Quelle: MEW 13 Januar 1859 - Februar 1860


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       FRIEDRICH ENGELS
       
       Po und Rhein [103]
       
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       Geschrieben Ende Februar/Anfang März 1859.
       Erschien 1859 als anonyme Broschüre bei Franz Duncker, Berlin.
       Der vorliegende  Abdruck fußt  auf dieser  Ausgabe. Die Korrektur
       sinnverändernder Druckfehler wird in Fußnoten vermerkt.
       
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       I
       
       Seit Anfang dieses Jahres ist es zum Stichwort eines großen Teils
       der deutschen  Presse geworden,  daß   d e r  R h e i n  a m  P o
       v e r t e i d i g t  w e r d e n  m u ß.
       Dies Stichwort hatte seine volle Berechtigung gegenüber den bona-
       partischen Rüstungen  und Drohungen. Mit richtigem Instinkt wurde
       es in  Deutschland herausgefühlt,  daß, wenn  der Po  für  Louis-
       Napoleon der  Vorwand war,  der Rhein  unter allen Umständen sein
       Endziel sein  mußte.  Nur  ein  Krieg  um  die  Rheingrenze  kann
       möglicherweise den  Blitzableiter abgeben  gegen die  beiden  den
       Bonapartismus im  Innern Frankreichs  bedrohenden  Elemente:  die
       "patriotische Überkraft"  [104] der revolutionären Massen und das
       gärende Mißbehagen der "Bourgeoisie". Den einen gäbe es nationale
       Beschäftigung, den andern die Aussicht auf einen neuen Markt. Das
       Gerede von  der Befreiung  Italiens konnte  daher in  Deutschland
       nicht  mißverstanden   werden.  Es   war  der   Fall  des   alten
       Sprichworts: Man  schlägt den  Sack  und  meint  den  Esel.  Fand
       Italien sich  veranlaßt, den  Sack vorzustellen,  so  hatte  doch
       Deutschland diesmal keine Lust, den Esel abzugeben.
       Die Behauptung des Po hatte also im vorliegenden Fall einfach die
       Bedeutung: daß Deutschland, mit einem Angriff bedroht, bei dem es
       sich in  letzter Instanz um den Besitz einiger seiner besten Pro-
       vinzen handelte, in keiner Weise daran denken konnte, eine seiner
       stärksten, ja  geradezu seine stärkste militärische Position ohne
       Schwertstreich aufzugeben.  In diesem  Sinn war  allerdings  ganz
       Deutschland bei der Verteidigung des Po interessiert. Am Vorabend
       eines Kriegs  wie im  Kriege selbst  besetzt man  jede benutzbare
       Stellung, von  der aus  man den  Feind bedrohen  und ihm  schaden
       kann, ohne  moralische Reflexionen  darüber anzustellen,  ob dies
       mit der ewigen Gerechtigkeit und dem Nationalitätsprinzip verein-
       bar ist. Man wehrt sich eben seiner Haut.
       Diese Art,  den Rhein  am Po zu verteidigen, ist aber sehr zu un-
       terscheiden von  der Tendenz  sehr vieler  deutscher Militärs und
       Politiker, den  Po, d.  h. die Lombardei und Venedig, für ein un-
       entbehrliches strategisches
       
       #228# Friedrich Engels
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       Komplement und  sozusagen für  einen integrierenden Teil Deutsch-
       lands zu erklären. Diese Ansicht ist besonders seit den Feldzügen
       in Italien  1848 und  1849 aufgestellt und theoretisch verteidigt
       worden; so vom General von Radowitz in der Paulskirche [105], vom
       General von  Willisen in seinem "Italienischen Feldzug des Jahres
       1848". Im  außeröstreichischen Süddeutschland  hat besonders  der
       bayerische General  von Hailbronner  mit einer  gewissen  an  Be-
       geistrung streifenden  Vorliebe dies  Thema behandelt. Das Haupt-
       argument ist  immer politischer  Natur: Italien  sei total außer-
       stande,  unabhängig   zu  bleiben;   entweder  Deutschland   oder
       Frankreich müsse  in Italien herrschen; zögen sich die Östreicher
       heute aus  Italien zurück,  so ständen  morgen die  Franzosen  im
       Etschtale und  an den  Toren von  Triest, und die ganze Südgrenze
       Deutschlands sei entblößt dem "Erbfeinde" preisgegeben. Darum be-
       haupte Östreich  die Lombardei  im Namen  und Interesse  Deutsch-
       lands.
       Man sieht,  die militärischen Autoritäten für diese Ansicht gehö-
       ren zu den ersten Deutschlands. Trotzdem müssen wir ihr entschie-
       den entgegentreten.
       Zu einem  mit wahrem Fanatismus verteidigten Glaubensartikel aber
       wird diese  Ansicht in  der Augsburger "Allgemeinen Zeitung", die
       sich zum Moniteur der deutschen Interessen in Italien aufgeworfen
       hat. Dies christlich-germanische Blatt, trotz seines Hasses gegen
       Juden und  Türken, ließe  eher sich  selbst beschneiden  als  das
       "deutsche" Gebiet in Italien. Was von den politisierenden Generä-
       len schließlich doch nur als eine prächtige militärische Position
       in den  Händen Deutschlands verteidigt wird, das ist in der Augs-
       burger "Allg[emeinen] Zeitung" ein wesentlicher Bestandteil einer
       politischen Theorie.  Wir meinen  jene  "mitteleuropäische  Groß-
       machtstheorie",  die   aus  Östreich,  Preußen  und  dem  übrigen
       Deutschland einen  Bundesstaat unter  Östreichs vorwiegendem Ein-
       fluß errichten,  Ungarn und  die slawisch-rumänischen Donauländer
       durch Kolonisation,  Schulen und sanfte Gewalt germanisieren, den
       Schwerpunkt dieses  Länderkomplexes dadurch  mehr und  mehr  nach
       Südosten, nach Wien verlegen und nebenbei auch Elsaß und Lothrin-
       gen wiedererobern möchte [106]. Die "mitteleuropäische Großmacht"
       soll eine  Art Wiedergeburt  des Heiligen  Römischen Reichs Deut-
       scher Nation  [107] sein  und scheint unter andern auch den Zweck
       zu haben, die weiland östreichischen Niederlande [108] sowie Hol-
       land sich  als Vasallenstaaten  einzuverleiben. Des Deutschen Va-
       terland wird  ungefähr zweimal  so weit  reichen, als  jetzt  die
       deutsche Zunge  klingt [109]; und wenn das alles in Erfüllung ge-
       gangen ist,  dann ist Deutschland der Schiedsrichter und Herr Eu-
       ropas. Daß sich dies alles aber erfülle, dafür ist auch schon ge-
       sorgt. Die  Romanen sind im akuten Verfall begriffen, die Spanier
       und Italiener sind bereits total
       
       #229# Po und Rhein
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       zugrunde gegangen,  und die  Franzosen erleben  in diesem  Augen-
       blicke ebenfalls  ihre Auflösung.  Auf der  andern Seite sind die
       Slawen unfähig  zur wahren  modernen Staatenbildung und haben den
       welthistorischen Beruf,  germanisiert zu  werden, wobei  dann das
       hauptsächlichste Werkzeug  der  Vorsehung  wieder  das  verjüngte
       Östreich ist.  Der einzige  Stamm, der  sich noch sittliche Kraft
       und historische  Befähigung bewahrt  hat, sind also die Germanen,
       und von  diesen sind die Engländer auch so tief in insularen Ego-
       ismus und  Materialismus versunken,  daß man ihren Einfluß, ihren
       Handel und  ihre Industrie durch kräftige Schutzzölle, durch eine
       Art rationellen  Kontinentalsystems [110]  vom europäischen Fest-
       land entfernt  halten muß.  Auf diese Weise kann es dem deutschen
       sittlichen Ernst  und der  jugendlichen mitteleuropäischen  Groß-
       macht gar  nicht fehlen,  daß diese  letztere binnen  kurzem  die
       Weltherrschaft zu Wasser und zu Lande an sich reißt und eine neue
       geschichtliche Ära einweiht, bei der Deutschland seit langer Zeit
       endlich einmal  wieder die  erste Violine  spielt und die übrigen
       Nationen nach ihr tanzen.
       
       Franzosen und Russen gehört das Land,
       Das Meer gehört den Briten;
       Wir aber besitzen im Luftreich des Traums
       Die Herrschaft unbestritten. [111]
       
       Auf die  politische Seite  dieser patriotischen  Phantasien  ein-
       zugehn, kann  uns hier nicht einfallen. Wir haben sie nur eben im
       Zusammenhang skizziert,  damit man  uns nicht  etwa später  diese
       sämtlichen Herrlichkeiten  als neue  Beweisgründe für die Notwen-
       digkeit der  "deutschen" Herrschaft  in Italien  wieder vorführt.
       Uns interessiert  hier  einzig  die  militärische  Frage:  Bedarf
       Deutschland zu seiner Verteidigung die permanente Herrschaft über
       Italien und  speziell den vollen militärischen Besitz der Lombar-
       dei und Venedigs?
       Die Frage  auf ihren  reinsten militärischen  Ausdruck reduziert,
       lautet: Bedarf  Deutschland zur Verteidigung seiner Südgrenze den
       Besitz der Etsch, des Mincio und des unteren Po, mit den Brücken-
       köpfen Peschiera und Mantua?
       Ehe wir  sie zu  beantworten versuchen,  bemerken wir vorher noch
       ausdrücklich: Wenn  wir hier  von Deutschland reden, so verstehen
       wir darunter eine einige Macht, deren militärische Kräfte und Ak-
       tionen 1*)  von einem  Zentrum aus  geleitet werden - Deutschland
       nicht als einen idealen, sondern als einen wirklichen politischen
       Körper. Unter andern Voraussetzungen kann von den politischen und
       militärischen  Bedürfnissen  Deutschlands  überhaupt  keine  Rede
       sein.
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       1*) (1859) Nation
       
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       II
       
       Noch mehr  als Belgien  ist Oberitalien  seit  Jahrhunderten  das
       Schlachtfeld, auf  dem Deutsche  und Franzosen ihre Kriege gegen-
       einander ausgefochten  haben. Der Besitz Belgiens und des Po-Tals
       für den Angreifer ist notwendige Bedingung sei es einer deutschen
       Invasion  Frankreichs,   sei  es   einer  französischen  Invasion
       Deutschlands; erst  dieser Besitz sichert vollständig Flanken und
       Rücken der  Invasion. Nur der Fall einer ganz sichern Neutralität
       dieser Länder  könnte eine  Ausnahme bilden,  und dieser Fall hat
       bis jetzt nie existiert.
       Wenn auf  den Schlachtfeldern  des Po-Tals indirekt und mittelbar
       das Geschick Frankreichs und Deutschlands seit dem Tage von Pavia
       [83] entschieden  wurde, so  wurde  das  Geschick  Italiens  dort
       gleichzeitig direkt  und unmittelbar  entschieden. Mit den großen
       stehenden Heeren  der neueren  Zeit,  mit  der  wachsenden  Macht
       Frankreichs und  Deutschlands, mit dem politischen Zerfallen Ita-
       liens verlor  das eigentliche  alte Italien, südlich des Rubikon,
       alle militärische  Bedeutung, und der Besitz des alten Cisalpini-
       schen Galliens  zog die  Herrschaft  über  die  schmale,  langge-
       streckte Halbinsel unvermeidlich nach sich. In den Bassins des Po
       und der Etsch, an der genuesischen, romagnolischen und venetiani-
       schen Küste saß die dichteste Bevölkerung, konzentrierte sich der
       blühendste Ackerbau, die tätigste Industrie, der lebhafteste Han-
       del Italiens. Die Halbinsel, Neapel und der Kirchenstaat, blieben
       verhältnismäßig stationär  in ihrer  gesellschaftlichen  Entwick-
       lung; ihre  Kriegsmacht hatte  seit Jahrhunderten  nicht mehr ge-
       zählt. Wer  das Po-Tal  besaß,  schnitt  die  Landverbindung  der
       Halbinsel  mit   dem  übrigen   Festland  ab   und   konnte   sie
       "gelegentlich mit  leichter Mühe  unterwerfen. So  die  Franzosen
       zweimal im Revolutionskriege, so die Östreicher zweimal in diesem
       Jahrhundert. Daher hat nur das Bassin des Po und der Etsch Bedeu-
       tung für den Krieg.
       Eingefaßt auf  drei Seiten  von der ununterbrochenen Gebirgskette
       der Alpen und Apenninen und auf der vierten, von Aquileja bis Ri-
       mini, vom
       
       #231# Po und Rhein
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       Adriatischen Meer,  bildet dies  Bassin einen  von der Natur sehr
       scharf markierten  Bodenabschnitt, den  der Po  von West nach Ost
       durchläuft. Die  südliche oder  apenninische Abgrenzung  hat kein
       Interesse für uns hier; die nördliche oder alpinische desto mehr.
       Ihr schneebedeckter  Rücken ist nur an wenigen Stellen auf chaus-
       sierten Wegen  zu passieren;  selbst die Zahl der Fahr- und Saum-
       wege und der Fußpfade ist beschränkt; langgestreckte Tal-defileen
       führen zu den Pässen über das Hochgebirg.
       Die deutsche Grenze umfaßt Norditalien von der Mündung des Isonzo
       bis zum  Stilfser Joch;  von da  bis Genf  reicht die  Grenze der
       Schweiz; von  Genf bis  zur Mündung  des Var stößt Frankreich an.
       Vom Adriatischen  Meer bis zum Stilfser Joch, nach Westen gerech-
       net, führt  jeder folgende  Paß immer  tiefer ins  Herz  des  Po-
       Bassins, umgeht also alle weiter östlich liegenden Stellungen ei-
       ner italienischen  oder französischen  Armee. Die  Grenzlinie des
       Isonzo wird  gleich durch den ersten Paß von Karfreit (Caporetto)
       auf Cividale  umgangen. Der  Paß von Pontafel umgeht die Stellung
       am Tagliamento,  die auch  noch von zwei nichtchaussierten Pässen
       aus Kärnten  und Cadore in die Flanke genommen wird. Der Brenner-
       paß umgeht  die Piavelinie durch den Peutelsteiner Paß von Brune-
       cken auf Cortina d'Ampezzo und Belluno, die Brentalinie durch die
       Val Sugana  auf Bassano,  die Etschlinie durch' das Etschtal, den
       Chiese durch  Judikarien, den  Oglio auf  nichtchaussierten Wegen
       über den  Tonale und  endlich alles  Gebiet östlich der Adda über
       das Stilfser Joch und durch das Veltlin.
       Man sollte  sagen, daß  bei einer so günstigen strategischen Lage
       der wirkliche Besitz der Ebenen bis zum Po uns Deutschen ziemlich
       gleichgültig sein  könnte. Wo  will, bei  gleichen  Kräften,  die
       feindliche Armee  sich östlich  von der Adda oder nördlich vom Po
       aufstellen? Alle  ihre Stellungen  sind umgangen;  wo sie  den Po
       oder die  Adda auch überschreitet, ihre Flanke ist bedroht; zieht
       sie sich  südlich vom  Po, so  gefährdet sie  ihre Verbindung mit
       Mailand und  Piemont, geht sie hinter den Tessin, so riskiert sie
       ihren Zusammenhang  mit der  ganzen Halbinsel.  Wäre sie verwegen
       genug, offensiv  in der  Richtung auf Wien vorzugehn, so kann sie
       jeden Tag  abgeschnitten und genötigt werden, mit dem Rücken nach
       dem feindlichen  Lande, mit  der Front nach Italien eine Schlacht
       zu liefern.  Wird sie  dann geschlagen, so ist es ein zweites Ma-
       rengo [86]  mit gewechselten  Rollen ; schlägt sie die Deutschen,
       so müssen  diese sich  sehr  albern  anstellen,  wenn  sie  ihren
       Rückzug nach Tirol verlieren.
       Der Bau der Straße über das Stilfser Joch ist der Beweis, daß die
       Östreicher aus  ihrer Niederlage von Marengo das Richtige gelernt
       haben. Napoleon  baute die Simplonstraße, um einen gedeckten Auf-
       gang nach dem Herzen
       
