
der aus Mantua debouchierende Feind sie in den Rücken nehmen und
zu einer Schlacht unter den ungünstigsten Umständen zwingen
könnte. Eine Umgehung von Süden her müßte weiter ausholen und bei
Revere oder Ferrara über den Po gehn. Von Norden ist die Stellung
am Mincio durch den Gardasee auf weithin vor Umgehung geschützt,
so daß die wirklich zu verteidigende Linie des Mincio von Pe-
schiera bis Mantua nur vier Meilen lang ist und an jedem Flügel
sich an eine Festung anlehnt, die ein Débouché auf das rechte
Ufer sichert. Der Mincio selbst ist kein beträchtliches Hinder-
nis, und die Ufer überhöhen sich je nach der Lokalität wechsel-
seitig; hierdurch war die Linie vor 1848 einigermaßen in Verruf
gekommen, und wenn sie nicht durch einen besondern Umstand bedeu-
tend verstärkt würde, so hätte sie schwerlich je große Berühmt-
heit erlangt. Dieser besondere Umstand ist aber der, daß vier
Meilen weiter rückwärts der zweite Fluß Oberitaliens, die Etsch,
in einem mit dem Mincio und unteren Po ziemlich parallelen Bogen
läuft und so eine zweite, stärkere Stellung bildet, die durch die
beiden Etschfestungen Verona und Legnago verstärkt wird. Die bei-
den Flußlinien
#240# Friedrich Engels
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aber, mit ihren vier Festungen, bilden zusammen für eine deutsche
oder östreichische, von Italien oder Frankreich angegriffene Ar-
mee eine so starke Defensivposition, daß keine zweite in Europa
ihr an die Seite gesetzt werden kann und daß eine Armee, die nach
Abgabe der Garnison noch im Felde auftreten kann, ruhig dem An-
griff einer doppelt so starken Macht in dieser Stellung entgegen-
sehen kann. Was diese Position leistet, hat Radetzky 1848 bewie-
sen. Nach der Mailänder Märzrevolution [35], dem Abfall der
italienischen Regimenter und dem Übergang der Piemontesen über
den Tessin zog er sich mit dem Rest seiner Truppen, ungefähr
45 000 Mann, nach Verona. Nach Abzug der 15 000 Mann starken Gar-
nisonen blieben ihm etwas über 30 000 Mann disponibel. Ihm gegen-
über standen zwischen Mincio und Etsch ungefähr 60 000 Piemonte-
sen, Toskaner, Modeneser und Parmesaner. In; seinem Rücken er-
schien Durandos Armee, ungefähr 45 000 Mann päpstliche und neapo-
litanische Truppen und Freiwillige [114]. Nur die Verbindung
durch Tirol war ihm geblieben, und auch diese war, wenn auch nur
leicht, durch lombardische Freischaren im Gebirg bedroht. Trotz-
dem hielt sich Radetzky. Die Beobachtung Peschieras und Mantuas
nahm den Piemontesen so viel Truppen weg, daß sie am 6. Mai bei
dem Angriff auf die Stellung von Verona (Schlacht bei Santa Lu-
cia) nur mit vier Divisionen, 40 000 bis 45 000 Mann, auftreten
konnten; Radetzky mochte, mit der Garnison von Verona, 36 000
Mann verwenden. Das Gleichgewicht auf dem Schlachtfeld war also,
wenn die taktische starke Defensivstellung der Östreicher in Er-
wägung gezogen wird, schon wieder hergestellt, und die Piemonte-
sen wurden geschlagen. Die Kontrerevolution vom 15. Mai in Neapel
befreite Radetzky von der Gegenwart der 15 000 Neapolitaner [115]
und reduzierte die Armee des venetianischen Festlandes auf unge-
fähr 30 000 Mann, wovon aber nur 5000 päpstliche Schweizer und
ungefähr ebensoviel päpstliche italienische Linientruppen im of-
fenen Felde zu verwenden waren; den Rest bildeten Freischaren.
Die Nugentsche Reservearmee, die sich im April am Isonzo gebildet
hatte, schlug sich leicht durch diese Truppen durch und verei-
nigte sich am 25. Mai mit Radetzky bei Verona, beinahe 20 000
Mann stark. Jetzt konnte der alte Feldmarschall endlich aus der
passiven Verteidigung heraustreten. Um Peschiera zu entsetzen,
das die Piemontesen belagerten, und um sich selbst mehr Luft zu
verschaffen, unternahm er den berühmten Flankenmarsch nach Mantua
mit seiner ganzen Armee (27. Mai), debouchierte von hier am 29.
auf dem rechten Ufer des Mincio, erstürmte die feindliche Linie
am Curtatone und drang am 30. gegen Goito, in den Rücken und die
Flanke der Italiener vor. Aber an demselben Tag fiel Peschiera;
das Wetter wurde ungünstig, und zu einer Entscheidungsschlacht
fühlte Radetzky sich noch
#241# Po und Rhein
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nicht stark genug. Er marschierte also am 4. Juni wieder durch
Mantua nach der Etsch zurück, sandte das Reservekorps nach Verona
und ging mit dem Rest seiner Truppen über Legnago gegen Vicenza,
das von Durando verschanzt und mit 17 000 Mann besetzt war. Am
10. griff er Vicenza mit 30 000 Mann an, am 11. kapitulierte Du-
rando nach tapferer Gegenwehr. Das zweite Armeekorps (d'Aspre)
unterwarf Padua, das obere Brentatal und das venetianische Fest-
land überhaupt und folgte dann dem ersten nach Verona; eine
zweite Reservearmee unter Welden rückte vom Isonzo heran. Während
dieser Zeit und bis zur Entscheidung des Feldzuges konzentrierten
die Piemontesen mit abergläubischer Hartnäckigkeit alle ihre Auf-
merksamkeit auf das Plateau von Rivoli, das sie seit Napoleons
Sieg für den Schlüssel Italiens anzusehen schienen, das aber 1848
gar keine Bedeutung mehr hatte, seitdem die Östreicher sich eine
sichere Verbindung mit Tirol durch die Vallarsa und namentlich
auch die direkte Verbindung mit Wien über den Isonzo wieder er-
öffnet hatten. Zu gleicher Zeit indes sollte auch etwas gegen
Mantua geschehen; es wurde also auf der rechten Mincioseite bloc-
kiert - eine Operation, die gar keinen andern Zweck haben konnte,
als die im piemontesischen Lager herrschende Ratlosigkeit zu do-
kumentieren, die Armee auf der ganzen, acht Meilen langen Strecke
von Rivoli bis Borgoforte zu verzetteln und sie obendrein durch
den Mincio in zwei Hälften zu teilen, die sich nicht gegenseitig
unterstützen konnten.
Als nun der Versuch gemacht wurde, Mantua auch auf dem linken
Ufer zu blockieren, entschloß sich Radetzky, der inzwischen
12 000 Mann von Weldens Truppen an sich gezogen hatte, die Pie-
montesen in ihrem geschwächten Zentrum zu durchbrechen und die
sich sammelnden Truppen dann einzeln zu schlagen. Am 22. Juli
ließ er Rivoli angreifen, das die Piemontesen am 23. räumten; am
23. rückte er selbst von Verona mit 40 000 Mann gegen die bloß
von 14 000 Piemontesen verteidigte Stellung von Sona und Somma-
campagna, nahm sie und sprengte dadurch die ganze feindliche Li-
nie. Der linke piemontesische Flügel wurde am 24. vollends über
den Mincio zurückgeworfen, und der inzwischen konzentrierte und
gegen die Östreicher vordringende rechte am 25. bei Custozza ge-
schlagen; am 26. ging die ganze östreichische Armee über den Min-
cio und schlug die Piemontesen noch einmal bei Volta. Damit war
der Feldzug beendigt; fast ohne Widerstand gingen die Piemontesen
hinter den Tessin zurück.
Diese kurze Erzählung des Feldzugs von 1848 beweist schlagender
als alle theoretischen Gründe die Stärke der Stellung am Mincio
und an der Etsch. Im Viereck zwischen den vier Festungen angekom-
men, mußten die Piemontesen so viel Truppen detachieren, daß ihre
Offensivkraft, wie die
#242# Friedrich Engels
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Schlacht von Santa Lucia beweist, dadurch schon gebrochen war,
während Radetzky, sobald die ersten Verstärkungen kamen, sich mit
vollkommener Freiheit zwischen den Festungen bewegen, sich bald
auf Mantua, bald auf Verona basieren, heute auf dem rechten Min-
cio-Ufer den Rücken des Feindes bedrohen, wenige Tage darauf Vi-
cenza erobern und fortwährend die Initiative des Feldzugs ausüben
konnte. Die Piemontesen haben allerdings Fehler über Fehler be-
gangen; aber es ist gerade die Stärke einer Stellung, die den
Feind in Verlegenheit setzt und ihn fast zwingt, Fehler zu bege-
hen. Die Beobachtung, noch mehr die Belagerung der einzelnen Fe-
stungen nötigt ihn, sich zu teilen, seine disponible Offensiv-
kraft zu schwächen; die Flüsse zwingen ihn, diese Teilung zu wie-
derholen, und setzen seine verschiedenen Korps mehr oder weniger
in die Unmöglichkeit, sich gegenseitig zu Hülfe zu kommen. Welche
Kräfte gehören dazu, Mantua zu belagern, solange eine für das
Feld disponible Armee jeden Augenblick aus den detachierten Forts
von Verona vorbrechen kann?
Mantua allein war imstande, 1797 die siegreiche Armee des Gene-
rals Bonaparte aufzuhalten. Nur zweimal imponierte ihm eine Fe-
stung: Mantua und zehn Jahre später Danzig [82]. Der ganze zweite
Teil der Kampagne von [ 1796 und] 1797: Castiglione, Medole, Cal-
liano, Bassano, Arcole, Rivoli [81] - alles dreht sich um Mantua,
und erst nachdem diese Festung gefallen, wagt der Sieger nach
Osten und über den Isonzo vorzudringen. Damals war Verona nicht
befestigt; 1848 war von Verona auf dem rechten Etschufer nur die
Ringmauer fertig, und die Schlacht von Santa Lucia wurde auf dem
Terrain geschlagen, wo gleich darauf die östreichischen Redouten
und seitdem permanente detachierte Forts angelegt worden sind,
und erst hierdurch wird das verschanzte Lager von Verona der
Kern, das Réduit der ganzen Stellung, die hierdurch enorm an
Stärke gewonnen.
Man sieht, wir denken nicht daran, die Wichtigkeit der Mincioli-
nie zu bemäkeln. Aber vergessen wir nicht: Diese Linie ist erst
von Wichtigkeit geworden, seitdem Östreich auf eigne Faust in
Italien Kriege führt und seitdem die Verbindung Bozen - Innsbruck
- München durch die andere, Treviso - Klagenfurt-Wien, in den
Hintergrund gedrängt worden ist. Und für Östreich in seiner
jetzigen Gestalt ist der Besitz der Minciolinie allerdings eine
Lebensfrage. Östreich als selbständiger Staat, der als europäi-
sche Großmacht auch unabhängig von Deutschland agieren will, muß
entweder den Mincio und unteren Po beherrschen oder auf die Ver-
teidigung Tirols verzichten; Tirol wäre sonst nach beiden Seiten
umgangen und nur durch den Toblacher Paß mit dem Rest der Monar-
chie verbunden (die Straße von Salzburg nach Innsbruck geht durch
Bayern). Nun existiert zwar eine Ansicht unter älteren
#243# Po und Rhein
-----
Militärs, daß Tirol eine große Verteidigungsfähigkeit besitze und
sowohl das Donau- wie das Po-Bassin beherrsche. Aber diese An-
sicht ist unbedingt auf Phantasterei basiert und nie durch die
Erfahrung bewährt, denn ein Insurrektionskrieg wie der von 1809
[116] beweist nichts für die Operationen einer regelmäßigen Ar-
mee.