       #232# Friedrich Engels
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       Italiens zu haben; die östreicher ergänzten ihr System offensiver
       Verteidigung in  der Lombardei  durch die  Straße von Stilfs nach
       Bormio. Man  wird sagen,  dieser Paß  sei zu  hoch, um  im Winter
       praktikabel zu  bleiben; die  ganze Route sei zu schwierig, indem
       sie auf  einer Entfernung von mindestens fünfzig deutschen Meilen
       (von Füssen  in Bayern  bis Lecco am Comer See) fortwährend durch
       unwirtbares Hochgebirg  geht  und  auf  diese  Strecke  drei  Ge-
       birgspässe kommen; daß sie endlich in dem langen Defilee am Comer
       See und  im Hochgebirge  selbst leicht  zu sperren sei. Sehen wir
       zu.
       Der Paß  ist allerdings der höchste fahrbare in der ganzen Alpen-
       kette, 8600  Fuß, und  mag im  Winter stark verschneien. Wenn wir
       uns indes  der Winterkampagne  Macdonalds 1800  bis 1801  1*), an
       Splügen und Tonale erinnern, so werden wir auf solche Hindernisse
       nicht viel  geben. Alle Alpenpässe verschneien im Winter und wer-
       den darum  doch passiert.  Die jetzt  seit Armstrongs Herstellung
       einer brauchbaren, von hinten geladenen, gezogenen Kanone schwer-
       lich noch  aufschiebbare Umgestaltung aller Artillerien wird auch
       leichteres Geschütz  in die  Feldartillerie einführen und dadurch
       die Beweglichkeit  erleichtern. Ein  ernsthafteres Hindernis  ist
       der lange  Marsch im Hochgebirge und die wiederholte Gebirgsüber-
       steigung. Der  Stilfser Paß geht nicht über die Wasserscheide der
       nord- und  südalpinischen Flüsse,  sondern über die zwei adriati-
       schen Gewässer  der Etsch  und Adda,  und setzt daher voraus, daß
       die Hauptkette  der Alpen  vorher am Brenner- oder Finstermünzpaß
       überstiegen worden,  um vom  Inntal ins  Etschtal zu gelangen. Da
       nun der Inn in Tirol ziemlich von Westen nach Osten zwischen zwei
       Bergketten läuft,  so müssen  Truppen vom Bodensee und aus Bayern
       auch noch  die nördlichere  dieser Bergketten übersteigen, so daß
       wir im ganzen zwei oder drei Bergpässe auf dieser einen Route ha-
       ben. So beschwerlich dies ist, so ist dies doch kein entscheiden-
       des Hindernis, eine Armee auf diesem Wege nach Italien zu führen.
       Eine Eisenbahn  im Inntal, die schon teilweise fertig, und die im
       Etschtal projektierte  Bahn wird  diesen Übelstand  bald auf  ein
       Minimum reduzieren.  Napoleons Weg über den Bernhard von Lausanne
       bis Ivrea  führte zwar nur ungefähr 30 Meilen durchs Hochgebirge;
       aber der  Weg von Udine nach Wien, auf dem Napoleon 1797 vordrang
       und auf  dem 1809 Eugène und Macdonald sich mit Napoleon bei Wien
       vereinigten, läuft  über 60  Meilen lang  durchs  Hochgebirg  und
       führt ebenfalls  über drei  Alpenpässe. Der Weg von Pont-de-Beau-
       voisin über den Kleinen Bernhard nach Ivrea, die Route, die, ohne
       die Schweiz  zu berühren, direkt von Frankreich am weitesten nach
       Italien hineinführt,  also zum  Umgehen  die  geschickteste  ist,
       zieht sich
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       1*) (1859) 1799 bis 1800
       
       #233# Po und Rhein
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       auch über  40 Meilen  durchs Hochgebirg,  und ebenso die Simplon-
       straße von Lausanne nach Sesto Calende. - Was endlich das Sperren
       der Straße  im Passe selbst oder am Corner See angeht, so ist man
       seit den  Feldzügen der  Franzosen in  den Alpen nicht so geneigt
       mehr, an  die Wirksamkeit  von Sperrpunkten  zu glauben. Dominie-
       rende Höhen  und die Möglichkeit der Umgehung machen sie ziemlich
       nutzlos; die Franzosen nahmen viele mit Sturm und sind nie ernst-
       lich durch  die Befestigungen  der Pässe  aufgehalten worden. Die
       etwaigen Befestigungen  des Passes  auf der  italienischen  Seite
       sind über  den Cevedale, den Monte Corno und Gavia und den Tonale
       und Aprica zu umgehen. Aus dem Veltlin führen viele Saumwege nach
       der Bergamasca,  und die Absperrung des langen Défilées am Corner
       See ist  teils hierdurch,  teils von  Dervio aus oder von Bellano
       durch die  Val Sassina  zu umgehen.  Im Gebirgskrieg ist ein Vor-
       dringen mit  mehreren Kolonnen  ohnehin geboten,  und  wenn  eine
       durchdringt, ist der Zweck gewöhnlich erreicht.
       Wie sehr  die schwierigsten Pässe so ziemlich zu allen Jahreszei-
       ten praktikabel sind, wenn man nur gute Truppen und entschlossene
       Generale hinschickt;  wie sehr also auch geringfügige Nebenpässe,
       selbst nicht fahrbare, als gute Operationslinien besonders zu Um-
       gehungen zu  gebrauchen sind;  und wie wenig Sperrpunkte nützen -
       das beweisen  am besten  die Feldzüge  in den  Alpen von 1796 bis
       1801. Damals  war noch  kein einziger  Alpenpaß  chaussiert,  und
       trotzdem gingen  die Armeen  in allen Direktionen über die Berge.
       1799 ging  schon anfangs März Loison mit einer französischen Bri-
       gade auf  Fußpfaden über  die  Wasserscheide  zwischen  Reuß  und
       Rhein, während Lecourbe über den Bernhardin und die Viamala ging,
       von dort  den Albula-Julier-Paß  überstieg (7100  Fuß  hoch)  und
       schon am  24. März  das Defilee  von Martinsbruck  durch Umgehung
       nahm, indem  er Dessolle  durch das Münstertal über den Pisoc und
       das Wormser  Joch (Fußweg  7850 Fuß  hoch) ins obere Etschtal und
       von dort  auf die  Reschen-Scheideck sandte.  Anfangs Mai zog Le-
       courbe sich wieder über den Albula zurück.
       Im September desselben Jahres erfolgte Suworows Zug, auf dem, wie
       der alte  Soldat sich  in seiner  gewaltsamen Bildersprache  aus-
       drückte, das  russische Bajonett  durch die  Alpen drang  (Ruskij
       styk prognal cres Alpow). Er sandte seine Artillerie größtenteils
       über den Splügen, ließ eine Umgehungskolonne durch die Val Blegno
       über den Lukmanier (Fußpfad, 5948 Fuß) und von dort über den Six-
       madun (6500  Fuß ungefähr)  in das obere Reußtal eindringen, wäh-
       rend er  selbst den  damals kaum fahrbaren Weg des Sankt Gotthard
       passierte (6594  Fuß). Den Sperrpunkt der Teufelsbrücke erstürmte
       er am  24. bis  26. September;  aber bei  Altdorf angekommen, vor
       sich den See und auf allen andern Seiten die Franzosen, blieb ihm
       nichts, als das Schächental
       
       #234# Friedrich Engels
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       tal hinauf über den Kinzig-Kulm ins Muotatal zu gehen. Dort ange-
       kommen, nachdem  er alle  Artillerie und Bagage im Reußtal gelas-
       sen, fand  er die Franzosen wieder in Übermacht vor sich, während
       Lecourbe ihm auf den Fersen saß. Suworow ging über den Pragel ins
       Klöntal, um  auf diesem Wege die Rheinebene zu gewinnen. Im Defi-
       lee von  Näfels stieß er auf unüberwindlichen Widerstand, und nun
       blieb ihm nichts übrig, als auf dem Fußpfad über den Panixer Paß,
       8000 Fuß  hoch, das  obere Rheintal  und die  Verbindung mit  dem
       Splügen zu  gewinnen. Am  6. Oktober  begann der Übergang, am 10.
       war das  Hauptquartier in  Ilanz. Diese Passage war bis dahin der
       großartigste aller modernen Alpenübergänge.
       Von Napoleons  Übergang über den Großen Bernhard wollen wir nicht
       viel sagen.  Gegen die  übrigen ähnlichen  Operationen jener Zeit
       steht sie  zurück. Die Jahreszeit war günstig, und das einzig Be-
       merkenswerte ist  die geschickte  Manier, wie der Sperrpunkt Fort
       Bard umgangen wurde.
       Dagegen verdienen besonders rühmliche Erwähnung Macdonalds Opera-
       tionen im  Winter 1800/1801. Bestimmt, mit 15 000 Mann als linker
       Flügel der französischen Armee von Italien den rechten Flügel der
       Östreicher an  Mincio und  Etsch zu  umgehen, passierte  er   i m
       t i e f s t e n   W i n t e r   m i t   a l l e n    W a f f e n-
       g a t t u n g e n   den Splügen  (6510 Fuß).  Unter  den  größten
       Mühseligkeiten, oft  durch Lawinen und Schneestürme unterbrochen,
       führte er  vom 1.  bis 7.  Dezember seine  Armee über den Paß und
       marschierte die  Adda hinauf  durchs Veltlin  an den  Aprica. Die
       Östreicher scheuten  sich ebensowenig  vor dem Hochgebirgswinter.
       Sie behielten  den Albula,  Julier  und  Braulio  (Wormser  Joch)
       besetzt und  machten am  letzteren sogar  einen Überfall, bei dem
       sie ein  Detachement demontierter französischer Husaren gefangen-
       nahmen. Nachdem  Macdonald den  Apricapaß vom  Adda- ins Ogliotal
       überstiegen hatte,  erstieg er  den sehr hohen Paß des Tonale auf
       Fußpfaden und  griff die  Östreicher am  22. Dezember an, die das
       Defilee im Paß mit Eisblöcken verschanzt hatten. Sowohl an diesem
       Tage wie im zweiten Angriff (31. Dezember - er war also neun Tage
       im Hochgebirge  geblieben!) zurückgeworfen, ging er die Val Camo-
       nica herab  bis zum Lago d'Iseo, schickte Kavallerie und Artille-
       rie 1*) durch die Ebene und überstieg mit der Infanterie die drei
       Bergrücken, die  nach Val Trompia, Val Sabbia und nach Judikarien
       führten, wo  er, in  Storo, schon  am 6.  Januar ankam.  Baraguay
       d'Hilliers war  gleichzeitig aus  dem Inntal  über  die  Reschen-
       Scheideck (Finstermünzpaß)  ins obere  Etschtal gegangen.  - Wenn
       solche Manöver vor sechzig Jahren möglich
       -----
       1*) (1859) Infanterie
       
       #235# Po und Rhein
       -----
       waren, was können wir jetzt nicht tun, wo wir in den meisten Päs-
       sen die schönsten Chausseen haben!
       Schon aus  diesen Skizzen  sehen wir,  daß von allen Sperrpunkten
       nur diejenigen  einige Haltbarkeit  besaßen, die  aus  Ungeschick
       oder Mangel  an Zeit  nicht umgangen  wurden. Der Tonale z.B. war
       unhaltbar, sobald  Baraguay d'Hilliers  im  oberen  Etschtal  er-
       schien. Die  übrigen Kampagnen  beweisen, daß  sie entweder durch
       Umgehung, aber  oft auch durch Sturm genommen wurden. Luziensteig
       wurde zwei- oder dreimal gestürmt, ebenso Malborgeth im Pontafel-
       paß 1797  und 1809. Die Tiroler Sperrpunkte hielten weder Joubert
       1797 noch Ney 1805 auf. Man weiß, was Napoleon behauptet, daß auf
       Wegen umgangen  werden könne,  die  für  eine  Ziege  praktikabel
       seien. Und  seitdem man  auf diese  Weise Krieg  führt, sind alle
       Sperrpunkte zu umgehen.
       Es ist  demnach nicht  abzusehen, wie  bei gleichen  Kräften eine
       feindliche Armee  die Lombardei  östlich von  der Adda gegen eine
       über die  Alpen vordringende  deutsche Armee im freien Felde ver-
       teidigen kann.  Es bliebe  ihr nur noch die Chance, sich zwischen
       den bestehenden  oder neu  zu errichtenden Festungen aufzustellen
       und zwischen  diesen zu manövrieren. Diese Möglichkeit werden wir
       weiter unten erwägen.
       Welche Pässe  stehen nun  Frankreich offen,  um in Italien einzu-
       dringen? Während  Deutschland die eine Hälfte der Nordgrenze Ita-
       liens ganz  umfaßt, läuft  die französische  Grenze  in  ziemlich
       grader Linie von Norden nach Süden, umfaßt und umgeht gar nichts.
       Erst wenn Savoyen und ein Teil des genuesischen Küstenlandes ero-
       bert ist,  können über  den Kleinen Bernhard und einige Seealpen-
       pässe Umgehungen vorbereitet werden, deren Wirkung indes bloß bis
       an die  Sesia und die Bormida geht, also weder die Lombardei noch
       die Herzogtümer, geschweige denn die Halbinsel erreicht. Nur eine
       Landung in  Genua, die  indes für eine große Armee doch wohl ihre
       Schwierigkeiten haben  wird, könnte  zu einer  Umgehung von  ganz
       Piemont führen;  eine Landung weiter östlich, z.B. in der Spezia,
       könnte sich schon nicht mehr auf Piemont und Frankreich basieren,
       sondern nur  auf die  Halbinsel und  wäre daher in demselben Maße
       umgangen, wie sie selbst umginge.
       Bis jetzt  haben wir  die Schweiz  als neutral vorausgesetzt. Für
       den Fall,  daß sie  in  den  Krieg  hineingezogen  würde,  bekäme
       Frankreich einen  Paß mehr  zur Verfügung: den Simplon (der Große
       Bernhard, auf  Aosta führend  wie der  Kleine, würde  keine neuen
       Vorteile bieten  außer der  kürzeren Linie). Der Simplon führt an
       den Tessin und deckt dadurch den Franzosen Piemont. Die Deutschen
       erhielten in  derselben Weise den untergeordneten Splügen, der am
       Corner  See  mit  der  Stilfser  Straße  zusammenstößt,  und  den
       Bernhardin, dessen Wirkung bis an den Tessin reicht. Der Gotthard
       könnte nach
       
       #236# Friedrich Engels
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       Umständen beiden  Parteien dienen,  würde ihnen  aber wenig  neue
       Flankenvorteile eröffnen.  So sehen  wir, daß  der Einfluß  einer
       französischen Umgehung  durch die  Alpen einerseits und der einer
       deutschen andererseits  bis zur  jetzigen lombardisch-piemontesi-
       schen Grenze,  bis an  den Tessin reicht. Wenn aber die Deutschen
       am Tessin,  wenn sie nur bei Piacenza und Cremona stehen, so ver-
       legen sie  den  Franzosen  den  Landweg  nach  der  italienischen
       Halbinsel. Mit  andern Worten: Wenn Frankreich Piemont dominiert,
       so dominiert Deutschland das ganze übrige Italien.
       Ein taktischer  Vorteil kommt  den Deutschen außerdem noch zugut:
       Auf der  ganzen deutschen Grenzlinie ist bei allen wichtigen Päs-
       sen - das Stilfser Joch ausgenommen - die Wasserscheide auf deut-
       schem Gebiet. Der Fella im Pontafelpaß entspringt in Kärnten, der
       Boite im  Peutelsteiner Paß in Tirol. In dieser letzteren Provinz
       ist der  Vorteil entscheidend.  Das obere Brentatal (Val Sugana),
       das obere  Chiesetal (Judikarien)  und mehr  als die  Hälfte  des
       Laufs der  Etsch gehören  zu Tirol.  Wenn auch  im einzelnen Fall
       nicht ohne  genaues Studium  der Lokalität zu entscheiden ist, ob
       wirklich taktischer  Vorteil aus dem Besitz der Wasserscheide bei
       Hochgebirgspässen hervorgeht,  so ist doch so viel sicher, daß im
       Durchschnitt die Chancen der Überhöhung wie der Umgehung auf sei-
       ten dessen  sind, der  den Gebirgskamm  und ein Stück des Abhangs
       auf der  feindlichen Seite  besetzt hält;  und daß man ferner da-
       durch in  den Stand  gesetzt wird,  die unpraktikabelsten Stellen
       der Nebenpässe  schon vor  Ausbruch des  Kriegs für  alle  Waffen
       gangbar zu  machen, was  in Tirol  von entscheidender Wichtigkeit
       für die  Verbindungen werden  kann. Wenn  dies Vordringen unseres
       Gebiets auf  die feindliche Seite erst die Ausdehnung erhält, die
       das deutsche  Bundesgebiet in  Südtirol hat;  wenn, wie hier, die
       beiden Hauptpässe,  der Brenner-  und Finstermünzpaß,  weitab von
       der feindlichen  Grenze zurückliegen; wenn außerdem entscheidende
       Nebenpässe wie  die durch  Judikarien und die Val Sugana ganz dem
       deutschen Gebiet angehören, so sind dadurch die taktischen Bedin-
       gungen einer  Invasion Oberitaliens so enorm erleichtert, daß sie
       im Kriegsfall nur mit Verstand benutzt zu werden brauchen, um den
       Erfolg sicherzustellen.
       Solange die  Schweiz neutral  bleibt, ist  also Tirol, und sobald
       die Neutralität  der Schweiz  aufhört, ist  Graubünden und  Tirol
       (das Inntal  und Rheintal)  der geradeste  Weg für  ein deutsches
       Heer, das  gegen Italien  operiert. Auf  dieser Linie drangen die
       Hohenstaufen nach Italien; auf keiner andern kann ein militärisch
       wie ein  Staat agierendes  Deutschland mit  raschen Schlägen ent-
       scheidend in  Italien wirken.  Für diese Linie aber ist nicht In-
       neröstreich, sondern  Oberschwaben und  Bayern, vom  Bodensee bis
       Salzburg, die Operationsbasis.
       
       #237# Po und Rhein
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       Im ganzen  Mittelalter hat  dies gegolten. Erst als Östreich sich
       an der  Mitteldonau konsolidierte, als Wien Zentralpunkt der Mon-
       archie wurde, als das deutsche Reich zerfiel und in Italien nicht
       mehr deutsche, sondern nur noch östreichische Kriege geführt wur-
       den, erst da wurde die alte, kurze, grade Linie von Innsbruck auf
       Verona und  von Lindau  auf Mailand  verlassen, erst  da trat die
       lange, krumme,  schlechte Linie von Wien über Klagenfurt und Tre-
       viso auf  Vicenza an ihre Stelle, eine Linie, auf die sich früher
       eine deutsche  Armee nur im äußersten Notfall des bedrohten Rück-
       zugs, nie aber für den Angriff verlassen hätte.
       Solange das  deutsche Reich  als eine  wirkliche Militärmacht be-
       stand, solange es demgemäß seine Angriffe gegen Italien auf Ober-
       schwaben und  Bayern basierte, solange mochte es die Unterwerfung
       Oberitaliens aus politischen Gründen anstreben, nie aber aus rein
       militärischen. In den langen Kämpfen um Italien ist die Lombardei
       bald deutsch,  bald unabhängig,  bald spanisch, bald östreichisch
       gewesen; die  Lombardei aber, was nicht zu vergessen ist, war von
       Venedig getrennt, und Venedig war unabhängig. Und obwohl die Lom-
       bardei Mantua besaß, so schloß sie doch grade die Minciolinie und
       das Gebiet  zwischen Mincio  und Isonzo  aus, ohne dessen Besitz,
       wie uns  jetzt versichert  wird, Deutschland nicht ruhig schlafen
       kann. Deutschland  (durch Vermittelung  Östreichs) ist  erst seit
       1814 in den vollen Besitz der Minciolinie gekommen. Und wenn auch
       Deutschland, als politischer Körper, im siebzehnten und achtzehn-
       ten Jahrhundert  eben nicht  die brillanteste Rolle gespielt hat,
       so war doch der mangelnde Besitz der Minciolinie jedenfalls nicht
       schuld daran.
       Allerdings ist die strategische Arrondierung der Staaten und ihre
       Begrenzung durch  verteidigungsfähige Linien  mehr in den Vorder-
       grund getreten, seit die Französische Revolution und Napoleon be-
       weglichere Armeen  geschaffen und mit diesen Armeen Europa in al-
       len Richtungen  durchzogen haben.  War im  Siebenjährigen  Kriege
       [112] noch  das Operationsfeld einer Armee auf eine bloße Provinz
       beschränkt, drehten  sich monatelange Manöver um einzelne Festun-
       gen, Stellungen  oder Operationsbasen,  so kommt  heute in  jedem
       Kriege die  Terrainkonfiguration ganzer  Länder in  Betracht, und
       die Wichtigkeit,  die früher an einzelne taktische Positionen ge-
       knüpft war,  klebt jetzt nur noch an großen Festungsgruppen, lan-
       gen Flußlinien  oder hohen,  stark ausgesprochenen Gebirgsketten.
       Und in  dieser Beziehung  sind Linien  wie die des Mincio und der
       Etsch allerdings von weit größerer Bedeutung als früher.
       Sehen wir uns also diese Linien einmal an.
       Alle Flüsse,  die östlich  vom Simplon von den Alpen in die ober-
       italienische Ebene zum Po oder direkt zum Adriatischen Meer flie-
       ßen, bilden mit dem
       
       #238# Friedrich Engels
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       Po oder  allein einen nach Osten konkaven Bogen. Sie sind dadurch
       der Verteidigung einer im Osten stehenden Armee günstiger als der
       einer im  Westen stehenden.  Man sehe  den Tessin,  die Adda, den
       Oglio, den  Chiese, den Mincio, die Etsch, die Brenta, die Piave,
       den Tagliamento darauf an; jeder Fluß, allein oder mit dem ansto-
       ßenden Teil des Po zusammen, bildet einen Kreisbogen, dessen Zen-
       trum nach  Osten zu  liegt.  Dadurch  wird  die  auf  dem  linken
       (östlichen) Ufer  stehende Armee  befähigt, eine  Zentralstellung
       rückwärts zu  nehmen, von der aus sie jeden ernsthaft angegriffe-
       nen Punkt  des Flußlaufs in verhältnismäßig kurzer Zeit erreichen
       kann; sie  hält die  Jominische "innere  Linie" [113],  sie  mar-
       schiert auf  dem Radius oder der Sehne, während der Feind auf der
       längeren Peripherie  manövrieren muß.  Findet sich  die Armee des
       rechten Ufers  in der Defensive, so wird umgekehrt dieser Umstand
       ihr ungünstig  sein; der  Feind ist  in seinen falschen Angriffen
       durch die  Lokalität unterstützt,  und dieselben kürzeren Entfer-
       nungen von  den einzelnen Punkten der Peripherie, die ihm bei der
       Verteidigung zugut kommen, geben nun seinem Angriff ein entschei-
       dendes Übergewicht.  So sind  also die lombardisch-venetianischen
       Flußlinien durchaus  für eine deutsche Armee in Defensive und Of-
       fensive  günstig,   für  eine   italienische  oder   italienisch-
       französische Armee ungünstig; und wenn hierzu noch der schon ent-
       wickelte Umstand  kommt, daß  die Tiroler  Pässe diese sämtlichen
       Linien umgehen,  so ist wahrlich kein Grund vorhanden, an der Si-
       cherheit Deutschlands zu verzweifeln, selbst wenn kein östreichi-
       scher Soldat  mehr auf  italienischem Boden  stände; denn  dieser
       lombardische Boden gehört uns, sooft wir wollen.
       Diese lombardischen  Flußlinien sind übrigens meist sehr unbedeu-
       tend und  zur ernsthaften  Verteidigung wenig geeignet. Abgesehen
       vom Po  selbst, über den wir weiter unten sprechen werden, finden
       sich im  ganzen Bassin  nur zwei  für Frankreich oder Deutschland
       wirklich bedeutende Positionen; sie sind von den betreffenden Ge-
       neralstäben richtig  in ihrer  Stärke erfaßt und befestigt worden
       und werden  im nächsten  Kriege unbedingt die entscheidende Rolle
       spielen. In  Piemont, eine  Meile unterhalb  Casale, biegt der Po
       seinen bis  dahin östlichen  Lauf nach  Süden, verläuft auf stark
       drei Meilen  nach Südsüdost  und wendet  sich  dann  wieder  nach
       Osten. An  der nördlichen Biegung fließt von Norden die Sesia, an
       der südlichen von Südwesten der Tanaro ein. Mit diesem vereinigen
       sich unmittelbar  vor ihrem  Einfluß, dicht  bei Alessandria, die
       Bormida, die  Orba und  der Belbo  und bilden zusammen ein System
       strahlenförmig nach  einem Mittelpunkt  zusammenströmender  Fluß-
       linien, deren wichtigster Knotenpunkt durch das verschanzte Lager
       von Alessandria gedeckt wird. Von Alessandria aus kann eine Armee
       beliebig die Ufer der kleineren Flüsse wechseln, kann die vor der
       Front liegende Linie
       
       #239# Po und Rhein
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       des Po  verteidigen, kann  bei dem  ebenfalls befestigten  Gasale
       über den Po gehn oder auf dem rechten Po-Ufer flußabwärts operie-
       ren. Diese  Stellung, durch hinreichende Befestigungen verstärkt,
       ist die einzige, die Piemont deckt oder zur Basis offensiver Ope-
       rationen gegen die Lombardei und die Herzogtümer dienen kann. Sie
       leidet indes  daran, daß  sie keine  Tiefe hat, und da sie sowohl
       umgangen als in der Front durchbrochen werden kann, so ist dieser
       Umstand sehr  ungünstig; ein  kräftiger und  geschickter  Angriff
       würde sie  bald auf  das noch  unvollendete verschanzte Lager von
       Alessandria reduzieren,  und wieweit dies die Verteidiger vor der
       Notwendigkeit schützen würde, sich unter ungünstigen Umständen zu
       schlagen, darüber  fehlen alle  Anhaltspunkte, da weder die neue-
       sten dortigen  Befestigungsanlagen noch  der erreichte Grad ihrer
       Vollendung bekannt  sind. Die Wichtigkeit dieser Position für die
       Verteidigung Piemonts  gegen Angriffe von Osten hatte schon Napo-
       leon erkannt  und Alessandria  demzufolge neu  befestigen lassen.
       1814 bewährte  der Platz seine schützende Kraft nicht; wieweit er
       dies heutzutage  vermag, werden wir vielleicht bald zu sehn Gele-
       genheit haben.
       Die zweite  Position, die für das Venetianische dasselbe und noch
       viel mehr  gegen Angriffe aus Westen leistet, was Alessandria für
       Piemont, ist  die des Mincio und der Etsch. Aus dem Gardasee her-
       austretend, fließt  der Mincio  vier Meilen  weit, bis Mantua, in
       südlicher Richtung, erleidet bei Mantua eine seeartige, von Sümp-
       fen umgebene Ausbuchtung und fließt dann in südöstlicher Richtung
       dem Po zu. Die Flußstrecke unterhalb der Mantuaner Sümpfe bis zur
       Mündung ist zu kurz, um einer Armee zum Übergang zu dienen, indem
       der aus  Mantua debouchierende Feind sie in den Rücken nehmen und
       zu einer  Schlacht  unter  den  ungünstigsten  Umständen  zwingen
       könnte. Eine Umgehung von Süden her müßte weiter ausholen und bei
       Revere oder Ferrara über den Po gehn. Von Norden ist die Stellung
       am Mincio  durch den Gardasee auf weithin vor Umgehung geschützt,
       so daß  die wirklich  zu verteidigende  Linie des  Mincio von Pe-
       schiera bis  Mantua nur  vier Meilen lang ist und an jedem Flügel
       sich an  eine Festung  anlehnt, die  ein Débouché  auf das rechte
       Ufer sichert.  Der Mincio  selbst ist kein beträchtliches Hinder-
       nis, und  die Ufer  überhöhen sich je nach der Lokalität wechsel-
       seitig; hierdurch  war die  Linie vor 1848 einigermaßen in Verruf
       gekommen, und wenn sie nicht durch einen besondern Umstand bedeu-
       tend verstärkt  würde, so  hätte sie schwerlich je große Berühmt-
       heit erlangt.  Dieser besondere  Umstand ist  aber der,  daß vier
       Meilen weiter  rückwärts der zweite Fluß Oberitaliens, die Etsch,
       in einem  mit dem Mincio und unteren Po ziemlich parallelen Bogen
       läuft und so eine zweite, stärkere Stellung bildet, die durch die
       beiden Etschfestungen Verona und Legnago verstärkt wird. Die bei-
       den Flußlinien
       
       #240# Friedrich Engels
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       aber, mit ihren vier Festungen, bilden zusammen für eine deutsche
       oder östreichische,  von Italien oder Frankreich angegriffene Ar-
       mee eine  so starke  Defensivposition, daß keine zweite in Europa
       ihr an die Seite gesetzt werden kann und daß eine Armee, die nach
       Abgabe der  Garnison noch  im Felde auftreten kann, ruhig dem An-
       griff einer doppelt so starken Macht in dieser Stellung entgegen-
       sehen kann.  Was diese Position leistet, hat Radetzky 1848 bewie-
       sen. Nach  der Mailänder  Märzrevolution  [35],  dem  Abfall  der
       italienischen Regimenter  und dem  Übergang der  Piemontesen über
       den Tessin  zog er  sich mit  dem Rest  seiner Truppen,  ungefähr
       45 000 Mann, nach Verona. Nach Abzug der 15 000 Mann starken Gar-
       nisonen blieben ihm etwas über 30 000 Mann disponibel. Ihm gegen-
       über standen  zwischen Mincio und Etsch ungefähr 60 000 Piemonte-
       sen, Toskaner,  Modeneser und  Parmesaner. In;  seinem Rücken er-
       schien Durandos Armee, ungefähr 45 000 Mann päpstliche und neapo-
       litanische Truppen  und Freiwillige  [114].  Nur  die  Verbindung
       durch Tirol  war ihm geblieben, und auch diese war, wenn auch nur
       leicht, durch  lombardische Freischaren im Gebirg bedroht. Trotz-
       dem hielt  sich Radetzky.  Die Beobachtung Peschieras und Mantuas
       nahm den  Piemontesen so  viel Truppen weg, daß sie am 6. Mai bei
       dem Angriff  auf die  Stellung von Verona (Schlacht bei Santa Lu-
       cia) nur  mit vier  Divisionen, 40 000 bis 45 000 Mann, auftreten
       konnten; Radetzky  mochte, mit  der Garnison  von Verona,  36 000
       Mann verwenden.  Das Gleichgewicht auf dem Schlachtfeld war also,
       wenn die  taktische starke Defensivstellung der Östreicher in Er-
       wägung gezogen  wird, schon wieder hergestellt, und die Piemonte-
       sen wurden geschlagen. Die Kontrerevolution vom 15. Mai in Neapel
       befreite Radetzky von der Gegenwart der 15 000 Neapolitaner [115]
       und reduzierte  die Armee des venetianischen Festlandes auf unge-
       fähr 30 000  Mann, wovon  aber nur  5000 päpstliche Schweizer und
       ungefähr ebensoviel  päpstliche italienische Linientruppen im of-
       fenen Felde  zu verwenden  waren; den  Rest bildeten Freischaren.
       Die Nugentsche Reservearmee, die sich im April am Isonzo gebildet
       hatte, schlug  sich leicht  durch diese  Truppen durch und verei-
       nigte sich  am 25.  Mai mit  Radetzky bei  Verona, beinahe 20 000
       Mann stark.  Jetzt konnte  der alte Feldmarschall endlich aus der
       passiven Verteidigung  heraustreten. Um  Peschiera zu  entsetzen,
       das die  Piemontesen belagerten,  und um sich selbst mehr Luft zu
       verschaffen, unternahm er den berühmten Flankenmarsch nach Mantua
       mit seiner  ganzen Armee  (27. Mai), debouchierte von hier am 29.
       auf dem  rechten Ufer  des Mincio, erstürmte die feindliche Linie
       am Curtatone  und drang am 30. gegen Goito, in den Rücken und die
       Flanke der  Italiener vor.  Aber an demselben Tag fiel Peschiera;
       das Wetter  wurde ungünstig,  und zu  einer Entscheidungsschlacht
       fühlte Radetzky sich noch
       