Der Urheber dieser Ansicht ist Bülow; er spricht sie unter anderm
in seiner Geschichte der Feldzüge von Hohenlinden und Marengo
[117] aus. Ein Exemplar der französischen Übersetzung dieses Bu-
ches,einem englischen Ingenieuroffizier Emmett gehörig, der zu
Napoleons Zeit in St. Helena kommandiert war, fiel dem gefangenen
Feldherrn 1819 in die Hände. Er machte zahlreiche Randglossen
dazu, und Emmett ließ das Buch 1831 mit Napoleons Noten wieder
abdrucken.
Napoleon ging offenbar mit günstigen Eindrücken an die Lektüre.
Bei Bülows Vorschlag, die ganze Infanterie in Tirailleurs aufzu-
lösen, bemerkt er wohlwollend: "De l'ordre, toujours de l'ordre -
les tirailleurs doivent toujours être soutenus par des lignes."
1*) Dann folgt ein paarmal: "Bien - c'est bien" 2*) - und wieder:
"Bien". Aber von der zwanzigsten Seite an wird es Napoleon doch
zu toll, wenn er den armen Bülow sich abarbeiten sieht, alle
Wechselfälle des Kriegs aus seiner Theorie der exzentrischen
Rückzüge und konzentrischen Angriffe mit seltnem Unglück und Un-
geschick sich zu erklären und durch eine schülerhafte Interpreta-
tion die meisterhaftesten Schachzüge ihres Sinns zu berauben.
Erst ein paarmal: "Mauvais - cela est mauvais - mauvais principe"
3*) - dann heißt es: "Cela n'est pas vrai - absurde - mauvais
plan bien dangereux - restez unis si vous voulez vaincre - il ne
faut jamais séparer son armée par un fleuve - tout cet échafau-
dage est absurde" 4*) usw. Und wenn Napoleon gar fortwährend fin-
det, daß Bülow stets schlechte Operationen lobt und gute tadelt,
daß er den Generälen die närrischsten Motive unterschiebt und ih-
nen die komischsten Ratschläge gibt, daß er endlich das Bajonett
abschaffen und dafür das zweite Glied der Infanterie mit Lanzen
bewaffnen will, so ruft er aus: "Bavardage inintelligible, quel
absurde bavardage, quelle absurdité, quel misérable bavardage,
quelle ignorance de la guerre." 5*)
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1*) "Ordnung, zu jeder Zeit Ordnung - die Schützen müssen stets
durch Linientruppen unterstützt werden." - 2*) "Gut - das ist
gut" - 3*) "Schlecht - das ist schlecht - schlechtes Prinzip" -
4*) "Das ist nicht richtig - unsinnig - schlechter, sehr gefähr-
licher Plan - bleiben Sie vereint, wenn Sie siegen wollen - man
darf nie seine Armee durch einen Fluß teilen - dieses ganze
Gerede ist unsinnig" - 5*) "Unverständliches Geschwätz, welch
unsinniges Geschwätz, welche Abgeschmacktheit, welch miserables
Geschwätz, welche Unkenntnis des Krieges."
#244# Friedrich Engels
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Bülow wirft hier der östreichischen Donauarmee unter Kray vor,
nach Ulm statt nach Tirol gegangen zu sein. Tirol, diese unein-
nehmbare Bastion von Bergen und Felsen, beherrsche Bayern und
einen Teil der Lombardei zu gleicher Zeit, sobald es von hinrei-
chenden Truppen besetzt sei (Napoleon: "On n'attaque pas les mon-
tagnes, pas plus le Tirol que la Suisse, on les observe et on les
tourne par les plaines" 1*). Dann wirft Bülow Moreau vor, er habe
sich durch Kray bei Ulm festhalten lassen, statt ihn stehenzulas-
sen und Tirol, das schwach besetzt war, zu erobern: Die Eroberung
Tirols hätte die östreichische Monarchie niedergeworfen (Napo-
leon: "Absurde, quand même le Tirol eût été ouvert, il ne fallait
pas y entrer" 2*)).
Nachdem Napoleon die Lektüre des ganzen Buchs beendigt,
charakterisierte er das System der exzentrischen Rückzüge und
konzentrischen Angriffe und der Beherrschung der Ebenen durch die
Berge mit folgenden Worten: "Si vous voulez apprendre la manière
de faire battre une armée supérieure par une armée inférieure,
étudiez les maximes de cet écrivain; vous aurez des idées sur la
science de la guerre, il vous prescrit le contre-pied de ee qu'il
faut enseigner." 3*)
Drei- bis viermal wiederholte Napoleon die Warnung: "Il ne faut
jamais attaquer les pays des montagnes." 4*) Diese Scheu vor dem
Gebirg datiert offenbar aus seinen späteren Jahren, wo seine Ar-
meen eine so kolossale Stärke erreichten und sowohl der Verpfle-
gung wie der taktischen Entwicklung halber an die Ebenen gebunden
waren. Spanien1118' und Tirol mögen auch das Ihrige dazu beige-
tragen haben Sonst fürchtete er sich doch nicht so sehr vor den
Bergen. Die erste Hälfte seines Feldzugs von [1796 und] 1797
wurde ganz im Gebirge geschlagen, und in den folgenden Jahren be-
wiesen Masséna und Macdonald hinlänglich, daß man auch im Ge-
birgskrieg - und grade da am allerersten - mit geringen Kräften
Großes leisten kann. Aber im ganzen ist es klar, daß unsre moder-
nen Armeen im gemischten Terrain der Ebnen und des niederen Hü-
gellandes ihre Kräfte am besten zur Geltung bringen können und
daß eine Theorie falsch ist, die vorschreibt, eine große Armee
ins Hochgebirg zu werfen - nicht zum Durchzug, sondern um dort
dauernd Stellung zu nehmen -, solange rechts und links Ebenen wie
die bayerische und lombardische
-----
1*) "Man greift die Berge nicht an, weder Tirol noch die Schweiz,
man beobachtet sie nur und umgeht sie durch die Ebenen" -
2*) "Unsinnig, selbst wenn Tirol offen gewesen wäre, dürfte man
nicht dort einrücken" - 3*) "Wenn Sie lernen wollen, wie man es
anstellt, eine überlegene Armee von einer schwächeren Armee
schlagen zu lassen, so studieren Sie nur die Grundsätze dieses
Schriftstellers, Sie werden schöne Begriffe von der Kriegs-
wissenschaft bekommen, er schreibt Ihnen das Gegenteil von dem
vor, was man lehren muß." - 4*) "Man darf niemals die Bergländer
angreifen."
#245# Po und Rhein
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frei liegen, in denen man den Krieg entscheiden kann. Wie lange
kann eine Armee von 150 000 Mann in Tirol ernährt werden? Wie
bald würde der Hunger sie in die Ebene hinuntertreiben, wo sie
inzwischen dem Gegner Zeit gelassen hat, sich festzusetzen, wo
sie gezwungen werden kann, eine Schlacht unter den ungünstigsten
Bedingungen zu schlagen? Und wo könnte sie in den engen Tälern
einePosition finden, in der sie ihre ganze Stärke entwickeln
kann?
Für Ostreich wäre, sobald es den Mincio und die Etsch nicht mehr
besitzt, Tirol ein verlorner Posten, den es aufzugeben genötigt
wäre, sobald er von Norden oder Süden angegriffen wird. Für
Deutschland umgeht Tirol die Lombardei bis an die Adda durch
seine Pässe; für ein separat handelndes Östreich umgeht die Lom-
bardei und das Venetianische bis an die Brenta Tirol, Nur solange
Bayern Tirol im Norden und der Besitz der Minciolinie es im Süden
deckt, ist es für Östreich haltbar. Die Stiftung des Rheinbundes
[119] machte es für Östreich unmöglich, selbst Tirol und das
Venetianische zusammengenommen ernsthaft zu verteidigen, und
daher war es ganz konsequent, wenn Napoleon im Preßburger Frieden
[120] beide Provinzen von Östreich trennte.
Für Östreich also ist der Besitz der Minciolinie mit Peschiera
und Mantua eine absolute Notwendigkeit. Für Deutschland als Gan-
zes ist ihr Besitz keineswegs notwendig, obwohl er militärisch
immer noch ein großer Vorteil ist. Worin dieser Vorteil besteht,
liegt auf der Hand. Nur darin, daß er uns von vornherein eine
starke Position in der lombardischen Ebene sichert, die wir dann
- nicht erst zu erobern brauchen, und daß er unsere Verteidi-
gungsstellung bequem arrondiert, unsre Offensive aber bedeutend
unterstützt.
Wenn aber Deutschland die Minciolinie nicht hat?