       #241# Po und Rhein
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       nicht stark  genug. Er  marschierte also  am 4. Juni wieder durch
       Mantua nach der Etsch zurück, sandte das Reservekorps nach Verona
       und ging  mit dem Rest seiner Truppen über Legnago gegen Vicenza,
       das von  Durando verschanzt  und mit  17 000 Mann besetzt war. Am
       10. griff  er Vicenza mit 30 000 Mann an, am 11. kapitulierte Du-
       rando nach  tapferer Gegenwehr.  Das zweite  Armeekorps (d'Aspre)
       unterwarf Padua,  das obere Brentatal und das venetianische Fest-
       land überhaupt  und folgte  dann dem  ersten  nach  Verona;  eine
       zweite Reservearmee unter Welden rückte vom Isonzo heran. Während
       dieser Zeit und bis zur Entscheidung des Feldzuges konzentrierten
       die Piemontesen mit abergläubischer Hartnäckigkeit alle ihre Auf-
       merksamkeit auf  das Plateau  von Rivoli,  das sie seit Napoleons
       Sieg für den Schlüssel Italiens anzusehen schienen, das aber 1848
       gar keine  Bedeutung mehr hatte, seitdem die Östreicher sich eine
       sichere Verbindung  mit Tirol  durch die  Vallarsa und namentlich
       auch die  direkte Verbindung  mit Wien über den Isonzo wieder er-
       öffnet hatten.  Zu gleicher  Zeit indes  sollte auch  etwas gegen
       Mantua geschehen; es wurde also auf der rechten Mincioseite bloc-
       kiert - eine Operation, die gar keinen andern Zweck haben konnte,
       als die  im piemontesischen Lager herrschende Ratlosigkeit zu do-
       kumentieren, die Armee auf der ganzen, acht Meilen langen Strecke
       von Rivoli  bis Borgoforte  zu verzetteln und sie obendrein durch
       den Mincio  in zwei Hälften zu teilen, die sich nicht gegenseitig
       unterstützen konnten.
       Als nun  der Versuch  gemacht wurde,  Mantua auch  auf dem linken
       Ufer zu  blockieren,  entschloß  sich  Radetzky,  der  inzwischen
       12 000 Mann  von Weldens  Truppen an sich gezogen hatte, die Pie-
       montesen in  ihrem geschwächten  Zentrum zu  durchbrechen und die
       sich sammelnden  Truppen dann  einzeln zu  schlagen. Am  22. Juli
       ließ er  Rivoli angreifen, das die Piemontesen am 23. räumten; am
       23. rückte  er selbst  von Verona  mit 40 000 Mann gegen die bloß
       von 14 000  Piemontesen verteidigte  Stellung von Sona und Somma-
       campagna, nahm  sie und sprengte dadurch die ganze feindliche Li-
       nie. Der  linke piemontesische  Flügel wurde am 24. vollends über
       den Mincio  zurückgeworfen, und  der inzwischen konzentrierte und
       gegen die  Östreicher vordringende rechte am 25. bei Custozza ge-
       schlagen; am 26. ging die ganze östreichische Armee über den Min-
       cio und  schlug die  Piemontesen noch einmal bei Volta. Damit war
       der Feldzug beendigt; fast ohne Widerstand gingen die Piemontesen
       hinter den Tessin zurück.
       Diese kurze  Erzählung des  Feldzugs von 1848 beweist schlagender
       als alle  theoretischen Gründe  die Stärke der Stellung am Mincio
       und an der Etsch. Im Viereck zwischen den vier Festungen angekom-
       men, mußten die Piemontesen so viel Truppen detachieren, daß ihre
       Offensivkraft, wie die
       
       #242# Friedrich Engels
       -----
       Schlacht von  Santa Lucia  beweist, dadurch  schon gebrochen war,
       während Radetzky, sobald die ersten Verstärkungen kamen, sich mit
       vollkommener Freiheit  zwischen den  Festungen bewegen, sich bald
       auf Mantua,  bald auf Verona basieren, heute auf dem rechten Min-
       cio-Ufer den  Rücken des Feindes bedrohen, wenige Tage darauf Vi-
       cenza erobern und fortwährend die Initiative des Feldzugs ausüben
       konnte. Die  Piemontesen haben  allerdings Fehler über Fehler be-
       gangen; aber  es ist  gerade die  Stärke einer  Stellung, die den
       Feind in  Verlegenheit setzt und ihn fast zwingt, Fehler zu bege-
       hen. Die  Beobachtung, noch mehr die Belagerung der einzelnen Fe-
       stungen nötigt  ihn, sich  zu teilen,  seine disponible Offensiv-
       kraft zu schwächen; die Flüsse zwingen ihn, diese Teilung zu wie-
       derholen, und  setzen seine verschiedenen Korps mehr oder weniger
       in die Unmöglichkeit, sich gegenseitig zu Hülfe zu kommen. Welche
       Kräfte gehören  dazu, Mantua  zu belagern,  solange eine  für das
       Feld disponible Armee jeden Augenblick aus den detachierten Forts
       von Verona vorbrechen kann?
       Mantua allein  war imstande,  1797 die siegreiche Armee des Gene-
       rals Bonaparte  aufzuhalten. Nur  zweimal imponierte ihm eine Fe-
       stung: Mantua und zehn Jahre später Danzig [82]. Der ganze zweite
       Teil der Kampagne von [ 1796 und] 1797: Castiglione, Medole, Cal-
       liano, Bassano, Arcole, Rivoli [81] - alles dreht sich um Mantua,
       und erst  nachdem diese  Festung gefallen,  wagt der  Sieger nach
       Osten und  über den  Isonzo vorzudringen. Damals war Verona nicht
       befestigt; 1848  war von Verona auf dem rechten Etschufer nur die
       Ringmauer fertig,  und die Schlacht von Santa Lucia wurde auf dem
       Terrain geschlagen,  wo gleich darauf die östreichischen Redouten
       und seitdem  permanente detachierte  Forts angelegt  worden sind,
       und erst  hierdurch wird  das verschanzte  Lager von  Verona  der
       Kern, das  Réduit der  ganzen Stellung,  die hierdurch  enorm  an
       Stärke gewonnen.
       Man sieht,  wir denken nicht daran, die Wichtigkeit der Mincioli-
       nie zu  bemäkeln. Aber  vergessen wir nicht: Diese Linie ist erst
       von Wichtigkeit  geworden, seitdem  Östreich auf  eigne Faust  in
       Italien Kriege führt und seitdem die Verbindung Bozen - Innsbruck
       - München  durch die  andere, Treviso  - Klagenfurt-Wien,  in den
       Hintergrund gedrängt  worden ist.  Und  für  Östreich  in  seiner
       jetzigen Gestalt  ist der  Besitz der Minciolinie allerdings eine
       Lebensfrage. Östreich  als selbständiger  Staat, der als europäi-
       sche Großmacht  auch unabhängig von Deutschland agieren will, muß
       entweder den  Mincio und unteren Po beherrschen oder auf die Ver-
       teidigung Tirols  verzichten; Tirol wäre sonst nach beiden Seiten
       umgangen und  nur durch den Toblacher Paß mit dem Rest der Monar-
       chie verbunden (die Straße von Salzburg nach Innsbruck geht durch
       Bayern). Nun existiert zwar eine Ansicht unter älteren
       
       #243# Po und Rhein
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       Militärs, daß Tirol eine große Verteidigungsfähigkeit besitze und
       sowohl das  Donau- wie  das Po-Bassin  beherrsche. Aber diese An-
       sicht ist  unbedingt auf  Phantasterei basiert  und nie durch die
       Erfahrung bewährt,  denn ein  Insurrektionskrieg wie der von 1809
       [116] beweist  nichts für  die Operationen einer regelmäßigen Ar-
       mee.
       Der Urheber dieser Ansicht ist Bülow; er spricht sie unter anderm
       in seiner  Geschichte der  Feldzüge von  Hohenlinden und  Marengo
       [117] aus.  Ein Exemplar der französischen Übersetzung dieses Bu-
       ches,einem englischen  Ingenieuroffizier Emmett  gehörig, der  zu
       Napoleons Zeit in St. Helena kommandiert war, fiel dem gefangenen
       Feldherrn 1819  in die  Hände. Er  machte zahlreiche  Randglossen
       dazu, und  Emmett ließ  das Buch  1831 mit Napoleons Noten wieder
       abdrucken.
       Napoleon ging  offenbar mit  günstigen Eindrücken an die Lektüre.
       Bei Bülows  Vorschlag, die ganze Infanterie in Tirailleurs aufzu-
       lösen, bemerkt er wohlwollend: "De l'ordre, toujours de l'ordre -
       les tirailleurs  doivent toujours  être soutenus par des lignes."
       1*) Dann folgt ein paarmal: "Bien - c'est bien" 2*) - und wieder:
       "Bien". Aber  von der  zwanzigsten Seite an wird es Napoleon doch
       zu toll,  wenn er  den armen  Bülow sich  abarbeiten sieht,  alle
       Wechselfälle des  Kriegs aus  seiner  Theorie  der  exzentrischen
       Rückzüge und  konzentrischen Angriffe mit seltnem Unglück und Un-
       geschick sich zu erklären und durch eine schülerhafte Interpreta-
       tion die  meisterhaftesten Schachzüge  ihres Sinns  zu  berauben.
       Erst ein paarmal: "Mauvais - cela est mauvais - mauvais principe"
       3*) -  dann heißt  es: "Cela  n'est pas  vrai - absurde - mauvais
       plan bien  dangereux - restez unis si vous voulez vaincre - il ne
       faut jamais  séparer son  armée par un fleuve - tout cet échafau-
       dage est absurde" 4*) usw. Und wenn Napoleon gar fortwährend fin-
       det, daß  Bülow stets schlechte Operationen lobt und gute tadelt,
       daß er den Generälen die närrischsten Motive unterschiebt und ih-
       nen die  komischsten Ratschläge gibt, daß er endlich das Bajonett
       abschaffen und  dafür das  zweite Glied der Infanterie mit Lanzen
       bewaffnen will,  so ruft  er aus: "Bavardage inintelligible, quel
       absurde bavardage,  quelle absurdité,  quel misérable  bavardage,
       quelle ignorance de la guerre." 5*)
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       1*) "Ordnung, zu  jeder Zeit  Ordnung - die Schützen müssen stets
       durch Linientruppen  unterstützt werden."  - 2*) "Gut  - das  ist
       gut" -  3*) "Schlecht -  das ist schlecht - schlechtes Prinzip" -
       4*) "Das ist  nicht richtig - unsinnig - schlechter, sehr gefähr-
       licher Plan  - bleiben  Sie vereint, wenn Sie siegen wollen - man
       darf nie  seine Armee  durch einen  Fluß teilen  -  dieses  ganze
       Gerede ist  unsinnig" -  5*) "Unverständliches  Geschwätz,  welch
       unsinniges Geschwätz,  welche Abgeschmacktheit,  welch miserables
       Geschwätz, welche Unkenntnis des Krieges."
       
       #244# Friedrich Engels
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       Bülow wirft  hier der  östreichischen Donauarmee  unter Kray vor,
       nach Ulm  statt nach  Tirol gegangen zu sein. Tirol, diese unein-
       nehmbare Bastion  von Bergen  und Felsen,  beherrsche Bayern  und
       einen Teil  der Lombardei zu gleicher Zeit, sobald es von hinrei-
       chenden Truppen besetzt sei (Napoleon: "On n'attaque pas les mon-
       tagnes, pas plus le Tirol que la Suisse, on les observe et on les
       tourne par les plaines" 1*). Dann wirft Bülow Moreau vor, er habe
       sich durch Kray bei Ulm festhalten lassen, statt ihn stehenzulas-
       sen und Tirol, das schwach besetzt war, zu erobern: Die Eroberung
       Tirols hätte  die östreichische  Monarchie niedergeworfen  (Napo-
       leon: "Absurde, quand même le Tirol eût été ouvert, il ne fallait
       pas y entrer" 2*)).
       Nachdem  Napoleon   die  Lektüre   des  ganzen   Buchs  beendigt,
       charakterisierte er  das System  der exzentrischen  Rückzüge  und
       konzentrischen Angriffe und der Beherrschung der Ebenen durch die
       Berge mit  folgenden Worten: "Si vous voulez apprendre la manière
       de faire  battre une  armée supérieure  par une armée inférieure,
       étudiez les  maximes de cet écrivain; vous aurez des idées sur la
       science de la guerre, il vous prescrit le contre-pied de ee qu'il
       faut enseigner." 3*)
       Drei- bis  viermal wiederholte  Napoleon die Warnung: "Il ne faut
       jamais attaquer  les pays des montagnes." 4*) Diese Scheu vor dem
       Gebirg datiert  offenbar aus seinen späteren Jahren, wo seine Ar-
       meen eine  so kolossale Stärke erreichten und sowohl der Verpfle-
       gung wie der taktischen Entwicklung halber an die Ebenen gebunden
       waren. Spanien1118'  und Tirol  mögen auch das Ihrige dazu beige-
       tragen haben  Sonst fürchtete  er sich doch nicht so sehr vor den
       Bergen. Die  erste Hälfte  seines Feldzugs  von [1796  und]  1797
       wurde ganz im Gebirge geschlagen, und in den folgenden Jahren be-
       wiesen Masséna  und Macdonald  hinlänglich, daß  man auch  im Ge-
       birgskrieg -  und grade  da am allerersten - mit geringen Kräften
       Großes leisten kann. Aber im ganzen ist es klar, daß unsre moder-
       nen Armeen  im gemischten  Terrain der Ebnen und des niederen Hü-
       gellandes ihre  Kräfte am  besten zur  Geltung bringen können und
       daß eine  Theorie falsch  ist, die  vorschreibt, eine große Armee
       ins Hochgebirg  zu werfen  - nicht  zum Durchzug, sondern um dort
       dauernd Stellung zu nehmen -, solange rechts und links Ebenen wie
       die bayerische und lombardische
       -----
       1*) "Man greift die Berge nicht an, weder Tirol noch die Schweiz,
       man beobachtet  sie nur  und  umgeht  sie  durch  die  Ebenen"  -
       2*) "Unsinnig, selbst  wenn Tirol  offen gewesen wäre, dürfte man
       nicht dort  einrücken" -  3*) "Wenn Sie lernen wollen, wie man es
       anstellt, eine  überlegene  Armee  von  einer  schwächeren  Armee
       schlagen zu  lassen, so  studieren Sie  nur die Grundsätze dieses
       Schriftstellers, Sie  werden  schöne  Begriffe  von  der  Kriegs-
       wissenschaft bekommen,  er schreibt  Ihnen das  Gegenteil von dem
       vor, was  man lehren muß." - 4*) "Man darf niemals die Bergländer
       angreifen."
       
       #245# Po und Rhein
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       frei liegen,  in denen  man den Krieg entscheiden kann. Wie lange
       kann eine  Armee von  150 000  Mann in  Tirol ernährt werden? Wie
       bald würde  der Hunger  sie in  die Ebene hinuntertreiben, wo sie
       inzwischen dem  Gegner Zeit  gelassen hat,  sich festzusetzen, wo
       sie gezwungen  werden kann, eine Schlacht unter den ungünstigsten
       Bedingungen zu  schlagen? Und  wo könnte  sie in den engen Tälern
       einePosition finden,  in der  sie ihre  ganze  Stärke  entwickeln
       kann?
       Für Ostreich  wäre, sobald es den Mincio und die Etsch nicht mehr
       besitzt, Tirol  ein verlorner  Posten, den es aufzugeben genötigt
       wäre, sobald  er von  Norden oder  Süden  angegriffen  wird.  Für
       Deutschland umgeht  Tirol die  Lombardei bis  an die  Adda  durch
       seine Pässe;  für ein separat handelndes Östreich umgeht die Lom-
       bardei und das Venetianische bis an die Brenta Tirol, Nur solange
       Bayern Tirol im Norden und der Besitz der Minciolinie es im Süden
       deckt, ist  es für Östreich haltbar. Die Stiftung des Rheinbundes
       [119] machte  es für  Östreich unmöglich,  selbst Tirol  und  das
       Venetianische  zusammengenommen  ernsthaft  zu  verteidigen,  und
       daher war es ganz konsequent, wenn Napoleon im Preßburger Frieden
       [120] beide Provinzen von Östreich trennte.
       Für Östreich  also ist  der Besitz  der Minciolinie mit Peschiera
       und Mantua  eine absolute Notwendigkeit. Für Deutschland als Gan-
       zes ist  ihr Besitz  keineswegs notwendig,  obwohl er militärisch
       immer noch  ein großer Vorteil ist. Worin dieser Vorteil besteht,
       liegt auf  der Hand.  Nur darin,  daß er  uns von vornherein eine
       starke Position  in der lombardischen Ebene sichert, die wir dann
       - nicht  erst zu  erobern brauchen,  und daß  er unsere Verteidi-
       gungsstellung bequem  arrondiert, unsre  Offensive aber bedeutend
       unterstützt.
       Wenn aber Deutschland die Minciolinie nicht hat?
       Nehmen wir  an,  ganz  Italien  sei  unabhängig,  einig  und  mit
       Frankreich zum  Offensivkriege gegen  Deutschland verbündet.  Aus
       allem, was  wir bisher  gesagt haben,  geht hervor, daß in diesem
       Falle die  Operations- und Rückzugslinie der Deutschen nicht Wien
       - Klagenfurt  - Treviso,  sondern München - Innsbruck - Bozen und
       München - Füssen - Finstermünz - Glums wären, und daß ihre Debou-
       chés in  der lombardischen  Ebene zwischen der Val Sugana und der
       Schweizer Grenze  liegen. Wo  ist nun der entscheidende Angriffs-
       punkt? Offenbar  derjenige Teil  Oberitaliens, der die Verbindung
       der Halbinsel mit Piemont und Frankreich vermittelt, der mittlere
       Po von  Alessandria bis Cremona. Aber die Pässe zwischen Gardasee
       und Comer  See reichen vollständig hin, um den Deutschen das Vor-
       dringen in  diese Gegend  zu gestatten  und ihnen den Rückzug auf
       demselben Wege,  im schlimmsten  Fall über das Stilfser Joch, of-
       fenzuhalten. In  diesem Fall  würden die Mincio- und Etschfestun-
       gen, die wir im Besitz der Italiener angenommen haben, weitab vom
       
       #246# Friedrich Engels
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       entscheidenden Schlachtfeld liegen. Eine Besatzung des verschanz-
       ten Lagers  von Verona mit entsprechenden, zur Offensive hinläng-
       lichen Kräften würde nur eine unnütze Zersplitterung der feindli-
       chen Truppen  sein. Oder erwartet man, daß die Italiener in Masse
       auf dem  vielbeliebten  Plateau  von  Rivoli  den  Deutschen  das
       Etschtal verlegen  würden? Seitdem  die Stelviostraße  (über  das
       Stilfser Joch) gebaut ist, hat das Débouché aus dem Etschtal viel
       von seiner  Wichtigkeit verloren.  Aber gesetzt den Fall, daß Ri-
       voli wieder  als Schlüssel Italiens figurieren sollte und daß die
       Deutschen von  der Attraktionskraft  der dort stehenden italieni-
       schen Armee  stark genug  angezogen würden, um den Angriff zu ma-
       chen -  wozu sollte  dann noch  Verona dienen?  Es  schließt  das
       Etschtal nicht,  sonst wäre  der Marsch der Italiener nach Rivoli
       überflüssig. Um  den Rückzug  im Fall einer Niederlage zu decken,
       ist Peschiera  hinlänglich, das  einen sichern  Übergang über den
       Mincio bietet und damit den weiteren Marsch nach Mantua oder Cre-
       mona sicherstellt.  Eine Massenaufstellung  der ganzen  italieni-
       schen Streitmacht  zwischen den  vier Festungen,  etwa um die An-
       kunft der  Franzosen hier  zu erwarten,  ohne zur Schlacht provo-
       ziert werden  zu können,  würde aber  gerade von  Anbeginn des  -
       Feldzugs an die uns feindlichen Kräfte in zwei Hälften teilen und
       es uns möglich machen, auf ihre Vereinigungslinie mit gesammelten
       Kräften erst  gegen die Franzosen vorzudringen und, nachdem diese
       geschlagen, den allerdings etwas langwierigen Prozeß der Delogie-
       rung der  Italiener aus ihren Festungen vorzunehmen. Ein Land wie
       Italien, dessen  nationale Armee  bei jedem erfolgreichen Angriff
       aus Norden und Osten sofort in das Dilemma versetzt ist, zwischen
       der Basis  Piemont und  der Basis  der Halbinsel zu wählen, solch
       ein Land  muß offenbar seine großen Defensivanlagen in der Gegend
       haben, wo  die Armee in dies Dilemma kommen kann. Hier bieten der
       Einfluß des  Tessin und der Adda in den Po Anhaltspunkte dar. Der
       General von  Willisen ("Italienischer  Feldzug des  Jahres 1848")
       wünschte beide  Punkte von  den Östreichern  befestigt. Abgesehen
       davon, daß  dies schon deswegen nicht geht, weil ihnen das nötige
       Terrain nicht gehört (bei Cremona ist das rechte Po-Ufer parmesa-
       nisch, und in Piacenza haben sie nur das Garnisonsrecht), so sind
       auch beide  Punkte für eine große Defensivstellung zu weit vorge-
       schoben in einem Lande, wo die Östreicher in jedem Kriege von In-
       surrektionen umgeben  sein werden;  ferner vergißt  Willisen, der
       nie zwei  Flüsse sich  vereinigen sehen kann, ohne gleich für ein
       großes verschanztes  Lager Pläne zu machen, daß weder Tessin noch
       Adda verteidigungsfähige  Linien sind, also auch nach seiner eig-
       nen Ansicht  das dahinterliegende Land nicht decken. Aber was für
       die Östreicher  nutzlose Verschwendung wäre, das ist für die Ita-
       liener unbedingt  eine gute  Position. Für  sie ist  der  Po  die
       Hauptverteidigungslinie;
       
       #247# Po und Rhein
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       das Dreieck  Pizzighettone -  Cremona - Piacenza, mit Alessandria
       links und  Mantua rechts, würde eine wirksame Verteidigung dieser
       Linie herstellen  und der  Armee erlauben, sowohl gedeckt die An-
       kunft entfernter  Bundesgenossen zu erwarten als auch im gegebnen
       Fall offensiv  in der  entscheidenden Ebene  zwischen  Sesia  und
       Etsch vorzugehn.
       Der General von Radowitz sprach sich in der Frankfurter National-
       versammlung dahin  aus: Wenn  Deutschland die  Minciolinie  nicht
       mehr besitze, so sei es in die Stellung versetzt, in die es jetzt
       erst nach einem ganzen unglücklichen Feldzug komme. Der Krieg sei
       dann sofort auf deutsches Gebiet gespielt; er fange am Isonzo und
       in Welschtirol  an, und  alles süddeutsche Gebiet bis nach Bayern
       hinein sei  umgangen, so  daß der Krieg auch in Deutschland statt
       am Oberrhein dann an der Isar ausgefochten werden müsse. [105]
       Der General  von Radowitz  scheint die  militärischen  Kenntnisse
       seines Publikums  ziemlich richtig  beurteilt zu  haben.  Es  ist
       richtig: Wenn  Deutschland die Minciolinie aufgibt, so gibt es an
       Terrain und Positionen so viel auf, als den Franzosen und Italie-
       nern ein  ganzer glücklicher Feldzug einbringen würde. Aber damit
       ist Deutschland  denn doch  noch lange nicht in die Stellung ver-
       setzt, in  die ein  unglücklicher Feldzug  es bringen würde. Oder
       ist eine  starke, intakte  deutsche Armee, die sich am bayrischen
       Fuß der  Alpen versammelt  und über die Tiroler Pässe marschiert,
       um in  die Lombardei einzufallen, in derselben Lage wie ein durch
       eine unglückliche  Kampagne ruiniertes  und demoralisiertes Heer,
       das vom  Feinde gejagt  dem Brenner  zueilt? Ist die Chance einer
       erfolgreichen Offensive  von einer Position aus, die den Vereini-
       gungspunkt der  Franzosen und  Italiener in  vieler Beziehung be-
       herrscht, gleich der Chance einer geschlagenen Armee, ihre Artil-
       lerie über  die Alpen zu bringen? Ehe wir die Minciolinie hatten,
       haben wir  Italien viel öfter erobert, als seitdem wir sie haben;
       wer will  bezweifeln, daß wir im Notfall das Kunststück noch ein-
       mal machen?
       Was nun  den Punkt  betrifft, daß  ohne die Minciolinie der Krieg
       sofort nach  Bayern und  Kärnten hineingespielt wird, so ist auch
       das nicht  richtig. Unsre  ganze Darstellung läuft darauf hinaus,
       daß ohne die Minciolinie die Verteidigung der deutschen Südgrenze
       n u r   o f f e n s i v  geschehen kann. Dazu führt die gebirgige
       Natur der  deutschen Grenzprovinzen, die nicht zum entscheidenden
       Schlachtfeld dienen  können; dazu führt die günstige Lage der Al-
       penpässe. Das  Schlachtfeld liegt  in den  Ebenen vor ihnen. Dort
       müssen wir  hinabsteigen, und  das kann  uns keine Macht der Erde
       wehren. Eine  günstigere Einleitung  der Offensive als diejenige,
       die uns hier für den ungünstigsten Fall einer französisch-italie-
       nischen Allianz geboten wird, ist nicht
       
       #248# Friedrich Engels
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       leicht zu  denken. Unterstützt kann sie werden durch Verbesserung
       der Alpenstraßen  und durch Befestigungen an den Straßenknoten in
       Tirol, die  ansehnlich genug sein müssen, um im Fall des Rückzugs
       den Feind,  wo nicht  ganz aufzuhalten, doch zu starken Detachie-
       rungen zum  Schutz seiner Verbindungen zu nötigen. Was die Alpen-
       straßen angeht,  so beweisen  uns sämtliche  Kriege in den Alpen,
       daß  auch  die  meisten  nichtchaussierten  Hauptwege  und  viele
       Saumpfade für alle Waffengattungen ohne übergroße Mühe passierbar
       sind. Unter  diesen Umständen  sollte eine  deutsche Offensive in
       die Lombardei  doch wahrlich  so einzurichten  sein, daß sie alle
       Aussicht auf Erfolg hat. Freilich, wir können trotzdem geschlagen
       werden; und  dann würde  der Fall  eintreten,  von  dem  Radowitz
       spricht. Wie  steht es dann mit dem Entblößen Wiens und dem Umge-
       hen Bayerns durch Tirol?
       Erstens ist  es klar,  daß kein feindliches Bataillon wagen darf,
       über den Isonzo zu gehn, solange nicht die deutsche Armee von Ti-
       rol ganz  und unwiederbringlich  über den  Brenner zurückgeworfen
       ist. Von  dem Augenblick an, wo Bayern die deutsche Operationsba-
       sis gegen  Italien bildet, von dem Augenblick an hat eine italie-
       nisch-französische Offensive  in der Richtung auf Wien gar keinen
       Zweck mehr,  sie wäre  eine nutzlose  Zersplitterung der  Kräfte.
       Wäre aber  auch Wien  dann noch  ein so wichtiges Zentrum, daß es
       der Mühe  wert wäre, die Hauptmacht der feindlichen Armee zu sei-
       ner Eroberung zu detachieren, so beweist das bloß, daß Wien befe-
       stigt werden muß. Napoleons Zug 1797  1*), die Invasionen in Ita-
       lien und  Deutschland 1805  und 1809  hätten sehr schlimm für die
       Franzosen endigen  können, wäre  Wien befestigt gewesen. Eine auf
       solche Entfernungen  vorgedrungene Offensive  läuft immer Gefahr,
       an einer  befestigten Hauptstadt  ihre  letzten  Kräfte  zu  zer-
       schellen. Übrigens  angenommen, der Feind habe die deutsche Armee
       über den  Brenner geworfen,  welches Maß  von Überlegenheit  wird
       nicht vorausgesetzt,  um eine  wirksame Detachierung  nach Inner-
       östreich möglich zu machen!
       Wie steht  es aber mit der Umgehung von ganz Süddeutschland durch
       Italien? In  der Tat,  wenn die Lombardei Deutschland bis München
       umgeht, wie weit umgeht dann Deutschland Italien? Doch jedenfalls
       bis Mailand  und Pavia. Die Chancen sind also soweit gleich. Aber
       infolge der  viel größeren Breite Deutschlands braucht eine Armee
       am Oberrhein, die über Italien auf München "umgangen" wird, darum
       nicht sogleich  zurückzugehen. Ein verschanztes Lager in Oberbay-
       ern oder  eine passagère  Befestigung Münchens würde die geschla-
       gene Tiroler Armee aufnehmen und die Offensive des nachdringenden
       Feindes bald zum Stehen bringen, während der Oberrheinarmee
       -----
       1*) (1859) 1798
       
       #249# Po und Rhein
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       die Wahl bliebe, sich auf Ulm und Ingolstadt oder auf den Main zu
       basieren, schlimmstenfalls  also die Operationsbasis zu wechseln.
       In Italien  dagegen ist  das alles  anders. Ist eine italienische
       Armee durch  die Tiroler Pässe im Westen umgangen, so braucht sie
       nur noch  aus ihren Festungen vertrieben zu werden, und ganz Ita-
       lien ist  erobert. Deutschland,  in einem Kriege gegen Frankreich
       und Italien  zusammen, hat stets mehrere Armeen, mindestens drei,
       und der  Sieg oder die Niederlage hängt ab von dem Gesamtresultat
       aller drei Feldzüge. Italien bietet nur Raum für eine Armee; jede
       Teilung wäre  ein Fehler; und ist diese eine Armee vernichtet, so
       ist damit Italien erobert. Für eine französische Armee in Italien
       ist die  Verbindung mit Frankreich unter allen Umständen Hauptsa-
       che; und  solange diese  Verbindungslinie nicht  auf den  Col  di
       Tenda und Genua beschränkt wird, solange bietet sie den Deutschen
       in Tirol  die Flanke dar - und umso mehr, je weiter die Franzosen
       in Italien  vorrücken. Der  Fall eines  Eindringens der Franzosen
       und Italiener  nach Bayern durch Tirol muß allerdings von dem Au-
       genblick an vorgesehen werden, wo wieder  d e u t s c h e  Kriege
       in Italien  geführt werden  und die  Operationsbasis von Östreich
       nach Bayern  verlegt wird. Aber mit geeigneten fortifikatorischen
       Anlagen im  modernen Sinn,  wo die Festungen um der Armeen, nicht
       aber die  Armeen um der Festungen willen da sind, kann dieser In-
       vasion weit  leichter die  Spitze abgebrochen  werden  als  einer
       deutschen Invasion  nach Italien. Und darum brauchen wir aus die-
       ser sogenannten  "Umgehung" von ganz Süddeutschland kein Schreck-
       bild zu machen. Der Feind, der eine deutsche Oberrheinarmee durch
       Italien und Tirol umgeht, muß bis an die Ostsee vorrücken, ehe er
       die Früchte  dieser Umgehung  pflücken kann. Der Marsch Napoleons
       von Jena  nach Stettin  [121] läßt  sich aber in der Richtung von
       München auf Danzig schwerlich wiederholen.
       Daß Deutschland,  wenn es die Etsch- und Minciolinie aufgibt, ei-
       ner sehr starken Defensivposition entsagt, dies bestreiten wir in
       keiner Weise.  Daß aber  diese Position  zur Sicherheit der deut-
       schen Südgrenze   n o t w e n d i g   sei,  dies  bestreiten  wir
       durchaus. Wenn  man freilich,  wie die  Vertreter  der  entgegen-
       gesetzten Ansicht zu tun scheinen, von der Voraussetzung ausgeht,
       daß eine  deutsche  Armee,  wo  sie  sich  auch  zeigt,  jedesmal
       geschlagen wird - dann mag man sich, einbilden, daß Etsch, Mincio
       und Po  uns unbedingt  nötig  seien.  Dann  aber  können  sie  in
       Wirklichkeit erst  recht nichts nützen; dann helfen uns weder Fe-
       stungen noch  Armeen, dann  gehen wir  am besten gleich durch das
       Kaudinische Joch  [122]. Wir  haben andre Ansichten von der Wehr-
       kraft Deutschlands,  und wir  sind deshalb  ganz zufrieden, unsre
       Südgrenze gesichert  zu sehn  durch die Vorteile, die sie der Of-
       fensive auf lombardischem Boden darbietet.
       