Nehmen wir an, ganz Italien sei unabhängig, einig und mit
Frankreich zum Offensivkriege gegen Deutschland verbündet. Aus
allem, was wir bisher gesagt haben, geht hervor, daß in diesem
Falle die Operations- und Rückzugslinie der Deutschen nicht Wien
- Klagenfurt - Treviso, sondern München - Innsbruck - Bozen und
München - Füssen - Finstermünz - Glums wären, und daß ihre Debou-
chés in der lombardischen Ebene zwischen der Val Sugana und der
Schweizer Grenze liegen. Wo ist nun der entscheidende Angriffs-
punkt? Offenbar derjenige Teil Oberitaliens, der die Verbindung
der Halbinsel mit Piemont und Frankreich vermittelt, der mittlere
Po von Alessandria bis Cremona. Aber die Pässe zwischen Gardasee
und Comer See reichen vollständig hin, um den Deutschen das Vor-
dringen in diese Gegend zu gestatten und ihnen den Rückzug auf
demselben Wege, im schlimmsten Fall über das Stilfser Joch, of-
fenzuhalten. In diesem Fall würden die Mincio- und Etschfestun-
gen, die wir im Besitz der Italiener angenommen haben, weitab vom
#246# Friedrich Engels
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entscheidenden Schlachtfeld liegen. Eine Besatzung des verschanz-
ten Lagers von Verona mit entsprechenden, zur Offensive hinläng-
lichen Kräften würde nur eine unnütze Zersplitterung der feindli-
chen Truppen sein. Oder erwartet man, daß die Italiener in Masse
auf dem vielbeliebten Plateau von Rivoli den Deutschen das
Etschtal verlegen würden? Seitdem die Stelviostraße (über das
Stilfser Joch) gebaut ist, hat das Débouché aus dem Etschtal viel
von seiner Wichtigkeit verloren. Aber gesetzt den Fall, daß Ri-
voli wieder als Schlüssel Italiens figurieren sollte und daß die
Deutschen von der Attraktionskraft der dort stehenden italieni-
schen Armee stark genug angezogen würden, um den Angriff zu ma-
chen - wozu sollte dann noch Verona dienen? Es schließt das
Etschtal nicht, sonst wäre der Marsch der Italiener nach Rivoli
überflüssig. Um den Rückzug im Fall einer Niederlage zu decken,
ist Peschiera hinlänglich, das einen sichern Übergang über den
Mincio bietet und damit den weiteren Marsch nach Mantua oder Cre-
mona sicherstellt. Eine Massenaufstellung der ganzen italieni-
schen Streitmacht zwischen den vier Festungen, etwa um die An-
kunft der Franzosen hier zu erwarten, ohne zur Schlacht provo-
ziert werden zu können, würde aber gerade von Anbeginn des -
Feldzugs an die uns feindlichen Kräfte in zwei Hälften teilen und
es uns möglich machen, auf ihre Vereinigungslinie mit gesammelten
Kräften erst gegen die Franzosen vorzudringen und, nachdem diese
geschlagen, den allerdings etwas langwierigen Prozeß der Delogie-
rung der Italiener aus ihren Festungen vorzunehmen. Ein Land wie
Italien, dessen nationale Armee bei jedem erfolgreichen Angriff
aus Norden und Osten sofort in das Dilemma versetzt ist, zwischen
der Basis Piemont und der Basis der Halbinsel zu wählen, solch
ein Land muß offenbar seine großen Defensivanlagen in der Gegend
haben, wo die Armee in dies Dilemma kommen kann. Hier bieten der
Einfluß des Tessin und der Adda in den Po Anhaltspunkte dar. Der
General von Willisen ("Italienischer Feldzug des Jahres 1848")
wünschte beide Punkte von den Östreichern befestigt. Abgesehen
davon, daß dies schon deswegen nicht geht, weil ihnen das nötige
Terrain nicht gehört (bei Cremona ist das rechte Po-Ufer parmesa-
nisch, und in Piacenza haben sie nur das Garnisonsrecht), so sind
auch beide Punkte für eine große Defensivstellung zu weit vorge-
schoben in einem Lande, wo die Östreicher in jedem Kriege von In-
surrektionen umgeben sein werden; ferner vergißt Willisen, der
nie zwei Flüsse sich vereinigen sehen kann, ohne gleich für ein
großes verschanztes Lager Pläne zu machen, daß weder Tessin noch
Adda verteidigungsfähige Linien sind, also auch nach seiner eig-
nen Ansicht das dahinterliegende Land nicht decken. Aber was für
die Östreicher nutzlose Verschwendung wäre, das ist für die Ita-
liener unbedingt eine gute Position. Für sie ist der Po die
Hauptverteidigungslinie;
#247# Po und Rhein
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das Dreieck Pizzighettone - Cremona - Piacenza, mit Alessandria
links und Mantua rechts, würde eine wirksame Verteidigung dieser
Linie herstellen und der Armee erlauben, sowohl gedeckt die An-
kunft entfernter Bundesgenossen zu erwarten als auch im gegebnen
Fall offensiv in der entscheidenden Ebene zwischen Sesia und
Etsch vorzugehn.
Der General von Radowitz sprach sich in der Frankfurter National-
versammlung dahin aus: Wenn Deutschland die Minciolinie nicht
mehr besitze, so sei es in die Stellung versetzt, in die es jetzt
erst nach einem ganzen unglücklichen Feldzug komme. Der Krieg sei
dann sofort auf deutsches Gebiet gespielt; er fange am Isonzo und
in Welschtirol an, und alles süddeutsche Gebiet bis nach Bayern
hinein sei umgangen, so daß der Krieg auch in Deutschland statt
am Oberrhein dann an der Isar ausgefochten werden müsse. [105]
Der General von Radowitz scheint die militärischen Kenntnisse
seines Publikums ziemlich richtig beurteilt zu haben. Es ist
richtig: Wenn Deutschland die Minciolinie aufgibt, so gibt es an
Terrain und Positionen so viel auf, als den Franzosen und Italie-
nern ein ganzer glücklicher Feldzug einbringen würde. Aber damit
ist Deutschland denn doch noch lange nicht in die Stellung ver-
setzt, in die ein unglücklicher Feldzug es bringen würde. Oder
ist eine starke, intakte deutsche Armee, die sich am bayrischen
Fuß der Alpen versammelt und über die Tiroler Pässe marschiert,
um in die Lombardei einzufallen, in derselben Lage wie ein durch
eine unglückliche Kampagne ruiniertes und demoralisiertes Heer,
das vom Feinde gejagt dem Brenner zueilt? Ist die Chance einer
erfolgreichen Offensive von einer Position aus, die den Vereini-
gungspunkt der Franzosen und Italiener in vieler Beziehung be-
herrscht, gleich der Chance einer geschlagenen Armee, ihre Artil-
lerie über die Alpen zu bringen? Ehe wir die Minciolinie hatten,
haben wir Italien viel öfter erobert, als seitdem wir sie haben;
wer will bezweifeln, daß wir im Notfall das Kunststück noch ein-
mal machen?
Was nun den Punkt betrifft, daß ohne die Minciolinie der Krieg
sofort nach Bayern und Kärnten hineingespielt wird, so ist auch
das nicht richtig. Unsre ganze Darstellung läuft darauf hinaus,
daß ohne die Minciolinie die Verteidigung der deutschen Südgrenze
n u r o f f e n s i v geschehen kann. Dazu führt die gebirgige
Natur der deutschen Grenzprovinzen, die nicht zum entscheidenden
Schlachtfeld dienen können; dazu führt die günstige Lage der Al-
penpässe. Das Schlachtfeld liegt in den Ebenen vor ihnen. Dort
müssen wir hinabsteigen, und das kann uns keine Macht der Erde
wehren. Eine günstigere Einleitung der Offensive als diejenige,
die uns hier für den ungünstigsten Fall einer französisch-italie-
nischen Allianz geboten wird, ist nicht
#248# Friedrich Engels
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leicht zu denken. Unterstützt kann sie werden durch Verbesserung
der Alpenstraßen und durch Befestigungen an den Straßenknoten in
Tirol, die ansehnlich genug sein müssen, um im Fall des Rückzugs
den Feind, wo nicht ganz aufzuhalten, doch zu starken Detachie-
rungen zum Schutz seiner Verbindungen zu nötigen. Was die Alpen-
straßen angeht, so beweisen uns sämtliche Kriege in den Alpen,
daß auch die meisten nichtchaussierten Hauptwege und viele
Saumpfade für alle Waffengattungen ohne übergroße Mühe passierbar
sind. Unter diesen Umständen sollte eine deutsche Offensive in
die Lombardei doch wahrlich so einzurichten sein, daß sie alle
Aussicht auf Erfolg hat. Freilich, wir können trotzdem geschlagen
werden; und dann würde der Fall eintreten, von dem Radowitz
spricht. Wie steht es dann mit dem Entblößen Wiens und dem Umge-
hen Bayerns durch Tirol?
Erstens ist es klar, daß kein feindliches Bataillon wagen darf,
über den Isonzo zu gehn, solange nicht die deutsche Armee von Ti-
rol ganz und unwiederbringlich über den Brenner zurückgeworfen
ist. Von dem Augenblick an, wo Bayern die deutsche Operationsba-
sis gegen Italien bildet, von dem Augenblick an hat eine italie-
nisch-französische Offensive in der Richtung auf Wien gar keinen
Zweck mehr, sie wäre eine nutzlose Zersplitterung der Kräfte.
Wäre aber auch Wien dann noch ein so wichtiges Zentrum, daß es
der Mühe wert wäre, die Hauptmacht der feindlichen Armee zu sei-
ner Eroberung zu detachieren, so beweist das bloß, daß Wien befe-
stigt werden muß. Napoleons Zug 1797 1*), die Invasionen in Ita-
lien und Deutschland 1805 und 1809 hätten sehr schlimm für die
Franzosen endigen können, wäre Wien befestigt gewesen. Eine auf
solche Entfernungen vorgedrungene Offensive läuft immer Gefahr,
an einer befestigten Hauptstadt ihre letzten Kräfte zu zer-
schellen. Übrigens angenommen, der Feind habe die deutsche Armee
über den Brenner geworfen, welches Maß von Überlegenheit wird
nicht vorausgesetzt, um eine wirksame Detachierung nach Inner-
östreich möglich zu machen!
Wie steht es aber mit der Umgehung von ganz Süddeutschland durch
Italien? In der Tat, wenn die Lombardei Deutschland bis München
umgeht, wie weit umgeht dann Deutschland Italien? Doch jedenfalls
bis Mailand und Pavia. Die Chancen sind also soweit gleich. Aber
infolge der viel größeren Breite Deutschlands braucht eine Armee
am Oberrhein, die über Italien auf München "umgangen" wird, darum
nicht sogleich zurückzugehen. Ein verschanztes Lager in Oberbay-
ern oder eine passagère Befestigung Münchens würde die geschla-
gene Tiroler Armee aufnehmen und die Offensive des nachdringenden
Feindes bald zum Stehen bringen, während der Oberrheinarmee
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1*) (1859) 1798
#249# Po und Rhein
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die Wahl bliebe, sich auf Ulm und Ingolstadt oder auf den Main zu
basieren, schlimmstenfalls also die Operationsbasis zu wechseln.
In Italien dagegen ist das alles anders. Ist eine italienische
Armee durch die Tiroler Pässe im Westen umgangen, so braucht sie
nur noch aus ihren Festungen vertrieben zu werden, und ganz Ita-
lien ist erobert. Deutschland, in einem Kriege gegen Frankreich
und Italien zusammen, hat stets mehrere Armeen, mindestens drei,
und der Sieg oder die Niederlage hängt ab von dem Gesamtresultat
aller drei Feldzüge. Italien bietet nur Raum für eine Armee; jede
Teilung wäre ein Fehler; und ist diese eine Armee vernichtet, so
ist damit Italien erobert. Für eine französische Armee in Italien
ist die Verbindung mit Frankreich unter allen Umständen Hauptsa-
che; und solange diese Verbindungslinie nicht auf den Col di
Tenda und Genua beschränkt wird, solange bietet sie den Deutschen
in Tirol die Flanke dar - und umso mehr, je weiter die Franzosen
in Italien vorrücken. Der Fall eines Eindringens der Franzosen
und Italiener nach Bayern durch Tirol muß allerdings von dem Au-
genblick an vorgesehen werden, wo wieder d e u t s c h e Kriege
in Italien geführt werden und die Operationsbasis von Östreich
nach Bayern verlegt wird. Aber mit geeigneten fortifikatorischen
Anlagen im modernen Sinn, wo die Festungen um der Armeen, nicht
aber die Armeen um der Festungen willen da sind, kann dieser In-
vasion weit leichter die Spitze abgebrochen werden als einer
deutschen Invasion nach Italien. Und darum brauchen wir aus die-
ser sogenannten "Umgehung" von ganz Süddeutschland kein Schreck-
bild zu machen. Der Feind, der eine deutsche Oberrheinarmee durch
Italien und Tirol umgeht, muß bis an die Ostsee vorrücken, ehe er
die Früchte dieser Umgehung pflücken kann. Der Marsch Napoleons
von Jena nach Stettin [121] läßt sich aber in der Richtung von
München auf Danzig schwerlich wiederholen.