       #250# Friedrich Engels
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       Hier aber  kommen auch  politische Erwägungen  ins Spiel, die wir
       nicht beiseite  lassen können.  Die nationale Bewegung in Italien
       ist seit  1820 [123] aus jeder Niederlage verjüngt und gewaltiger
       hervorgegangen. Es gibt wenig Länder, deren sogenannte natürliche
       Grenzen so  nahe mit  den Grenzen der Nationalität zusammenfallen
       und zugleich  so prononciert  sind. Wenn  in einem solchen Lande,
       das obendrein  an fünfundzwanzig  Millionen Einwohner  zählt, die
       nationale Bewegung  einmal erstarkt ist, so kann sie nicht wieder
       ruhen, solange  einer der besten, politisch und militärisch wich-
       tigsten Landesteile  und damit beinahe ein Viertel der Gesamtein-
       wohnerzahl einer  antinationalen Fremdherrschaft unterworfen ist.
       Seit 1820 herrscht Östreich in Italien nur noch durch die Gewalt,
       durch das  Niederschlagen wiederholter  Insurrektionen, durch den
       Terrorismus des Belagerungszustandes. Um seine Herrschaft in Ita-
       lien zu  behaupten, ist östreich genötigt, seine politischen Geg-
       ner, d. h. jeden Italiener, der sich als Italiener fühlt, schlim-
       mer als  gemeine Verbrecher  zu behandeln. Die Art und Weise, wie
       die italienischen  politischen Gefangenen  von Östreich behandelt
       wurden und noch stellenweise behandelt werden, ist in zivilisier-
       ten Ländern  unerhört. Die Östreicher haben politische Verbrecher
       in Italien  mit besonderer Vorliebe durch Stockprügel zu infamie-
       ren gesucht,  sei es  um Geständnisse  zu erpressen, sei es unter
       dem Vorwand  der Strafe.  Man hat  über den  italienischen Dolch,
       über den politischen Meuchelmord viel sittliche Entrüstung ergos-
       sen; man scheint aber ganz vergessen zu haben, daß der östreichi-
       sche Stock  ihn provozierte.  Die Mittel, deren Östreich sich be-
       dienen muß, um seine Herrschaft in Italien zu behaupten, sind der
       allerbeste Beweis,  daß diese Herrschaft unmöglich von Dauer sein
       kann; und Deutschland, das trotz Radowitz, Willisen und Hailbron-
       ner nicht dasselbe Interesse an ihr hat als östreich, Deutschland
       ist allerdings in den Fall versetzt, sich zu fragen, ob denn dies
       Interesse groß  genug ist,  um die  vielen Nachteile aufzuwiegen,
       die mit ihr verbunden sind.
       Oberitalien ist  ein Anhängsel,  das Deutschland  unter allen Um-
       ständen nur  im Kriege  nutzen, im Frieden aber nur schaden kann.
       Die zu  seiner Niederhaltung  nötigen Armeen sind seit 1820 immer
       stärker geworden  und übersteigen  seit 1848  im tiefsten Frieden
       70 000 Mann,  die sich  fortwährend wie  in Feindesland befinden,
       jeden Augenblick  auf Angriffe gefaßt sein müssen. Der Krieg 1848
       und 1849  und die  Okkupation Italiens bis heute - trotz der pie-
       montesischen Kriegskontribution, trotz der wiederholten lombardi-
       schen  Kontributionen,  Zwangsanleihen  und  Extrasteuern  -  hat
       Östreich offenbar  weit mehr  gekostet, als ihm Italien seit 1848
       eingebracht hat. Und doch ist von 1848 bis 1854 das Land systema-
       tisch als eine bloß provisorische Besitzung behandelt worden, aus
       der man zieht, soviel man kann, ehe man sie
       
       #251# Po und Rhein
       -----
       räumt. Erst  seit dem orientalischen Krieg [72] ist die Lombardei
       auf ein  paar Jahre  in einen  weniger abnormen Zustand getreten;
       und wie lange wird der dauern, bei den jetzigen Verwicklungen, wo
       das italienische Nationalgefühl wieder so heftig pulsiert?
       Was aber  viel wichtiger  ist, wiegt der Besitz der Lombardei all
       den Haß,  alle die fanatische Feindschaft auf, die er uns in ganz
       Italien zugezogen hat? Wiegt er die Mitverantwortlichkeit auf für
       die Maßregeln,  durch die  Östreich  -  im  Namen  und  Interesse
       Deutschlands, wie uns versichert wird - seine Herrschaft dort si-
       cherstellt? Wiegt er die fortwährenden Einmischungen in die inne-
       ren Angelegenheiten  des übrigen Italiens auf, ohne die, nach der
       bisherigen Praxis und den östreichischen Versicherungen, die Lom-
       bardei nicht festgehalten werden kann und die den Haß der Italie-
       ner gegen  uns Deutsche nur noch flammender machen? In allen bis-
       herigen militärischen  Erwägungen haben wir immer den schlimmsten
       Fall, den  einer Allianz  Frankreichs mit Italien, vorausgesetzt.
       Solange wir  die Lombardei  behalten, ist  Italien unbedingt  der
       Bundesgenosse Frankreichs  in jedem  französischen  Kriege  gegen
       Deutschland. Sobald  wir sie  aufgeben, hört das auf. Ist es aber
       unser Interesse,  vier Festungen  zu behalten und uns dagegen die
       fanatische Feindschaft  und den Franzosen die Allianz von 25 Mil-
       lionen Italienern zu sichern?
       Das interessierte Gerede von der politischen Unfähigkeit der Ita-
       liener und  ihrem Beruf, unter deutscher oder französischer Herr-
       schaft zu  stehn, sowie  die verschiedenen Spekulationen über die
       Möglichkeit oder  Unmöglichkeit eines einigen Italiens kommen uns
       im Munde  von Deutschen  etwas befremdlich  vor. Wie lange ist es
       denn her,  daß wir, die große deutsche Nation, die doppelt soviel
       Seelen zählt  als die  Italiener, seit   w i r   dem "Beruf" ent-
       gangen sind,  entweder unter  französischer oder unter russischer
       Herrschaft zu  stehn? Und  hat die Praxis von heute die Frage von
       der Einheit  oder Uneinheit Deutschlands gelöst? Stehen wir nicht
       in diesem  Augenblick aller  Wahrscheinlichkeit nach  am Vorabend
       von Ereignissen,  die über  unsre Zukunft  nach beiden Richtungen
       hin erst  die Frage der Entscheidung entgegenreifen werden? Haben
       wir denn  Napoleon in  Erfurt ganz  vergessen oder den östreichi-
       schen Appell  an Rußland  auf den Warschauer Konferenzen oder die
       Schlacht von Bronzell? [124]
       Wir wollen für den Augenblick zugeben, daß Italien entweder unter
       deutschem oder  französischem Einfluß  stehen muß. In diesem Fall
       entscheidet außer  den Sympathien  namentlich auch noch die mili-
       tärgeographische Lage  der  beiden  beeinflussenden  Länder.  Die
       Streitkräfte Frankreichs  und Deutschlands  wollen wir für gleich
       stark annehmen,  obwohl Deutschland  offenbar weit  stärker  sein
       könnte. Nun aber glauben wir bewiesen zu haben, daß im
       
       #252# Friedrich Engels
       -----
       allergünstigsten Fall,  wenn nämlich  das Wallis  und der Simplon
       den Franzosen offenstehn, ihr unmittelbarer kriegerischer Einfluß
       nur Piemont umfaßt und sie erst eine Schlacht gewinnen müssen, um
       ihn auf weiterliegende Gebiete auszudehnen, während unser Einfluß
       sich auf  die ganze  Lombardei und  auf den Verbindungspunkt zwi-
       schen Piemont und der Halbinsel erstreckt und man uns erst schla-
       gen muß,  um uns  diesen Einfluß  zu nehmen.  Wo aber eine solche
       geographische Anlage  zur Herrschaft gegeben ist, da hat der Ein-
       fluß Deutschlands  nichts von  der  französischen  Konkurrenz  zu
       fürchten.
       Der General  Hailbronner sagte in der A[ugsburger] "A[llgemeinen]
       Z[eitung]" neulich  ungefähr: Deutschland hat einen andern Beruf,
       als zum  Blitzableiter für  die Donnerschläge zu dienen, die sich
       über dem  Haupt der  bonapartischen Dynastie  zusammenziehn.  Mit
       demselben Recht können die Italiener sagen: Italien hat einen an-
       dern Beruf,  als den  Deutschen zum  Puffer zu  dienen gegen  die
       Stöße, die Frankreich gegen sie führt, und zum Dank dafür von den
       Östreichern mit  Stockprügeln  regaliert  zu  werden.  Wenn  aber
       Deutschland ein Interesse daran hat, sich hier einen solchen Puf-
       fer zu erhalten, so geschieht das jedenfalls viel besser dadurch,
       daß es  sich mit Italien auf einen guten Fuß stellt, der nationa-
       len Bewegung  ihr Recht  widerfahren läßt  und die  italienischen
       Dinge solange  den Italienern  überläßt, als  sie sich  nicht  in
       deutsche  Dinge   mischen.  Die   Radowitzsche  Behauptung,   daß
       Frankreich morgen  in Oberitalien  herrschen müsse, wenn Östreich
       heute hinausgeht,  war zu  ihrer Zeit ebenso unbegründet, als sie
       es noch  vor drei Monaten war; wie die Dinge heute stehn, scheint
       sie eine  Wahrheit werden  zu wollen, aber in einem dem Radowitz-
       schen entgegengesetzten  Sinn. Wenn  die fünfundzwanzig Millionen
       Italiener nicht  ihre Unabhängigkeit  behaupten können, so müssen
       es die zwei Millionen Dänen, die vier Millionen Belgier, die drei
       Millionen Holländer  noch weniger. Trotzdem hören wir die Vertei-
       diger der deutschen Herrschaft in Italien nicht über französische
       oder schwedische  Herrschaft in  diesen Ländern  lamentieren  und
       verlangen, daß sie durch deutsche Herrschaft ersetzt werde.
       Was die  Einheitsfrage angeht,  so denken wir: Entweder kann Ita-
       lien einig  werden, und  dann hat es eine eigne Politik, die not-
       wendigerweise weder  deutsch noch  französisch ist  und daher uns
       nicht schädlicher  sein kann  als den  Franzosen; oder  es bleibt
       zersplittert, und  dann sichert  uns die Zersplitterung Bundesge-
       nossen in Italien bei jedem Krieg mit Frankreich.
       Soviel ist  jedenfalls sicher:  Ob wir  die Lombardei  haben oder
       nicht, einen  bedeutenden Einfluß  in Italien  haben  wir  immer,
       s o l a n g e   w i r  z u  H a u s e  s t a r k  s i n d.  Über-
       lassen wir es Italien, seine eignen Sachen selbst abzumachen, so
       
       #253# Po und Rhein
       -----
       hört der  Haß der  Italiener gegen  uns von selbst auf, und unser
       natürlicher Einfluß  auf sie wird jedenfalls viel bedeutender und
       kann sich  unter Umständen  zur  wirklichen  Hegemonie  steigern.
       Statt also unsre Stärke im Besitz fremden Bodens zu suchen und in
       der Unterdrückung  einer fremden Nationalität, der nur das Vorur-
       teil die  Zukunftsfähigkeit absprechen  kann, werden  wir  besser
       tun, dafür  zu sorgen,  daß wir   i n   u n s r e m   e i g n e n
       H a u s e  e i n s  u n d  s t a r k  s i n d.
       
       #254#
       -----
       III
       
       Was dem einen recht, das ist dem andern billig. Verlangen wir den
       Po und den Mincio zum Schutz nicht sowohl gegen die Italiener als
       gegen die Franzosen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Fran-
       zosen ebenfalls  Flußlinien zum Schutz gegen uns in Anspruch neh-
       men.
       Der Schwerpunkt  Frankreichs liegt nicht im Zentrum an der Loire,
       bei Orléans, sondern im Norden, an der Seine, in Paris; und zwei-
       malige Erfahrung  beweist, daß  mit Paris  ganz Frankreich  fällt
       [125].  Die   militärische   Bedeutung   der   Grenzkonfiguration
       Frankreichs richtet  sich also vor allem nach dem Schutz, den sie
       Paris gewährt,
       Von Paris bis Lyon, Basel, Straßburg, Lauterburg in gerader Linie
       ist [es]  ungefähr gleich  weit, fünfundfünfzig Meilen etwa. Jede
       Invasion Frankreichs  von Italien  aus, mit Paris zum Objekt, muß
       aber in der Gegend von Lyon, zwischen Rhône und Loire, oder nörd-
       licher vordringen,  wenn sie  nicht ihre  Verbindungen  gefährden
       will. Die  Alpengrenze Frankreichs  also, südlich  von  Grenoble,
       kommt bei  einem Vorrücken  gegen Paris  nicht in Betracht; Paris
       ist von dieser Seite her vollständig gedeckt.
       Von Lauterburg  an verläßt  die französische Grenze den Rhein und
       wendet sich,  im rechten  Winkel gegen  ihn, nach Nordwesten; sie
       bildet von  Lauterburg bis  Dünkirchen eine so gut wie gerade Li-
       nie. Der Kreisbogen, den wir mit dem Radius Paris - Lyon über Ba-
       sel und  Straßburg bis Lauterburg beschrieben, wird also hier un-
       terbrochen; die französische Nordgrenze bildet vielmehr die Sehne
       zu diesem  Bogen, und  das Kreissegment jenseits dieser Sehne ge-
       hört nicht zu Frankreich. Die kürzeste Verbindungslinie von Paris
       nach der Nordgrenze, die Linie Paris - Möns, ist nur halb so lang
       wie der Radius Paris - Lyon oder - Straßburg.
       In diesen einfachen geometrischen Verhältnissen ist der Grund ge-
       geben, warum  Belgien das  Schlachtfeld aller im Norden geführten
       Kriege zwischen  Deutschland und Frankreich sein muß. Belgien um-
       geht das  ganze östliche  Frankreich von Verdun und der Obermarne
       bis an den Rhein. Das heißt: Eine
       