Daß Deutschland, wenn es die Etsch- und Minciolinie aufgibt, ei-
ner sehr starken Defensivposition entsagt, dies bestreiten wir in
keiner Weise. Daß aber diese Position zur Sicherheit der deut-
schen Südgrenze n o t w e n d i g sei, dies bestreiten wir
durchaus. Wenn man freilich, wie die Vertreter der entgegen-
gesetzten Ansicht zu tun scheinen, von der Voraussetzung ausgeht,
daß eine deutsche Armee, wo sie sich auch zeigt, jedesmal
geschlagen wird - dann mag man sich, einbilden, daß Etsch, Mincio
und Po uns unbedingt nötig seien. Dann aber können sie in
Wirklichkeit erst recht nichts nützen; dann helfen uns weder Fe-
stungen noch Armeen, dann gehen wir am besten gleich durch das
Kaudinische Joch [122]. Wir haben andre Ansichten von der Wehr-
kraft Deutschlands, und wir sind deshalb ganz zufrieden, unsre
Südgrenze gesichert zu sehn durch die Vorteile, die sie der Of-
fensive auf lombardischem Boden darbietet.
#250# Friedrich Engels
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Hier aber kommen auch politische Erwägungen ins Spiel, die wir
nicht beiseite lassen können. Die nationale Bewegung in Italien
ist seit 1820 [123] aus jeder Niederlage verjüngt und gewaltiger
hervorgegangen. Es gibt wenig Länder, deren sogenannte natürliche
Grenzen so nahe mit den Grenzen der Nationalität zusammenfallen
und zugleich so prononciert sind. Wenn in einem solchen Lande,
das obendrein an fünfundzwanzig Millionen Einwohner zählt, die
nationale Bewegung einmal erstarkt ist, so kann sie nicht wieder
ruhen, solange einer der besten, politisch und militärisch wich-
tigsten Landesteile und damit beinahe ein Viertel der Gesamtein-
wohnerzahl einer antinationalen Fremdherrschaft unterworfen ist.
Seit 1820 herrscht Östreich in Italien nur noch durch die Gewalt,
durch das Niederschlagen wiederholter Insurrektionen, durch den
Terrorismus des Belagerungszustandes. Um seine Herrschaft in Ita-
lien zu behaupten, ist östreich genötigt, seine politischen Geg-
ner, d. h. jeden Italiener, der sich als Italiener fühlt, schlim-
mer als gemeine Verbrecher zu behandeln. Die Art und Weise, wie
die italienischen politischen Gefangenen von Östreich behandelt
wurden und noch stellenweise behandelt werden, ist in zivilisier-
ten Ländern unerhört. Die Östreicher haben politische Verbrecher
in Italien mit besonderer Vorliebe durch Stockprügel zu infamie-
ren gesucht, sei es um Geständnisse zu erpressen, sei es unter
dem Vorwand der Strafe. Man hat über den italienischen Dolch,
über den politischen Meuchelmord viel sittliche Entrüstung ergos-
sen; man scheint aber ganz vergessen zu haben, daß der östreichi-
sche Stock ihn provozierte. Die Mittel, deren Östreich sich be-
dienen muß, um seine Herrschaft in Italien zu behaupten, sind der
allerbeste Beweis, daß diese Herrschaft unmöglich von Dauer sein
kann; und Deutschland, das trotz Radowitz, Willisen und Hailbron-
ner nicht dasselbe Interesse an ihr hat als östreich, Deutschland
ist allerdings in den Fall versetzt, sich zu fragen, ob denn dies
Interesse groß genug ist, um die vielen Nachteile aufzuwiegen,
die mit ihr verbunden sind.
Oberitalien ist ein Anhängsel, das Deutschland unter allen Um-
ständen nur im Kriege nutzen, im Frieden aber nur schaden kann.
Die zu seiner Niederhaltung nötigen Armeen sind seit 1820 immer
stärker geworden und übersteigen seit 1848 im tiefsten Frieden
70 000 Mann, die sich fortwährend wie in Feindesland befinden,
jeden Augenblick auf Angriffe gefaßt sein müssen. Der Krieg 1848
und 1849 und die Okkupation Italiens bis heute - trotz der pie-
montesischen Kriegskontribution, trotz der wiederholten lombardi-
schen Kontributionen, Zwangsanleihen und Extrasteuern - hat
Östreich offenbar weit mehr gekostet, als ihm Italien seit 1848
eingebracht hat. Und doch ist von 1848 bis 1854 das Land systema-
tisch als eine bloß provisorische Besitzung behandelt worden, aus
der man zieht, soviel man kann, ehe man sie
#251# Po und Rhein
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räumt. Erst seit dem orientalischen Krieg [72] ist die Lombardei
auf ein paar Jahre in einen weniger abnormen Zustand getreten;
und wie lange wird der dauern, bei den jetzigen Verwicklungen, wo
das italienische Nationalgefühl wieder so heftig pulsiert?
Was aber viel wichtiger ist, wiegt der Besitz der Lombardei all
den Haß, alle die fanatische Feindschaft auf, die er uns in ganz
Italien zugezogen hat? Wiegt er die Mitverantwortlichkeit auf für
die Maßregeln, durch die Östreich - im Namen und Interesse
Deutschlands, wie uns versichert wird - seine Herrschaft dort si-
cherstellt? Wiegt er die fortwährenden Einmischungen in die inne-
ren Angelegenheiten des übrigen Italiens auf, ohne die, nach der
bisherigen Praxis und den östreichischen Versicherungen, die Lom-
bardei nicht festgehalten werden kann und die den Haß der Italie-
ner gegen uns Deutsche nur noch flammender machen? In allen bis-
herigen militärischen Erwägungen haben wir immer den schlimmsten
Fall, den einer Allianz Frankreichs mit Italien, vorausgesetzt.
Solange wir die Lombardei behalten, ist Italien unbedingt der
Bundesgenosse Frankreichs in jedem französischen Kriege gegen
Deutschland. Sobald wir sie aufgeben, hört das auf. Ist es aber
unser Interesse, vier Festungen zu behalten und uns dagegen die
fanatische Feindschaft und den Franzosen die Allianz von 25 Mil-
lionen Italienern zu sichern?
Das interessierte Gerede von der politischen Unfähigkeit der Ita-
liener und ihrem Beruf, unter deutscher oder französischer Herr-
schaft zu stehn, sowie die verschiedenen Spekulationen über die
Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines einigen Italiens kommen uns
im Munde von Deutschen etwas befremdlich vor. Wie lange ist es
denn her, daß wir, die große deutsche Nation, die doppelt soviel
Seelen zählt als die Italiener, seit w i r dem "Beruf" ent-
gangen sind, entweder unter französischer oder unter russischer
Herrschaft zu stehn? Und hat die Praxis von heute die Frage von
der Einheit oder Uneinheit Deutschlands gelöst? Stehen wir nicht
in diesem Augenblick aller Wahrscheinlichkeit nach am Vorabend
von Ereignissen, die über unsre Zukunft nach beiden Richtungen
hin erst die Frage der Entscheidung entgegenreifen werden? Haben
wir denn Napoleon in Erfurt ganz vergessen oder den östreichi-
schen Appell an Rußland auf den Warschauer Konferenzen oder die
Schlacht von Bronzell? [124]
Wir wollen für den Augenblick zugeben, daß Italien entweder unter
deutschem oder französischem Einfluß stehen muß. In diesem Fall
entscheidet außer den Sympathien namentlich auch noch die mili-
tärgeographische Lage der beiden beeinflussenden Länder. Die
Streitkräfte Frankreichs und Deutschlands wollen wir für gleich
stark annehmen, obwohl Deutschland offenbar weit stärker sein
könnte. Nun aber glauben wir bewiesen zu haben, daß im
#252# Friedrich Engels
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allergünstigsten Fall, wenn nämlich das Wallis und der Simplon
den Franzosen offenstehn, ihr unmittelbarer kriegerischer Einfluß
nur Piemont umfaßt und sie erst eine Schlacht gewinnen müssen, um
ihn auf weiterliegende Gebiete auszudehnen, während unser Einfluß
sich auf die ganze Lombardei und auf den Verbindungspunkt zwi-
schen Piemont und der Halbinsel erstreckt und man uns erst schla-
gen muß, um uns diesen Einfluß zu nehmen. Wo aber eine solche
geographische Anlage zur Herrschaft gegeben ist, da hat der Ein-
fluß Deutschlands nichts von der französischen Konkurrenz zu
fürchten.
Der General Hailbronner sagte in der A[ugsburger] "A[llgemeinen]
Z[eitung]" neulich ungefähr: Deutschland hat einen andern Beruf,
als zum Blitzableiter für die Donnerschläge zu dienen, die sich
über dem Haupt der bonapartischen Dynastie zusammenziehn. Mit
demselben Recht können die Italiener sagen: Italien hat einen an-
dern Beruf, als den Deutschen zum Puffer zu dienen gegen die
Stöße, die Frankreich gegen sie führt, und zum Dank dafür von den
Östreichern mit Stockprügeln regaliert zu werden. Wenn aber
Deutschland ein Interesse daran hat, sich hier einen solchen Puf-
fer zu erhalten, so geschieht das jedenfalls viel besser dadurch,
daß es sich mit Italien auf einen guten Fuß stellt, der nationa-
len Bewegung ihr Recht widerfahren läßt und die italienischen
Dinge solange den Italienern überläßt, als sie sich nicht in
deutsche Dinge mischen. Die Radowitzsche Behauptung, daß
Frankreich morgen in Oberitalien herrschen müsse, wenn Östreich
heute hinausgeht, war zu ihrer Zeit ebenso unbegründet, als sie
es noch vor drei Monaten war; wie die Dinge heute stehn, scheint
sie eine Wahrheit werden zu wollen, aber in einem dem Radowitz-
schen entgegengesetzten Sinn. Wenn die fünfundzwanzig Millionen
Italiener nicht ihre Unabhängigkeit behaupten können, so müssen
es die zwei Millionen Dänen, die vier Millionen Belgier, die drei
Millionen Holländer noch weniger. Trotzdem hören wir die Vertei-
diger der deutschen Herrschaft in Italien nicht über französische
oder schwedische Herrschaft in diesen Ländern lamentieren und
verlangen, daß sie durch deutsche Herrschaft ersetzt werde.
Was die Einheitsfrage angeht, so denken wir: Entweder kann Ita-
lien einig werden, und dann hat es eine eigne Politik, die not-
wendigerweise weder deutsch noch französisch ist und daher uns
nicht schädlicher sein kann als den Franzosen; oder es bleibt
zersplittert, und dann sichert uns die Zersplitterung Bundesge-
nossen in Italien bei jedem Krieg mit Frankreich.
Soviel ist jedenfalls sicher: Ob wir die Lombardei haben oder
nicht, einen bedeutenden Einfluß in Italien haben wir immer,
s o l a n g e w i r z u H a u s e s t a r k s i n d. Über-
lassen wir es Italien, seine eignen Sachen selbst abzumachen, so
#253# Po und Rhein
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hört der Haß der Italiener gegen uns von selbst auf, und unser
natürlicher Einfluß auf sie wird jedenfalls viel bedeutender und
kann sich unter Umständen zur wirklichen Hegemonie steigern.
Statt also unsre Stärke im Besitz fremden Bodens zu suchen und in
der Unterdrückung einer fremden Nationalität, der nur das Vorur-
teil die Zukunftsfähigkeit absprechen kann, werden wir besser
tun, dafür zu sorgen, daß wir i n u n s r e m e i g n e n
H a u s e e i n s u n d s t a r k s i n d.
#254#
-----
III
Was dem einen recht, das ist dem andern billig. Verlangen wir den
Po und den Mincio zum Schutz nicht sowohl gegen die Italiener als
gegen die Franzosen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Fran-
zosen ebenfalls Flußlinien zum Schutz gegen uns in Anspruch neh-
men.
Der Schwerpunkt Frankreichs liegt nicht im Zentrum an der Loire,
bei Orléans, sondern im Norden, an der Seine, in Paris; und zwei-
malige Erfahrung beweist, daß mit Paris ganz Frankreich fällt
[125]. Die militärische Bedeutung der Grenzkonfiguration
Frankreichs richtet sich also vor allem nach dem Schutz, den sie
Paris gewährt,
Von Paris bis Lyon, Basel, Straßburg, Lauterburg in gerader Linie
ist [es] ungefähr gleich weit, fünfundfünfzig Meilen etwa. Jede
Invasion Frankreichs von Italien aus, mit Paris zum Objekt, muß
aber in der Gegend von Lyon, zwischen Rhône und Loire, oder nörd-
licher vordringen, wenn sie nicht ihre Verbindungen gefährden
will. Die Alpengrenze Frankreichs also, südlich von Grenoble,
kommt bei einem Vorrücken gegen Paris nicht in Betracht; Paris
ist von dieser Seite her vollständig gedeckt.
Von Lauterburg an verläßt die französische Grenze den Rhein und
wendet sich, im rechten Winkel gegen ihn, nach Nordwesten; sie
bildet von Lauterburg bis Dünkirchen eine so gut wie gerade Li-
nie. Der Kreisbogen, den wir mit dem Radius Paris - Lyon über Ba-
sel und Straßburg bis Lauterburg beschrieben, wird also hier un-
terbrochen; die französische Nordgrenze bildet vielmehr die Sehne
zu diesem Bogen, und das Kreissegment jenseits dieser Sehne ge-
hört nicht zu Frankreich. Die kürzeste Verbindungslinie von Paris
nach der Nordgrenze, die Linie Paris - Möns, ist nur halb so lang
wie der Radius Paris - Lyon oder - Straßburg.
In diesen einfachen geometrischen Verhältnissen ist der Grund ge-
geben, warum Belgien das Schlachtfeld aller im Norden geführten
Kriege zwischen Deutschland und Frankreich sein muß. Belgien um-
geht das ganze östliche Frankreich von Verdun und der Obermarne
bis an den Rhein. Das heißt: Eine
#255# Po und Rhein
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von Belgien eindringende Armee kann eher bei Paris sein als eine
über Verdun oder Chaumont hinaus nach dem Rhein zu stehende fran-
zösische Armee zurück sein kann; die aus Belgien vordringende Ar-
mee kann sich also bei erfolgreicher Offensive stets zwischen Pa-
ris und die französische Mosel- oder Rheinarmee einkeilen; um so
mehr, als der Weg von der belgischen Grenze nach den die Umgehung
entscheidenden Punkten an der Marne (Meaux, Château-Thierry,
Epernay) noch kürzer ist als der nach Paris selbst.
Damit nicht genug. Auf der ganzen Linie, von der Maas bis zur
See, steht in der Richtung auf Paris dem Feinde nicht das aller-
geringste Terrainhindernis entgegen, bis er an die Aisne und die
untere Oise kommt, die aber für die Verteidigung von Paris gegen
Norden ziemlich ungünstig verlaufen. Weder 1814 noch 1815 legten
sie dem Angriff ernsthafte Schwierigkeiten in den Weg. Aber auch
zugegeben, daß sie in den Bereich des durch die Seine und ihre
Nebenflüsse gegebenen Verteidigungssystems gezogen werden können
und 1814 teilweise hineingezogen wurden, so ist doch damit
gleichzeitig als Tatsache ausgesprochen, daß die eigentliche Ver-
teidigung Nordfrankreichs erst bei Compiègne und Soissons anfängt
und daß die erste Defensivposition, die Paris gegen Norden deckt,
nur zwölf Meilen von Paris liegt.
Eine schwächere Grenze als die französische gegen Belgien ist für
einen Staat nicht leicht zu denken. Man weiß, welche Mühe sich
Vauban gegeben hat, den Mangel natürlicher Verteidigungsmittel
durch künstliche zu ersetzen; man weiß auch, wie 1814 und 1815
der Angriff durch den dreifachen Festungsgürtel hindurchdrang,
fast ohne Notiz von ihm zu nehmen. Man weiß, wie 1815 Festung auf
Festung den Angriffen eines einzigen preußischen Korps nach uner-
hört kurzer Belagerung und Beschießung erlag. Avesnes ergab sich
am 22. Juni 1815, nachdem es einen halben Tag aus zehn
Feldhaubitzen beschossen worden. Guise ergab sich an zehn Feldge-
schütze, ohne einen Schuß zu tun. Maubeuge kapitulierte nach 14
Tagen offener Tranchée am 13. Juli. Landrecies öffnete seine Tore
am 21. Juli nach 36 Stunden offener Tranchée und zweistündiger
Beschießung, nachdem nur 126 Bomben und 52 Vollkugeln von den Be-
lagerern abgefeuert waren. Mariembourg verlangte nur pro forma
die Ehren einer offenen Tranchée und einer einzigen vierundzwan-
zigpfündigen Kugel und kapitulierte am 28. Juli. Philippeville
hielt zwei Tage offener Tranchée und einige Stunden Beschießung,
Rocroi 26 Stunden offener Laufgräben und zwei Stunden Bombarde-
ment aus. Nur Mézières hielt sich 18 Tage lang nach Eröffnung der
Laufgräben. Es war eine Kapitulationswut unter den Kommandanten,
die der in Preußen nach der Schlacht von Jena nicht viel nachgab;
und wenn man anführt, daß diese Plätze 1815 verfallen, schwach
garnisoniert und schlecht ausgerüstet waren, so ist doch nicht
#256# Friedrich Engels
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zu vergessen, daß mit einzelnen Ausnahmen diese Festungen
s t e t s vernachlässigt sein müssen. Der Vaubansche dreifache
Gürtel hat heutzutage allen Wert verloren, er ist ein positiver
Schaden für Frankreich. Keine der Festungen westlich der Maas
deckt, für sich, irgendeinen Terrainabschnitt, und nirgends las-
sen sich vier oder fünf auffinden, die zusammen eine Gruppe bil-
den, innerhalb deren eine Armee Deckung findet und zugleich Manö-
vrierfähigkeit behält. Dies kommt daher, daß keine an einem
großen Flusse liegt. Die Lys, die Scheide, die Sambre bekommen
Bedeutung für den Krieg erst auf belgischem Gebiet; und so er-
streckt sich die Wirkung dieser im freien Felde zerstreut liegen-
den Festungen nicht über die Schußweite ihrer Kanonen hinaus. Mit
Ausnahme von ein paar großen Depotplätzen an der Grenze, die ei-
ner Offensive nach Belgien zur Basis dienen können, und einigen
Punkten an der Maas und Mosel, die strategische Wichtigkeit ha-
ben, dienen alle übrigen festen Plätze und Forts an der französi-
schen Nordgrenze nur zur nutzlosesten Verzettelung der Streit-
kräfte. Jede Regierung, die sie schleifte, würde Frankreich einen
Dienst tun; aber was würde der französische traditionelle Aber-
glaube dazu sagen?
Die französische Nordgrenze ist also im höchsten Grade ungünstig
zur Verteidigung, sie ist in der Tat gar nicht zu verteidigen,
und der Vaubansche Festungsgürtel, statt sie zu verstärken, ist
heutzutage nur noch ein Eingeständnis und Denkmal ihrer Schwäche.
Wie die mitteleuropäischen Großmachtstheoretiker in Italien, so
sehen sich auch die Franzosen jenseits ihrer Nordgrenze nach ei-
ner Flußlinie um, die ihnen eine gute Defensivstellung gewähren
würde. Welche könnte dies sein?
Die erste Linie, die sich darbietet, wäre die der Unterscheide
und der Dyle, fortgesetzt bis an die Mündung der Sambre in die
Maas. Diese Linie würde die bessere Hälfte Belgiens zu Frankreich
schlagen. Sie würde fast alle berühmten belgischen Schlachtfelder
in sich schließen, auf denen Franzosen und Deutsche sich bekämpft
haben: Oudenarde, Jemappes, Fleurus, Ligny, Waterloo [126]. Aber
sie bildet noch immer keine Defensivlinie, sie ließe zwischen
Scheide und Maas eine große Lücke, durch die der Feind ungehin-
dert eindringen kann.
Die zweite Linie wäre die Maas selbst. Wenn Frankreich das linke
Maasufer hätte, so würde es noch nicht einmal so günstig gestellt
sein wie Deutschland, wenn es in Italien nur die Etschlinie be-
säße. Die Etschlinie arrondiert ziemlich vollständig, die Maas
nur sehr unvollkommen. Wenn sie von Namur nach Antwerpen flösse,
so würde sie eine viel bessere Grenzlinie bilden. Statt dessen
aber verläuft sie von Namur aus nordöstlich und strömt erst jen-
seits Venlo in einem großen Bogen der Nordsee zu.
#257# Po und Rhein
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Das ganze nördlich von Namur zwischen Maas und See gelegene Ge-
biet würde im Kriege nur durch seine Festungen gedeckt sein; denn
ein feindlicher Maasübergang würde die französische Armee immer
in der Ebene von Südbrabant finden, und eine französische Offen-
sive auf das deutsche linke Rheinufer stieße sofort auf die
starke Rheinlinie, und zwar ganz direkt auf das verschanzte Lager
von Köln. Der einspringende Winkel der Maas zwischen Sedan und
Lüttich trägt ferner dazu bei, die Linie zu schwächen, trotzdem
er durch die Ardennen ausgefüllt wird. Die Maaslinie gibt also
den Franzosen an einer Stelle zuviel, an der andern zuwenig für
eine gute Grenzverteidigung. Gehen wir also weiter.
Setzen wir den einen Fuß unseres Zirkels auf der Karte wieder auf
Paris und beschreiben mit dem Radius Paris - Lyon einen Bogen von
Basel bis an die Nordsee, so finden wir, daß der Lauf des Rheins
v o n B a s e l b i s z u s e i n e r M ü n d u n g mit ei-
ner merkwürdigen Genauigkeit d i e s e m B o g e n folgt. Bis
auf wenige Meilen sind alle wichtigen Punkte am Rhein gleich weit
von Paris entfernt. D i e s i s t d e r e i g e n t l i-
c h e , r e e l l e G r u n d d e s f r a n z ö s i s c h e n
V e r l a n g e n s n a c h d e r R h e i n g r e n z e.