       #255# Po und Rhein
       -----
       von Belgien  eindringende Armee kann eher bei Paris sein als eine
       über Verdun oder Chaumont hinaus nach dem Rhein zu stehende fran-
       zösische Armee zurück sein kann; die aus Belgien vordringende Ar-
       mee kann sich also bei erfolgreicher Offensive stets zwischen Pa-
       ris und  die französische Mosel- oder Rheinarmee einkeilen; um so
       mehr, als der Weg von der belgischen Grenze nach den die Umgehung
       entscheidenden Punkten  an  der  Marne  (Meaux,  Château-Thierry,
       Epernay) noch kürzer ist als der nach Paris selbst.
       Damit nicht  genug. Auf  der ganzen  Linie, von  der Maas bis zur
       See, steht  in der Richtung auf Paris dem Feinde nicht das aller-
       geringste Terrainhindernis  entgegen, bis er an die Aisne und die
       untere Oise  kommt, die aber für die Verteidigung von Paris gegen
       Norden ziemlich  ungünstig verlaufen. Weder 1814 noch 1815 legten
       sie dem  Angriff ernsthafte Schwierigkeiten in den Weg. Aber auch
       zugegeben, daß  sie in  den Bereich  des durch die Seine und ihre
       Nebenflüsse gegebenen  Verteidigungssystems gezogen werden können
       und 1814  teilweise  hineingezogen  wurden,  so  ist  doch  damit
       gleichzeitig als Tatsache ausgesprochen, daß die eigentliche Ver-
       teidigung Nordfrankreichs erst bei Compiègne und Soissons anfängt
       und daß die erste Defensivposition, die Paris gegen Norden deckt,
       nur zwölf Meilen von Paris liegt.
       Eine schwächere Grenze als die französische gegen Belgien ist für
       einen Staat  nicht leicht  zu denken.  Man weiß, welche Mühe sich
       Vauban gegeben  hat, den  Mangel natürlicher  Verteidigungsmittel
       durch künstliche  zu ersetzen;  man weiß  auch, wie 1814 und 1815
       der Angriff  durch den  dreifachen Festungsgürtel  hindurchdrang,
       fast ohne Notiz von ihm zu nehmen. Man weiß, wie 1815 Festung auf
       Festung den Angriffen eines einzigen preußischen Korps nach uner-
       hört kurzer  Belagerung und Beschießung erlag. Avesnes ergab sich
       am  22.   Juni  1815,  nachdem  es  einen  halben  Tag  aus  zehn
       Feldhaubitzen beschossen worden. Guise ergab sich an zehn Feldge-
       schütze, ohne  einen Schuß  zu tun. Maubeuge kapitulierte nach 14
       Tagen offener Tranchée am 13. Juli. Landrecies öffnete seine Tore
       am 21.  Juli nach  36 Stunden  offener Tranchée und zweistündiger
       Beschießung, nachdem nur 126 Bomben und 52 Vollkugeln von den Be-
       lagerern abgefeuert  waren. Mariembourg  verlangte nur  pro forma
       die Ehren  einer offenen Tranchée und einer einzigen vierundzwan-
       zigpfündigen Kugel  und kapitulierte  am 28.  Juli. Philippeville
       hielt zwei  Tage offener Tranchée und einige Stunden Beschießung,
       Rocroi 26  Stunden offener  Laufgräben und zwei Stunden Bombarde-
       ment aus. Nur Mézières hielt sich 18 Tage lang nach Eröffnung der
       Laufgräben. Es  war eine Kapitulationswut unter den Kommandanten,
       die der in Preußen nach der Schlacht von Jena nicht viel nachgab;
       und wenn  man anführt,  daß diese  Plätze 1815 verfallen, schwach
       garnisoniert und schlecht ausgerüstet waren, so ist doch nicht
       
       #256# Friedrich Engels
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       zu  vergessen,   daß  mit  einzelnen  Ausnahmen  diese  Festungen
       s t e t s   vernachlässigt sein  müssen. Der Vaubansche dreifache
       Gürtel hat  heutzutage allen  Wert verloren, er ist ein positiver
       Schaden für  Frankreich. Keine  der Festungen  westlich der  Maas
       deckt, für  sich, irgendeinen Terrainabschnitt, und nirgends las-
       sen sich  vier oder fünf auffinden, die zusammen eine Gruppe bil-
       den, innerhalb deren eine Armee Deckung findet und zugleich Manö-
       vrierfähigkeit behält.  Dies kommt  daher,  daß  keine  an  einem
       großen Flusse  liegt. Die  Lys, die  Scheide, die Sambre bekommen
       Bedeutung für  den Krieg  erst auf  belgischem Gebiet; und so er-
       streckt sich die Wirkung dieser im freien Felde zerstreut liegen-
       den Festungen nicht über die Schußweite ihrer Kanonen hinaus. Mit
       Ausnahme von  ein paar großen Depotplätzen an der Grenze, die ei-
       ner Offensive  nach Belgien  zur Basis dienen können, und einigen
       Punkten an  der Maas  und Mosel, die strategische Wichtigkeit ha-
       ben, dienen alle übrigen festen Plätze und Forts an der französi-
       schen Nordgrenze  nur zur  nutzlosesten Verzettelung  der Streit-
       kräfte. Jede Regierung, die sie schleifte, würde Frankreich einen
       Dienst tun;  aber was  würde der französische traditionelle Aber-
       glaube dazu sagen?
       Die französische  Nordgrenze ist also im höchsten Grade ungünstig
       zur Verteidigung,  sie ist  in der  Tat gar nicht zu verteidigen,
       und der  Vaubansche Festungsgürtel,  statt sie zu verstärken, ist
       heutzutage nur noch ein Eingeständnis und Denkmal ihrer Schwäche.
       Wie die  mitteleuropäischen Großmachtstheoretiker  in Italien, so
       sehen sich  auch die Franzosen jenseits ihrer Nordgrenze nach ei-
       ner Flußlinie  um, die  ihnen eine gute Defensivstellung gewähren
       würde. Welche könnte dies sein?
       Die erste  Linie, die  sich darbietet,  wäre die der Unterscheide
       und der  Dyle, fortgesetzt  bis an  die Mündung der Sambre in die
       Maas. Diese Linie würde die bessere Hälfte Belgiens zu Frankreich
       schlagen. Sie würde fast alle berühmten belgischen Schlachtfelder
       in sich schließen, auf denen Franzosen und Deutsche sich bekämpft
       haben: Oudenarde,  Jemappes, Fleurus, Ligny, Waterloo [126]. Aber
       sie bildet  noch immer  keine Defensivlinie,  sie ließe  zwischen
       Scheide und  Maas eine  große Lücke, durch die der Feind ungehin-
       dert eindringen kann.
       Die zweite  Linie wäre die Maas selbst. Wenn Frankreich das linke
       Maasufer hätte, so würde es noch nicht einmal so günstig gestellt
       sein wie  Deutschland, wenn  es in Italien nur die Etschlinie be-
       säße. Die  Etschlinie arrondiert  ziemlich vollständig,  die Maas
       nur sehr  unvollkommen. Wenn sie von Namur nach Antwerpen flösse,
       so würde  sie eine  viel bessere  Grenzlinie bilden. Statt dessen
       aber verläuft  sie von Namur aus nordöstlich und strömt erst jen-
       seits Venlo in einem großen Bogen der Nordsee zu.
       
       #257# Po und Rhein
       -----
       Das ganze  nördlich von  Namur zwischen Maas und See gelegene Ge-
       biet würde im Kriege nur durch seine Festungen gedeckt sein; denn
       ein feindlicher  Maasübergang würde  die französische Armee immer
       in der  Ebene von Südbrabant finden, und eine französische Offen-
       sive auf  das deutsche  linke Rheinufer  stieße  sofort  auf  die
       starke Rheinlinie, und zwar ganz direkt auf das verschanzte Lager
       von Köln.  Der einspringende  Winkel der  Maas zwischen Sedan und
       Lüttich trägt  ferner dazu  bei, die Linie zu schwächen, trotzdem
       er durch  die Ardennen  ausgefüllt wird.  Die Maaslinie gibt also
       den Franzosen  an einer  Stelle zuviel, an der andern zuwenig für
       eine gute Grenzverteidigung. Gehen wir also weiter.
       Setzen wir den einen Fuß unseres Zirkels auf der Karte wieder auf
       Paris und beschreiben mit dem Radius Paris - Lyon einen Bogen von
       Basel bis  an die Nordsee, so finden wir, daß der Lauf des Rheins
       v o n  B a s e l  b i s  z u  s e i n e r  M ü n d u n g  mit ei-
       ner merkwürdigen  Genauigkeit  d i e s e m  B o g e n  folgt. Bis
       auf wenige Meilen sind alle wichtigen Punkte am Rhein gleich weit
       von Paris  entfernt.   D i e s   i s t   d e r   e i g e n t l i-
       c h e ,  r e e l l e  G r u n d  d e s  f r a n z ö s i s c h e n
       V e r l a n g e n s  n a c h  d e r  R h e i n g r e n z e.
       Hat Frankreich  den Rhein,  so ist  Paris, Deutschland gegenüber,
       wirklich der  Mittelpunkt Frankreichs. Alle Radien, die von Paris
       der angreifbaren  Grenze zulaufen, sei es an den Rhein, sei es an
       den Jura,  sind gleich  lang. Überall  wird dem Feind die konvexe
       Peripherie des  Kreises dargeboten, hinter der er auf Umwegen ma-
       növrieren muß,  während die französischen Armeen auf der kürzeren
       Sehne sich  bewegen und  dem Feind zuvorkommen können. Die gleich
       langen Operations-  und Rückzugslinien  der verschiedenen  Armeen
       erleichtern einen  konzentrischen Rückzug  ungemein und  damit an
       einem gegebenen  Punkt die Möglichkeit, zwei dieser Armeen zu ei-
       nem Hauptschlage gegen den noch getrennten Feind zu vereinigen.
       Mit dem  Besitz der  Rheingrenze  würde  das  Verteidigungssystem
       Frankreichs, was  die  n a t ü r l i c h e n  Voraussetzungen be-
       trifft, eins  von  denjenigen  sein,  die  der  General  Willisen
       "ideale" nennt,  die gar nichts mehr zu wünschen übriglassen. Das
       starke innere Verteidigungssystem des Seinebassins, durch die fä-
       cherförmig der  Seine zuströmenden  Flüsse  Yonne,  Aube,  Marne,
       Aisne und  Oise gebildet,  dies Flußsystem,  an dem Napoleon 1814
       den Alliierten  so derbe  strategische Lektionen  erteilte [127],
       wird dadurch  erst nach  jeder Richtung  gleichmäßig gedeckt; der
       Feind kommt von allen Seiten ziemlich gleichzeitig heran und kann
       an den  Flüssen aufgehalten  werden, bis die französischen Armeen
       mit vereinigten  Kräften jede  seiner isolierten Kolonnen einzeln
       anzugreifen imstande  sind; während  ohne die  Rheinlinie am ent-
       scheidendsten Punkt, bei Compiègne und Soissons, die Verteidigung
       erst 12 Meilen von
       
       #258# Friedrich Engels
       -----
       Paris zum  Stehen kommen kann. In keinem Gebiet Europas würde die
       Verteidigung in  der plötzlichen  Konzentration großer  Kräfte so
       durch die  Eisenbahnen unterstützt  werden wie  in dem Lande zwi-
       schen Seine  und Rhein.  Von dem  Zentrum Paris laufen die Eisen-
       bahnradien nach  Boulogne, Brügge,  Gent, Antwerpen,  Maastricht,
       Lüttich und  Köln, nach Mannheim und Mainz über Metz, nach Straß-
       burg, nach  Basel, nach Dijon und Lyon. An welchem Punkt auch der
       Feind am stärksten auftreten möge, überall kann ihm von Paris aus
       auf der  Eisenbahn die  ganze Macht  der  Reservearmee  entgegen-
       geworfen werden.  Die innere  Verteidigung des  Seinebassins wird
       speziell noch dadurch verstärkt, daß innerhalb desselben alle Ei-
       senbahnradien durch  die Flußtäler verlaufen (Oise, Marne, Seine,
       Aube, teilweise  Yonne). Damit  aber nicht genug. Drei konzentri-
       sche Eisenbahnbogen  laufen in  der Länge  mindestens eines  Qua-
       dranten um Paris in ziemlich gleichen Entfernungen herum: der er-
       ste durch  die linksrheinischen  Eisenbahnen, die  nun schon fast
       ohne Unterbrechung von Neuß bis Basel laufen; der zweite geht von
       Ostende und  Antwerpen über  Namur, Arlon,  Thionville, Metz  und
       Nancy auf  Epinal und  ist ebenfalls  so gut  wie vollendet;  der
       dritte endlich  läuft von  Calais über Lille, Douai, St.-Quentin,
       Reims, Châlons-sur-Marne  und St.-Dizier nach Chaumont. Hier sind
       also in  allen Ecken  und Enden  die Mittel  gegeben, Massen  von
       Truppen in  der kürzesten Zeit auf einem beliebigen Punkt zu kon-
       zentrieren, und hier wäre durch Natur und Kunst und ohne alle Fe-
       stungen die  Verteidigung durch  Manövrierfähigkeit so stark, daß
       eine Invasion  Frankreichs auf  ganz andern Widerstand zu rechnen
       hätte, als sie 1814 und 1815 fand.
       Eins nur  würde dem Rhein als Grenzstrom fehlen. Solange das eine
       Ufer ganz  deutsch, das  andere ganz französisch ist, solange be-
       herrscht keines  der beiden  Völker ihn.  Einer überlegnen Armee,
       welcher Nation  sie auch  angehöre, könnte  der Übergang nirgends
       bestritten werden;  das haben  wir hundertmal  gesehen,  und  die
       Strategie gibt  die Gründe  an, warum  dem so sein muß. Bei einer
       überlegnen deutschen Offensive käme die französische Verteidigung
       erst weiter zurück zum Stehen: die Nordarmee an der Maas zwischen
       Venlo und  Namur; die  Moselarmee an  der Mosel, beim Einfluß der
       Saar etwa;  die Oberrheinarmee  an der Obermosel und Obermaas. Um
       den Rhein  vollständig zu beherrschen, um einem feindlichen Fluß-
       übergang energisch entgegentreten zu können, müßten die Franzosen
       also Brückenköpfe auf dem rechten Rheinufer haben. Es war von Na-
       poleon also  ganz konsequent,  daß er  Wesel, Kastel und Kehl dem
       französischen Kaiserreich  ohne weiteres  einverleibte [128]. Wie
       die Sachen  jetzt stehn,  würde sich sein Neffe zur Ergänzung der
       schönen Festungen, die ihm die Deutschen aufs linke Rheinufer ge-
       baut haben, außerdem
       
       #259# Po und Rhein
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       dem noch  Ehrenbreitstein, Deutz und zur Not auch den Germershei-
       mer Brückenkopf ausbitten. Dann wäre das militärgeographische Sy-
       stem Frankreichs nach Offensive und Defensive vollkommen, und je-
       des neue  Anhängsel könnte nur schaden. Und wie sehr in der Natur
       begründet und  sich von  selbst verstehend  dies System aussieht,
       davon haben die Alliierten 1813 ein schlagendes Zeugnis abgelegt.
       Seit kaum  17 Jahren hatte Frankreich dies System sich eingerich-
       tet, und doch verstand es sich schon so von selbst, daß die hohen
       Verbündeten,  trotz   ihrer  Übermacht   und  der   Wehrlosigkeit
       Frankreichs, zurückschauderten  vor dem  Gedanken, daran  zu rüt-
       teln, wie vor einem Sakrileg; und wenn die deutschnationalen Ele-
       mente der  Bewegung sie  nicht fortgerissen  hätten, so  wäre der
       Rhein noch heute ein französischer Strom.
       Wenn wir aber den Franzosen nicht nur den Rhein, sondern auch die
       Brückenköpfe des  rechten Ufers abgetreten haben, dann erst haben
       die Franzosen  sich selbst gegenüber die Pflicht erfüllt, die wir
       nach der Meinung von Radowitz, Willisen und Hailbronner gegen uns
       erfüllen, indem  wir Etsch  und Mincio  mit den Brückenköpfen Pe-
       schiera und  Mantua behaupten.  Dann aber haben wir auch Deutsch-
       land den  Franzosen gegenüber  so total  ohnmächtig gemacht,  wie
       Italien es  jetzt gegenüber  Deutschland ist. Und dann würde, wie
       1813, Rußland  der natürliche "Befreier" Deutschlands (wie Frank-
       reich  oder   vielmehr  die   französische  Regierung  jetzt  als
       "Befreier" Italiens  auftritt) und würde sich zum Lohn seiner un-
       eigennützigen Anstrengungen nur einige kleine Landstriche zur Ar-
       rondierung Polens  ausbitten -  etwa Galizien  und Preußen;  denn
       durch diese ist Polen ja auch "umgangen"!
       Was für  uns die Etsch und der Mincio, das, und noch viel Wichti-
       geres, ist  für Frankreich der Rhein. Umgeht das Venetianische in
       den Händen  Italiens, und  eventuell Frankreichs,  Bayern und den
       Oberrhein und  legt die  Straße nach Wien bloß, so umgeht Belgien
       und Deutschland  durch Belgien  ganz Ostfrankreich  und legt  die
       Straße nach  Paris noch  viel wirksamer bloß. Vom Isonzo bis Wien
       sind immer  noch sechzig Meilen, in einem Terrain, wo die Vertei-
       digung immer  noch einigermaßen  zum Stehen  kommen kann; von der
       Sambre bis  Paris sind  dreißig Meilen, und erst zwölf Meilen vor
       Paris, bei Soissons oder Compiègne, findet die Defensive eine ei-
       nigermaßen deckende  Flußlinie. Begibt sich Deutschland, nach Ra-
       dowitz, durch Aufgeben des Mincio und der Etsch von vornherein in
       die Lage, in die es sonst durch den Verlust eines ganzen Feldzugs
       käme, so  ist Frankreich mit seinen jetzigen Grenzen so gestellt,
       als hätte  es die Rheingrenze gehabt und zwei Kampagnen verloren,
       die eine  um die  Festungen an Rhein und Maas, die zweite im Feld
       in der  belgischen Ebene. Selbst die starke Position der oberita-
       lischen Festungen  findet sich einigermaßen wiederholt am Nieder-
       rhein und der Maas;
       