Hat Frankreich den Rhein, so ist Paris, Deutschland gegenüber,
wirklich der Mittelpunkt Frankreichs. Alle Radien, die von Paris
der angreifbaren Grenze zulaufen, sei es an den Rhein, sei es an
den Jura, sind gleich lang. Überall wird dem Feind die konvexe
Peripherie des Kreises dargeboten, hinter der er auf Umwegen ma-
növrieren muß, während die französischen Armeen auf der kürzeren
Sehne sich bewegen und dem Feind zuvorkommen können. Die gleich
langen Operations- und Rückzugslinien der verschiedenen Armeen
erleichtern einen konzentrischen Rückzug ungemein und damit an
einem gegebenen Punkt die Möglichkeit, zwei dieser Armeen zu ei-
nem Hauptschlage gegen den noch getrennten Feind zu vereinigen.
Mit dem Besitz der Rheingrenze würde das Verteidigungssystem
Frankreichs, was die n a t ü r l i c h e n Voraussetzungen be-
trifft, eins von denjenigen sein, die der General Willisen
"ideale" nennt, die gar nichts mehr zu wünschen übriglassen. Das
starke innere Verteidigungssystem des Seinebassins, durch die fä-
cherförmig der Seine zuströmenden Flüsse Yonne, Aube, Marne,
Aisne und Oise gebildet, dies Flußsystem, an dem Napoleon 1814
den Alliierten so derbe strategische Lektionen erteilte [127],
wird dadurch erst nach jeder Richtung gleichmäßig gedeckt; der
Feind kommt von allen Seiten ziemlich gleichzeitig heran und kann
an den Flüssen aufgehalten werden, bis die französischen Armeen
mit vereinigten Kräften jede seiner isolierten Kolonnen einzeln
anzugreifen imstande sind; während ohne die Rheinlinie am ent-
scheidendsten Punkt, bei Compiègne und Soissons, die Verteidigung
erst 12 Meilen von
#258# Friedrich Engels
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Paris zum Stehen kommen kann. In keinem Gebiet Europas würde die
Verteidigung in der plötzlichen Konzentration großer Kräfte so
durch die Eisenbahnen unterstützt werden wie in dem Lande zwi-
schen Seine und Rhein. Von dem Zentrum Paris laufen die Eisen-
bahnradien nach Boulogne, Brügge, Gent, Antwerpen, Maastricht,
Lüttich und Köln, nach Mannheim und Mainz über Metz, nach Straß-
burg, nach Basel, nach Dijon und Lyon. An welchem Punkt auch der
Feind am stärksten auftreten möge, überall kann ihm von Paris aus
auf der Eisenbahn die ganze Macht der Reservearmee entgegen-
geworfen werden. Die innere Verteidigung des Seinebassins wird
speziell noch dadurch verstärkt, daß innerhalb desselben alle Ei-
senbahnradien durch die Flußtäler verlaufen (Oise, Marne, Seine,
Aube, teilweise Yonne). Damit aber nicht genug. Drei konzentri-
sche Eisenbahnbogen laufen in der Länge mindestens eines Qua-
dranten um Paris in ziemlich gleichen Entfernungen herum: der er-
ste durch die linksrheinischen Eisenbahnen, die nun schon fast
ohne Unterbrechung von Neuß bis Basel laufen; der zweite geht von
Ostende und Antwerpen über Namur, Arlon, Thionville, Metz und
Nancy auf Epinal und ist ebenfalls so gut wie vollendet; der
dritte endlich läuft von Calais über Lille, Douai, St.-Quentin,
Reims, Châlons-sur-Marne und St.-Dizier nach Chaumont. Hier sind
also in allen Ecken und Enden die Mittel gegeben, Massen von
Truppen in der kürzesten Zeit auf einem beliebigen Punkt zu kon-
zentrieren, und hier wäre durch Natur und Kunst und ohne alle Fe-
stungen die Verteidigung durch Manövrierfähigkeit so stark, daß
eine Invasion Frankreichs auf ganz andern Widerstand zu rechnen
hätte, als sie 1814 und 1815 fand.
Eins nur würde dem Rhein als Grenzstrom fehlen. Solange das eine
Ufer ganz deutsch, das andere ganz französisch ist, solange be-
herrscht keines der beiden Völker ihn. Einer überlegnen Armee,
welcher Nation sie auch angehöre, könnte der Übergang nirgends
bestritten werden; das haben wir hundertmal gesehen, und die
Strategie gibt die Gründe an, warum dem so sein muß. Bei einer
überlegnen deutschen Offensive käme die französische Verteidigung
erst weiter zurück zum Stehen: die Nordarmee an der Maas zwischen
Venlo und Namur; die Moselarmee an der Mosel, beim Einfluß der
Saar etwa; die Oberrheinarmee an der Obermosel und Obermaas. Um
den Rhein vollständig zu beherrschen, um einem feindlichen Fluß-
übergang energisch entgegentreten zu können, müßten die Franzosen
also Brückenköpfe auf dem rechten Rheinufer haben. Es war von Na-
poleon also ganz konsequent, daß er Wesel, Kastel und Kehl dem
französischen Kaiserreich ohne weiteres einverleibte [128]. Wie
die Sachen jetzt stehn, würde sich sein Neffe zur Ergänzung der
schönen Festungen, die ihm die Deutschen aufs linke Rheinufer ge-
baut haben, außerdem
#259# Po und Rhein
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dem noch Ehrenbreitstein, Deutz und zur Not auch den Germershei-
mer Brückenkopf ausbitten. Dann wäre das militärgeographische Sy-
stem Frankreichs nach Offensive und Defensive vollkommen, und je-
des neue Anhängsel könnte nur schaden. Und wie sehr in der Natur
begründet und sich von selbst verstehend dies System aussieht,
davon haben die Alliierten 1813 ein schlagendes Zeugnis abgelegt.
Seit kaum 17 Jahren hatte Frankreich dies System sich eingerich-
tet, und doch verstand es sich schon so von selbst, daß die hohen
Verbündeten, trotz ihrer Übermacht und der Wehrlosigkeit
Frankreichs, zurückschauderten vor dem Gedanken, daran zu rüt-
teln, wie vor einem Sakrileg; und wenn die deutschnationalen Ele-
mente der Bewegung sie nicht fortgerissen hätten, so wäre der
Rhein noch heute ein französischer Strom.
Wenn wir aber den Franzosen nicht nur den Rhein, sondern auch die
Brückenköpfe des rechten Ufers abgetreten haben, dann erst haben
die Franzosen sich selbst gegenüber die Pflicht erfüllt, die wir
nach der Meinung von Radowitz, Willisen und Hailbronner gegen uns
erfüllen, indem wir Etsch und Mincio mit den Brückenköpfen Pe-
schiera und Mantua behaupten. Dann aber haben wir auch Deutsch-
land den Franzosen gegenüber so total ohnmächtig gemacht, wie
Italien es jetzt gegenüber Deutschland ist. Und dann würde, wie
1813, Rußland der natürliche "Befreier" Deutschlands (wie Frank-
reich oder vielmehr die französische Regierung jetzt als
"Befreier" Italiens auftritt) und würde sich zum Lohn seiner un-
eigennützigen Anstrengungen nur einige kleine Landstriche zur Ar-
rondierung Polens ausbitten - etwa Galizien und Preußen; denn
durch diese ist Polen ja auch "umgangen"!
Was für uns die Etsch und der Mincio, das, und noch viel Wichti-
geres, ist für Frankreich der Rhein. Umgeht das Venetianische in
den Händen Italiens, und eventuell Frankreichs, Bayern und den
Oberrhein und legt die Straße nach Wien bloß, so umgeht Belgien
und Deutschland durch Belgien ganz Ostfrankreich und legt die
Straße nach Paris noch viel wirksamer bloß. Vom Isonzo bis Wien
sind immer noch sechzig Meilen, in einem Terrain, wo die Vertei-
digung immer noch einigermaßen zum Stehen kommen kann; von der
Sambre bis Paris sind dreißig Meilen, und erst zwölf Meilen vor
Paris, bei Soissons oder Compiègne, findet die Defensive eine ei-
nigermaßen deckende Flußlinie. Begibt sich Deutschland, nach Ra-
dowitz, durch Aufgeben des Mincio und der Etsch von vornherein in
die Lage, in die es sonst durch den Verlust eines ganzen Feldzugs
käme, so ist Frankreich mit seinen jetzigen Grenzen so gestellt,
als hätte es die Rheingrenze gehabt und zwei Kampagnen verloren,
die eine um die Festungen an Rhein und Maas, die zweite im Feld
in der belgischen Ebene. Selbst die starke Position der oberita-
lischen Festungen findet sich einigermaßen wiederholt am Nieder-
rhein und der Maas;
#260# Friedrich Engels
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wäre nicht aus Maastricht, Köln, Jülich, Wesel und Venlo mit ge-
ringer Nachhülfe und etwa zwei Zwischenpunkten ein ebenso starkes
System zu machen, das Belgien und Nordbrabant vollständig deckte,
das einer für das Feld zu schwachen französischen Armee erlaubte,
eine viel stärkere feindliche durch Manövrieren an den Flüssen
festzuhalten und schließlich mittelst der Eisenbahnen sich unge-
hindert in die belgische Ebene oder auf Douai zurückzuziehen?
Wir haben während dieser ganzen Untersuchung angenommen, daß Bel-
gien den Deutschen zum Angriff auf Frankreich vollständig offen-
stehe und mit ihnen alliiert sei. Da wir vom französischen Stand-
punkt aus argumentieren mußten, so hatten wir dasselbe Recht dazu
wie unsre Gegner am Mincio, wenn sie Italien - auch ein freies
und vereinigtes Italien - als den Deutschen stets feindlich an-
nahmen. In allen solchen Dingen ist es ganz in der Ordnung, daß
man den schlimmsten Fall zuerst untersucht, sich auf ihn zunächst
gefaßt macht; und so müssen die Franzosen verfahren, wenn sie
heute die Verteidigungsfähigkeit und die strategische Konfigura-
tion ihrer Nordgrenze ins Auge fassen. Daß Belgien durch europäi-
sche Verträge ein neutrales Land ist, ebenso wie die Schweiz,
können wir hier unbeachtet lassen. Erstens muß die geschichtliche
Praxis erst noch beweisen, daß diese Neutralität bei einem euro-
päischen Kriege mehr ist als ein Blatt Papier, und zweitens wird
Frankreich in keinem Fall so fest auf sie rechnen können, daß es
die ganze Grenze gegen Belgien militärisch so behandeln dürfte,
als bildete dies Land einen deckenden Meerbusen zwischen
Frankreich und Deutschland/Die Schwäche der Grenze bleibt also
schließlich dieselbe, ob sie nun wirklich aktiv verteidigt wird
oder ob nur Truppen detachiert werden, die sie gegen mögliche An-
griffe besetzen.
Wir haben die Parallele zwischen Po und Rhein nun so ziemlich
durchgeführt. Abgesehen von den größeren Dimensionen am Rhein,
die aber den französischen Anspruch nur verstärken würden, ist
die Analogie so vollkommen, wie sie nur gewünscht werden kann.
Man muß hoffen, daß im Falle des Kriegs die deutschen Soldaten
den Rhein am Po praktisch mit besserem Erfolg verteidigen, als
die mitteleuropäischen Großmachtspolitiker dies theoretisch tun.
Sie verteidigen am Po allerdings den Rhein, aber - n u r f ü r
d i e F r a n z o s e n.
Für den Fall übrigens, daß die Deutschen auch einmal so unglück-
lich sein sollten, ihre "natürliche Grenze", den Po und Mincio,
zu verlieren, für diesen Fall wollen wir doch die Analogie noch
etwas weiterführen. Die Franzosen besaßen ihre "natürliche
Grenze" nur siebenzehn Jahre und haben sich nun schon fast fün-
fundvierzig Jahre ohne sie behelfen müssen. Während dieser
#261# Po und Rhein
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Zeit sind ihre besten Militärs denn auch noch theoretisch zu der
Einsicht gekommen, daß die Nutzlosigkeit des Vaubanschen Fe-
stungsgürtels gegen eine Invasion in den Gesetzen der modernen
Kriegskunst begründet ist, daß also 1814 und 1815 weder Zufall
noch die vielbeliebte "trahison" 1*) den Alliierten erlaubte, un-
bekümmert zwischen den Festungen durchzumarschieren. Daß zur Si-
cherung der exponierten Nordgrenze etwas geschehen mußte, war
hiernach erst recht augenscheinlich. Trotzdem lag auf der Hand,
daß keine Aussicht da war, die Rheingrenze so bald zu erhalten.
Was war zu tun?
Die Franzosen halfen sich in einer Weise, die einem großen Volk
Ehre macht: Sie befestigten Paris, sie machten zum ersten Male in
der neueren Geschichte den Versuch, ihre Hauptstadt in ein ver-
schanztes Lager im kolossalsten Maßstab umzuwandeln. Die Kriegs-
gelehrten der alten Schule schüttelten den Kopf über dies unver-
ständige Unternehmen. Geld weggeworfen, rein der französischen
Großprahlerei zu Gefallen! Nichts dahinter, pure Windbeutelei,
wer hat je von einer Festung gehört, die neun Meilen im Umkreis
und eine Million Bewohner hat! Wie soll sie verteidigt werden,
wenn man nicht die halbe Armee als Garnison hineinlegt? Wie soll
man diese Menschen alle verproviantieren? Wahnsinn, französische
Überhebung, gottloser Frevel, Wiederholung des Turmbaus zu Babel!
So beurteilte der militärische Zopf das neue Unternehmen, der-
selbe Zopf, der den Belagerungskrieg an einem Vaubanschen
Sechseck studiert und dessen passive Methode der Verteidigung
keinen größeren offensiven Rückschlag kennt als den Ausfall eines
Zugs Infanterie vom bedeckten Weg bis an den Glacisfuß! Die Fran-
zosen aber bauten ruhig fort und haben die Genugtuung gehabt,
daß, obwohl Paris die Feuerprobe noch nicht bestanden, die
zopflosen Militärs von ganz Europa ihnen recht gegeben haben, daß
Wellington Pläne zur Befestigung von London machte, daß um Wien,
wenn wir nicht irren, der Bau detachierter Forts schon begonnen
hat und daß die Befestigung Berlins wenigstens diskutiert wird.
Sie haben selbst an dem Beispiel von Sewastopol erfahren müssen,
weiche enorme Stärke ein kolossales verschanztes Lager hat, wenn
es von einer ganzen Armee besetzt, die Verteidigung im größten
Maßstabe offensiv geführt wird. Und Sewastopol hatte nur einen
Ringwall, keine detachierten Forts, nur Feldwerke, keine gemauer-
ten Eskarpen!
Seitdem Paris befestigt ist, kann Frankreich die Rheingrenze ent-
behren. Wie Deutschland in Italien, wird es seine Verteidigung an
der Nordgrenze zunächst offensiv zu führen haben. Daß dies ver-
standen worden ist, das beweist die Disposition des Eisenbahnnet-
zes. Wird diese Offensive zurückgeschlagen,
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1*) "Verräterei"
#262# Friedrich Engels
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geschlagen, so kommt die Armee an Oise und Aisne zum Stehen, und
zwar definitiv; denn ein weiteres Vordringen des Feindes würde
keinen Zweck mehr haben, da die aus Belgien kommende Invasionsar-
mee doch allein zu schwach wäre, gegen Paris zu agieren. Hinter
der Aisne, in sichrer Verbindung mit Paris, im schlimmsten Falle
hinter der Marne, den linken Flügel an Paris angelehnt, in offen-
siver Seitenstellung, könnte die französische Nordarmee die An-
kunft der übrigen Armeen abwarten. Dem Feind bliebe nichts übrig,
als auf Château-Thierry vorzugehn und gegen die Verbindungen der
französischen Mosel- und Rheinarmeen zu operieren. Aber die Ak-
tion wäre lange nicht mehr von der entscheidenden Wichtigkeit wie
vor der Befestigung von Paris. Im schlimmsten Fall kann den übri-
gen französischen Armeen der Rückzug hinter die Loire nicht abge-
schnitten werden; dort konzentriert, werden sie immer noch stark
genug sein, der durch die Zernierung von Paris geschwächten und
geteilten Invasionsarmee gefährlich zu werden oder sich nach Pa-
ris hinein durchzuschlagen. Mit einem Wort: Der Umgehung durch
Belgien ist durch die Befestigung von Paris die Spitze abgebro-
chen, sie entscheidet nicht mehr, und man kann die Nachteile, die
sie bringt, und die Mittel, die dagegen anzuwenden sind, einfach
berechnen.
Das Beispiel der Franzosen werden wir wohl tun nachzuahmen. Statt
uns betäuben zu lassen durch das Geschrei von der Unentbehrlich-
keit einer außerdeutschen Besitzung, die Tag für Tag unhaltbarer
für Deutschland wird, täten wir besser, uns auf den unvermeidli-
chen Moment vorzubereiten, wo wir Italien aufgeben werden. Je
früher die uns dann nötigen Befestigungen im voraus angelegt wer-
den, desto besser. Wo und wie sie anzulegen sind, darüber mehr zu
sagen als die früher hingeworfenen Andeutungen, ist nicht unseres
Amts. Nur lege man nicht illusorische Sperrpunkte an und vernach-
lässige, im Verlaß darauf, die einzigen Befestigungen, die eine
zurückgehende Armee zum Stehen bringen können: verschanzte Lager
und Festungsgruppen an Flüssen.
#263#
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IV
Wir haben jetzt gesehen, wohin die von den mitteleuropäischen
Großmachtspolitikern aufgestellte Theorie der natürlichen Grenzen
führt. Dasselbe Recht, das Deutschland auf den Po hat, hat
Frankreich auf den Rhein. Soll Frankreich nicht um einer guten
militärischen Position willen sich neun Millionen Wallonen, Nie-
derländer und Deutsche einverleiben, so haben wir auch kein
Recht, sechs Millionen Italiener um einer militärischen Stellung
willen zu unterjochen. Und diese natürliche Grenze, der Po, ist
doch am Ende nur eine militärische Position, und nur darum, sagt
man uns, soll Deutschland ihn behaupten.
Die Theorie der natürlichen Grenzen macht der schleswig-holstei-
nischen Frage mit dem einen Ruf ein Ende: Danmark til Eideren!
Dänemark bis zur Eider! [129] Was verlangen denn die Dänen anders
als ihren Po und Mincio, der Eider heißt, ihr Mantua, genannt
Friedrichstadt?
Die Theorie der natürlichen Grenzen verlangt mit demselben Recht,
auf das Deutschland sich am Po stützt, für Rußland Galizien und
die Bukowina und eine Arrondierung nach der Ostsee zu, die minde-
stens das ganze preußische rechte Weichselufer in sich schließt.
Sie wird wenige Jahre später mit demselben Recht die Anforderung
stellen können, daß die Oder die natürliche Grenze Russisch-Po-
lens sei.
Die Theorie der natürlichen Grenzen, auf Portugal angewandt, ist
gezwungen, dies Land bis an die Pyrenäen auszudehnen und ganz
Spanien in Portugal aufgehn zu lassen.
Die natürliche Grenze von Reuß-Greiz-Schleiz-Lobenstein [130]
wird ebenfalls mindestens bis an die Grenze des deutschen Bundes-
gebiets und darüber hinaus bis an den Po und vielleicht an die
Weichsel ausgedehnt werden müssen, wenn anders den Gesetzen der
ewigen Gerechtigkeit Rechnung getragen werden soll, und Reuß-
Greiz-Schleiz-Lobenstein hat ebensoviel Anspruch, daß ihm sein
Recht werde, wie Östreich.
#264# Friedrich Engels
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Wenn die Theorie der natürlichen, d.h. ausschließlich durch mili-
tärische Erwägungen festgestellten Grenzen richtig ist, welchen
Namen sollen wir dann den deutschen Diplomaten geben, die auf dem
Wiener Kongreß [131] uns an den Rand eines Kriegs Deutscher gegen
Deutsche brachten, uns die Maaslinie entgehen ließen, die deut-
sche Ostgrenze bloßlegten und es dem Ausland überließ[en],
Deutschland einzugrenzen und zu repartieren? Wahrlich, kein Land
hat soviel Ursache, sich über den Wiener Kongreß zu beklagen, als
Deutschland; aber wenn wir den Maßstab der natürlichen Grenzen
anlegen, wie sieht es dann erst mit der Reputation der deutschen
Staatsmänner von damals aus? Und gerade dieselben Leute, die die
Theorie der natürlichen Grenzen am Po verteidigen, leben von dem
Nachlaß der Diplomaten von 1815 und setzen die Tradition des Wie-
ner Kongresses fort.
Wollt ihr ein Beispiel davon?
Als Belgien sich 1830 von Holland losriß [132], da erhoben die-
selben Leute ihre Stimme, die jetzt den Mincio zu einer Lebens-
frage machen. Sie riefen Zeter über die Zerstückelung der starken
niederländischen Grenzmacht, die ein Bollwerk gegen Frankreich
bilden sollte und die sich sogar - nach allen Erfahrungen von
zwanzig Jahren noch soviel Aberglaube! - hatte verpflichten müs-
sen, um den in seiner Art wenigstens großartigen Vaubanschen
Festungsgürtel ein dünnes Bändchen von Festungen herumzulegen.
Als fürchteten die Großmächte, Arras und Lille und Douai und Va-
lenciennes würden eines schönen Morgens mit all ihren Bastionen,
Demilünes und Lünetten nach Belgien hineinmarschieren und sich
dort häuslich niederlassen! Damals wehklagten die Repräsentanten
derselben bornierten Richtung, die wir hier bekämpfen, Deutsch-
land sei in Gefahr, denn Belgien sei nur ein willenloses An-
hängsel von Frankreich, ein notwendiger Feind Deutschlands, und
die wertvollen Festungen, die mit deutschem (d.h. den Franzosen
abgenommenem) Gelde gebaut seien als Schutz gegen Frankreich, die
ständen jetzt den Franzosen gegen uns zu Gebote. Die französische
Grenze sei bis an und über die Maas und Scheide vorgerückt, wie
lange werde es dauern, bis sie an den Rhein vorgeschoben werde.
Die meisten von uns erinnern sich dieser Lamentationen noch ganz
deutlich. Und was ist geschehen? Belgien hat sich seit 1848 und
besonders seit der bonapartischen Restauration immer entschiedner
von Frankreich abgewandt und Deutschland genähert. Es kann jetzt
sogar schon für ein auswärtiges Mitglied des Deutschen Bundes
[61] gelten. Und was- taten die Belgier, sobald sie sich mit
Frankreich in eine Art Opposition setzten? Sie schleiften alle
die Festungen, die die Weisheit des Wiener Kongresses dem Lande
oktroyiert hatte, als v o l l s t ä n d i g n u t z l o s g e-
g e n F r a n k r e i c h und errichteten um Antwerpen ein
verschanztes Lager, groß genug, die ganze
#265# Po und Rhein
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Armee aufzunehmen und dort im Falle einer französischen Invasion
englischen oder deutschen Sukkurs abwarten zu können. Und mit
Recht.
Dieselbe weise Politik, die 1830 mit Gewalt das katholische, vor-
zugsweise französisch sprechende Belgien an das protestantische,
holländisch redende Holland gefesselt halten wollte, dieselbe
weise Politik will seit 1848 Italien mit Gewalt unter dem östrei-
chischen Druck halten und uns Deutsche für Östreichs Handlungen
in Italien verantwortlich machen. Und alles das aus reiner Furcht
vor Frankreich. Der ganze Patriotismus dieser Herren scheint
darin zu bestehen, daß sie in eine fieberhafte Aufregung geraten,
sobald von Frankreich die Rede ist. Sie scheinen die Schläge noch
immer nicht verwunden zu haben, die der alte Napoleon vor fünfzig
und sechzig Jahren austeilte. Wir gehören wahrlich nicht zu
denen, die die Kriegsmacht Frankreichs unterschätzen. Wir wissen
sehr gut, daß z.B., was leichte Infanterie angeht und Erfahrung
und Geschick im kleinen Krieg und gewisse Seiten der Artillerie-
wissenschaft, keine Armee in Deutschlandsich mit der französi-
schen messen kann. Aber wenn Leute erst mit den zwölfhunderttau-
send Soldaten Deutschlands um sich werfen, als ständen sie da,
fix und fertig wie Schachfiguren, mit denen der Herr Dr. Kolb
eine Partie gegen Frankreich um Elsaß und Lothringen spielt [133]
- und wenn dieselben Leute dann bei jeder Gelegenheit eine Zag-
haftigkeit an den Tag legen, als verstände es sich von selbst,
daß diese zwölfhunderttausend Mann von halb soviel Franzosen in
die Pfanne gehauen werden müßten, es sei denn, daß besagte Zwölf-
hunderttausend sich in lauter uneinnehmbare Positionen verkrie-
chen - so ist es wahrlich hohe Zeit, daß man die Geduld verliert.
Es ist Zeit, dieser Politik der passiven Defensive gegenüber
daran zu erinnern, daß, wenn auch Deutschland im ganzen und
großen auf eine Defensive mit offensiven Rückschlägen angewiesen
sein mag, doch keine Defensive wirksamer ist als die aktive, die
offensiv geführte. Es ist Zeit, daran zu erinnern, daß wir den
Franzosen und andern Nationen gegenüber uns im Angriff oft genug
überlegen gezeigt haben.
"Im übrigen ist das Genie von unseren Soldaten, zu attackieren;
es ist solches auch schon ganz recht",
sagt Friedrich der Große von seiner Infanterie [134]; wie seine
Kavallerie zu attackieren verstand, davon mögen Roßbach, Zorn-
dorf, Hohenfriedberg Zeugnis ablegen [135]. Wie die deutsche In-
fanterie 1813 und 1814 anzugreifen gewohnt war, dafür ist der be-
ste Beweis die bekannte Instruktion Blüchers bei Eröffnung des
Feldzugs von 1815:
"Da die Erfahrung gelehrt hat, daß die französische Armee den Ba-
jonettangriff unsrer Bataillonsmassen nicht auszuhalten vermag,
so ist es Regel, diesen stets auszuführen,
#266# Friedrich Engels
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wo es darauf ankommt, den Feind über den Haufen zu werfen oder
einen Posten zu gewinnen."
Unsre schönsten Schlachten sind Offensivschlachten gewesen, und
wenn der deutsche Soldat einer bestimmten Qualifikation des fran-
zösischen entbehrt, so ist es erwiesenermaßen derjenigen, sich
defensiv in Dörfern und Häusern einzunisten; im Angriff kann er
sich schon neben ihm sehen lassen und hat es oft genug getan.
Was übrigens diese Politik selbst betrifft, abgesehen von den zu-
grunde liegenden Motiven, so besteht sie darin: zuerst unter dem
Vorwande der Verteidigung angeblicher oder bis ins Absurde über-
triebener deutscher Interessen uns bei allen kleineren Grenznach-
barn verhaßt zu machen und dann sich darüber zu entrüsten, daß
diese sich mehr an Frankreich anschließen. Es waren fünf Jahre
bonapartischer Restauration nötig, um Belgien von der französi-
schen Allianz zu trennen, in die die Politik von 1815, fortge-
setzt 1830, die Politik der Heiligen Allianz [136], es gejagt
hatte; und in Italien haben wir den Franzosen eine Position ge-
macht, die die Minciolinie wahrlich aufwiegt. Und dennoch ist die
französische Politik gegenüber Italien immer borniert, engherzig,
ausbeutend gewesen, so daß die Italiener bei irgend loyaler Be-
handlung von unserer Seite unbedingt mehr zu uns gehalten hätten
als zu Frankreich. Wie sie von 1796 bis 1814 von Napoleon und
seinen Statthaltern und Generalen an Geld, Naturalien, Kunst-
schätzen und Menschen ausgesogen worden sind, ist bekannt genug.
1814 kamen die Östreicher als "Befreier" und wurden als Befreier
aufgenommen. (Wie sie Italien befreit haben, davon zeugt der Haß,
den heute jeder Italiener gegen die Tedeschi 1*) hat.) Soviel
über die Praxis der französischen Politik in Italien; über die
Theorie brauchen wir bloß zu sagen, daß sie nur e i n e n
Grundsatz kennt: F r a n k r e i c h k a n n n i e e i n
e i n h e i t l i c h e s u n d u n a b h ä n g i g e s I t a-
l i e n d u l d e n. Bis auf Louis-Napoleon herab steht dieser
Grundsatz fest, und damit allen Mißverständnissen vorgebeugt
werde, muß La Guéronnière ihn jetzt abermals als ewige Wahrheit
proklamieren [137]. Und einer so bornierten spießbürgerlichen
Politik Frankreichs gegenüber, einer Politik, die das Recht der
Einmischung in die innern Angelegenheiten Italiens ohne weiteres
in Anspruch nimmt - einer solchen Politik gegenüber sollten wir
Deutsche zu befürchten haben, daß ein nicht mehr unter direkter
deutscher Herrschaft stehendes Italien stets Frankreichs gehor-
samer Diener gegen uns sein werde? Es ist wahrhaft lächerlich. Es
ist das alte Zeter von 1830 wegen Belgien. Belgien ist uns
trotzdem gekommen, ungebeten gekommen, Italien müßte uns ebenso
kommen.
#267# Po und Rhein
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Es muß übrigens durchaus festgehalten werden, daß die Frage um
den Besitz der Lombardei eine Frage zwischen Italien und Deutsch-
land ist, nicht aber zwischen Louis-Napoleon und Östreich. Gegen-
über einem Dritten wie Louis-Napoleon, einem Dritten, der um sei-
ner eignen, in andrer Beziehung antideutschen Interessen willen
sich einmischt, handelt es sich um die einfache Behauptung einer
Provinz, die man nur gezwungen abtritt, einer militärischen Posi-
tion, die man nur räumt, wenn man sie nicht mehr halten kann. Die
politische Frage tritt in diesem Fall sogleich hinter die militä-
rische zurück; werden wir angegriffen, so wehren wir uns.
Wenn Louis-Napoleon als Paladin der italienischen Unabhängigkeit
auftreten will, so kann er sich den Krieg gegen Östreich sparen.
Charité bien ordonnée commence chez soi-même. 1*) Das
"Departement" Korsika ist eine italienische Insel, italienisch,
trotzdem es das Vaterland des Bonapartismus ist. Möge Louis-Napo-
leon seinem Onkel Viktor Emanuel vorerst Korsika abtreten, viel-
leicht lassen wir dann auch mit uns reden. Bis er dies getan hat,
wird er wohl tun, seine Begeisterung für Italien für sich zu be-
halten.
Es ist in ganz Europa keine größere Macht, die nicht Teile andrer
Nationen mit ihrem Gebiete vereinigt hätte. Frankreich hat flämi-
sche, deutsche, italienische Provinzen. England, das einzige
Land, das wirklich natürliche Grenzen besitzt, ist in jeder Rich-
tung über sie hinausgegangen, hat Eroberungen in allen Ländern
gemacht und ist jetzt auch mit einer seiner Dependenzen, den Io-
nischen Inseln [138], in Streit, nachdem es eben eine kolossale
Rebellion in Indien [139] mit echt östreichischen Mitteln nieder-
geschlagen hat. Deutschland hat halbslawische Provinzen, slawi-
sche, magyarische, walachische und italienische Anhängsel. Und
über wieviel Zungen herrscht der weiße Zar von Petersburg!
Daß die Karte von Europa definitiv festgestellt sei, wird kein
Mensch behaupten. Alle Veränderungen, sofern sie Dauer haben,
müssen aber im ganzen und großen darauf hinausgehn, den großen
und lebensfähigen europäischen Nationen mehr und mehr ihre
w i r k l i c h e n natürlichen Grenzen zu geben, die durch
Sprache und Sympathien bestimmt werden, während gleichzeitig die
Völkertrümmer, die sich hier und da noch finden und die einer na-
tionalen Existenz nicht mehr fähig sind, den größeren Nationen
einverleibt bleiben und entweder in ihnen aufgehen oder sich nur
als ethnographische Denkmäler ohne politische Bedeutung erhalten.
[140] Militärische Erwägungen können nur in zweiter Linie gelten.
Soll aber die Karte von Europa revidiert werden, so haben wir
Deutsche
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1*) Eine wohlbeschaffene Mildherzigkeit betätigt sich zunächst
daheim.
#268# Friedrich Engels
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das Recht, zu fordern, daß es gründlich und unparteiisch geschehe
und daß man nicht, wie es beliebte Mode ist, verlange, Deutsch-
land allein solle Opfer bringen, während alle andern Nationen von
ihnen Vorteil haben, ohne das geringste aufzugeben. Wir können
manches entbehren, das an den Grenzen unsres Gebiets herumhängt
und uns in Dinge verwickelt, in die wir uns besser nicht so di-
rekt einmischten. Aber geradeso geht es andern auch; mögen sie
uns das Beispiel der Uneigennützigkeit geben oder schweigen. Das
Endresultat aber dieser ganzen Untersuchung ist, daß wir Deutsche
einen ganz ausgezeichneten Handel machen würden, wenn wir den Po,
den Mincio, die Etsch und den ganzen italienischen Plunder ver-
tauschen könnten gegen d i e E i n h e i t, die uns vor einer
Wiederholung von Warschau und Bronzell schützt und die allein uns
nach innen und außen stark machen kann. Haben wir diese Einheit,
so kann die Defensive aufhören. Wir brauchen dann keinen Mincio
mehr; "unser Genie" wird wieder sein, "zu attackieren"; und es
gibt noch einige faule Flecke, wo dies nötig genug sein wird.
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