       #260# Friedrich Engels
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       wäre nicht  aus Maastricht, Köln, Jülich, Wesel und Venlo mit ge-
       ringer Nachhülfe und etwa zwei Zwischenpunkten ein ebenso starkes
       System zu machen, das Belgien und Nordbrabant vollständig deckte,
       das einer für das Feld zu schwachen französischen Armee erlaubte,
       eine viel  stärkere feindliche  durch Manövrieren  an den Flüssen
       festzuhalten und  schließlich mittelst der Eisenbahnen sich unge-
       hindert in die belgische Ebene oder auf Douai zurückzuziehen?
       Wir haben während dieser ganzen Untersuchung angenommen, daß Bel-
       gien den  Deutschen zum Angriff auf Frankreich vollständig offen-
       stehe und mit ihnen alliiert sei. Da wir vom französischen Stand-
       punkt aus argumentieren mußten, so hatten wir dasselbe Recht dazu
       wie unsre  Gegner am  Mincio, wenn  sie Italien - auch ein freies
       und vereinigtes  Italien -  als den Deutschen stets feindlich an-
       nahmen. In  allen solchen  Dingen ist es ganz in der Ordnung, daß
       man den schlimmsten Fall zuerst untersucht, sich auf ihn zunächst
       gefaßt macht;  und so  müssen die  Franzosen verfahren,  wenn sie
       heute die  Verteidigungsfähigkeit und die strategische Konfigura-
       tion ihrer Nordgrenze ins Auge fassen. Daß Belgien durch europäi-
       sche Verträge  ein neutrales  Land ist,  ebenso wie  die Schweiz,
       können wir hier unbeachtet lassen. Erstens muß die geschichtliche
       Praxis erst  noch beweisen, daß diese Neutralität bei einem euro-
       päischen Kriege  mehr ist als ein Blatt Papier, und zweitens wird
       Frankreich in  keinem Fall so fest auf sie rechnen können, daß es
       die ganze  Grenze gegen  Belgien militärisch so behandeln dürfte,
       als  bildete   dies  Land   einen  deckenden  Meerbusen  zwischen
       Frankreich und  Deutschland/Die Schwäche  der Grenze  bleibt also
       schließlich dieselbe,  ob sie  nun wirklich aktiv verteidigt wird
       oder ob nur Truppen detachiert werden, die sie gegen mögliche An-
       griffe besetzen.
       Wir haben  die Parallele  zwischen Po  und Rhein  nun so ziemlich
       durchgeführt. Abgesehen  von den  größeren Dimensionen  am Rhein,
       die aber  den französischen  Anspruch nur  verstärken würden, ist
       die Analogie  so vollkommen,  wie sie  nur gewünscht werden kann.
       Man muß  hoffen, daß  im Falle  des Kriegs die deutschen Soldaten
       den Rhein  am Po  praktisch mit  besserem Erfolg verteidigen, als
       die mitteleuropäischen  Großmachtspolitiker dies theoretisch tun.
       Sie verteidigen  am Po allerdings den Rhein, aber -  n u r  f ü r
       d i e  F r a n z o s e n.
       Für den  Fall übrigens, daß die Deutschen auch einmal so unglück-
       lich sein  sollten, ihre  "natürliche Grenze", den Po und Mincio,
       zu verlieren,  für diesen  Fall wollen wir doch die Analogie noch
       etwas  weiterführen.   Die  Franzosen  besaßen  ihre  "natürliche
       Grenze" nur  siebenzehn Jahre  und haben sich nun schon fast fün-
       fundvierzig Jahre ohne sie behelfen müssen. Während dieser
       
       #261# Po und Rhein
       -----
       Zeit sind  ihre besten Militärs denn auch noch theoretisch zu der
       Einsicht gekommen,  daß die  Nutzlosigkeit  des  Vaubanschen  Fe-
       stungsgürtels gegen  eine Invasion  in den  Gesetzen der modernen
       Kriegskunst begründet  ist, daß  also 1814  und 1815 weder Zufall
       noch die vielbeliebte "trahison" 1*) den Alliierten erlaubte, un-
       bekümmert zwischen  den Festungen durchzumarschieren. Daß zur Si-
       cherung der  exponierten Nordgrenze  etwas geschehen  mußte,  war
       hiernach erst  recht augenscheinlich.  Trotzdem lag auf der Hand,
       daß keine  Aussicht da  war, die Rheingrenze so bald zu erhalten.
       Was war zu tun?
       Die Franzosen  halfen sich  in einer Weise, die einem großen Volk
       Ehre macht: Sie befestigten Paris, sie machten zum ersten Male in
       der neueren  Geschichte den  Versuch, ihre Hauptstadt in ein ver-
       schanztes Lager  im kolossalsten Maßstab umzuwandeln. Die Kriegs-
       gelehrten der  alten Schule schüttelten den Kopf über dies unver-
       ständige Unternehmen.  Geld weggeworfen,  rein der  französischen
       Großprahlerei zu  Gefallen! Nichts  dahinter, pure  Windbeutelei,
       wer hat  je von  einer Festung gehört, die neun Meilen im Umkreis
       und eine  Million Bewohner  hat! Wie  soll sie verteidigt werden,
       wenn man  nicht die halbe Armee als Garnison hineinlegt? Wie soll
       man diese  Menschen alle verproviantieren? Wahnsinn, französische
       Überhebung, gottloser Frevel, Wiederholung des Turmbaus zu Babel!
       So beurteilte  der militärische  Zopf das  neue Unternehmen, der-
       selbe  Zopf,   der  den  Belagerungskrieg  an  einem  Vaubanschen
       Sechseck studiert  und dessen  passive Methode  der  Verteidigung
       keinen größeren offensiven Rückschlag kennt als den Ausfall eines
       Zugs Infanterie vom bedeckten Weg bis an den Glacisfuß! Die Fran-
       zosen aber  bauten ruhig  fort und  haben die  Genugtuung gehabt,
       daß, obwohl  Paris  die  Feuerprobe  noch  nicht  bestanden,  die
       zopflosen Militärs von ganz Europa ihnen recht gegeben haben, daß
       Wellington Pläne  zur Befestigung von London machte, daß um Wien,
       wenn wir  nicht irren,  der Bau detachierter Forts schon begonnen
       hat und  daß die  Befestigung Berlins wenigstens diskutiert wird.
       Sie haben  selbst an dem Beispiel von Sewastopol erfahren müssen,
       weiche enorme  Stärke ein kolossales verschanztes Lager hat, wenn
       es von  einer ganzen  Armee besetzt,  die Verteidigung im größten
       Maßstabe offensiv  geführt wird.  Und Sewastopol  hatte nur einen
       Ringwall, keine detachierten Forts, nur Feldwerke, keine gemauer-
       ten Eskarpen!
       Seitdem Paris befestigt ist, kann Frankreich die Rheingrenze ent-
       behren. Wie Deutschland in Italien, wird es seine Verteidigung an
       der Nordgrenze  zunächst offensiv  zu führen haben. Daß dies ver-
       standen worden ist, das beweist die Disposition des Eisenbahnnet-
       zes. Wird diese Offensive zurückgeschlagen,
       -----
       1*) "Verräterei"
       
       #262# Friedrich Engels
       -----
       geschlagen, so  kommt die Armee an Oise und Aisne zum Stehen, und
       zwar definitiv;  denn ein  weiteres Vordringen  des Feindes würde
       keinen Zweck mehr haben, da die aus Belgien kommende Invasionsar-
       mee doch  allein zu  schwach wäre, gegen Paris zu agieren. Hinter
       der Aisne,  in sichrer Verbindung mit Paris, im schlimmsten Falle
       hinter der Marne, den linken Flügel an Paris angelehnt, in offen-
       siver Seitenstellung,  könnte die  französische Nordarmee die An-
       kunft der übrigen Armeen abwarten. Dem Feind bliebe nichts übrig,
       als auf  Château-Thierry vorzugehn und gegen die Verbindungen der
       französischen Mosel-  und Rheinarmeen  zu operieren. Aber die Ak-
       tion wäre lange nicht mehr von der entscheidenden Wichtigkeit wie
       vor der Befestigung von Paris. Im schlimmsten Fall kann den übri-
       gen französischen Armeen der Rückzug hinter die Loire nicht abge-
       schnitten werden;  dort konzentriert, werden sie immer noch stark
       genug sein,  der durch  die Zernierung von Paris geschwächten und
       geteilten Invasionsarmee  gefährlich zu werden oder sich nach Pa-
       ris hinein  durchzuschlagen. Mit  einem Wort:  Der Umgehung durch
       Belgien ist  durch die  Befestigung von Paris die Spitze abgebro-
       chen, sie entscheidet nicht mehr, und man kann die Nachteile, die
       sie bringt,  und die Mittel, die dagegen anzuwenden sind, einfach
       berechnen.
       Das Beispiel der Franzosen werden wir wohl tun nachzuahmen. Statt
       uns betäuben  zu lassen durch das Geschrei von der Unentbehrlich-
       keit einer  außerdeutschen Besitzung, die Tag für Tag unhaltbarer
       für Deutschland  wird, täten wir besser, uns auf den unvermeidli-
       chen Moment  vorzubereiten, wo  wir Italien  aufgeben werden.  Je
       früher die uns dann nötigen Befestigungen im voraus angelegt wer-
       den, desto besser. Wo und wie sie anzulegen sind, darüber mehr zu
       sagen als die früher hingeworfenen Andeutungen, ist nicht unseres
       Amts. Nur lege man nicht illusorische Sperrpunkte an und vernach-
       lässige, im  Verlaß darauf,  die einzigen Befestigungen, die eine
       zurückgehende Armee  zum Stehen bringen können: verschanzte Lager
       und Festungsgruppen an Flüssen.
       
       #263#
       -----
       IV
       
       Wir haben  jetzt gesehen,  wohin die  von den  mitteleuropäischen
       Großmachtspolitikern aufgestellte Theorie der natürlichen Grenzen
       führt. Dasselbe  Recht, das  Deutschland  auf  den  Po  hat,  hat
       Frankreich auf  den Rhein.  Soll Frankreich  nicht um einer guten
       militärischen Position  willen sich neun Millionen Wallonen, Nie-
       derländer und  Deutsche einverleiben,  so  haben  wir  auch  kein
       Recht, sechs  Millionen Italiener um einer militärischen Stellung
       willen zu  unterjochen. Und  diese natürliche Grenze, der Po, ist
       doch am  Ende nur eine militärische Position, und nur darum, sagt
       man uns, soll Deutschland ihn behaupten.
       Die Theorie  der natürlichen Grenzen macht der schleswig-holstei-
       nischen Frage  mit dem  einen Ruf  ein Ende: Danmark til Eideren!
       Dänemark bis zur Eider! [129] Was verlangen denn die Dänen anders
       als ihren  Po und  Mincio, der  Eider heißt,  ihr Mantua, genannt
       Friedrichstadt?
       Die Theorie der natürlichen Grenzen verlangt mit demselben Recht,
       auf das  Deutschland sich  am Po stützt, für Rußland Galizien und
       die Bukowina und eine Arrondierung nach der Ostsee zu, die minde-
       stens das  ganze preußische rechte Weichselufer in sich schließt.
       Sie wird  wenige Jahre später mit demselben Recht die Anforderung
       stellen können,  daß die  Oder die natürliche Grenze Russisch-Po-
       lens sei.
       Die Theorie  der natürlichen Grenzen, auf Portugal angewandt, ist
       gezwungen, dies  Land bis  an die  Pyrenäen auszudehnen  und ganz
       Spanien in Portugal aufgehn zu lassen.
       Die natürliche  Grenze  von  Reuß-Greiz-Schleiz-Lobenstein  [130]
       wird ebenfalls mindestens bis an die Grenze des deutschen Bundes-
       gebiets und  darüber hinaus  bis an  den Po und vielleicht an die
       Weichsel ausgedehnt  werden müssen,  wenn anders den Gesetzen der
       ewigen Gerechtigkeit  Rechnung getragen  werden soll,  und  Reuß-
       Greiz-Schleiz-Lobenstein hat  ebensoviel Anspruch,  daß ihm  sein
       Recht werde, wie Östreich.
       
       #264# Friedrich Engels
       -----
       Wenn die Theorie der natürlichen, d.h. ausschließlich durch mili-
       tärische Erwägungen  festgestellten Grenzen  richtig ist, welchen
       Namen sollen wir dann den deutschen Diplomaten geben, die auf dem
       Wiener Kongreß [131] uns an den Rand eines Kriegs Deutscher gegen
       Deutsche brachten,  uns die  Maaslinie entgehen ließen, die deut-
       sche  Ostgrenze  bloßlegten  und  es  dem  Ausland  überließ[en],
       Deutschland einzugrenzen  und zu repartieren? Wahrlich, kein Land
       hat soviel Ursache, sich über den Wiener Kongreß zu beklagen, als
       Deutschland; aber  wenn wir  den Maßstab  der natürlichen Grenzen
       anlegen, wie  sieht es dann erst mit der Reputation der deutschen
       Staatsmänner von  damals aus? Und gerade dieselben Leute, die die
       Theorie der  natürlichen Grenzen am Po verteidigen, leben von dem
       Nachlaß der Diplomaten von 1815 und setzen die Tradition des Wie-
       ner Kongresses fort.
       Wollt ihr ein Beispiel davon?
       Als Belgien  sich 1830  von Holland losriß [132], da erhoben die-
       selben Leute  ihre Stimme,  die jetzt den Mincio zu einer Lebens-
       frage machen. Sie riefen Zeter über die Zerstückelung der starken
       niederländischen Grenzmacht,  die ein  Bollwerk gegen  Frankreich
       bilden sollte  und die  sich sogar  - nach  allen Erfahrungen von
       zwanzig Jahren  noch soviel Aberglaube! - hatte verpflichten müs-
       sen, um  den in  seiner Art  wenigstens  großartigen  Vaubanschen
       Festungsgürtel ein  dünnes Bändchen  von Festungen  herumzulegen.
       Als fürchteten  die Großmächte, Arras und Lille und Douai und Va-
       lenciennes würden  eines schönen Morgens mit all ihren Bastionen,
       Demilünes und  Lünetten nach  Belgien hineinmarschieren  und sich
       dort häuslich  niederlassen! Damals wehklagten die Repräsentanten
       derselben bornierten  Richtung, die  wir hier bekämpfen, Deutsch-
       land sei  in Gefahr,  denn Belgien  sei nur  ein willenloses  An-
       hängsel von  Frankreich, ein  notwendiger Feind Deutschlands, und
       die wertvollen  Festungen, die  mit deutschem (d.h. den Franzosen
       abgenommenem) Gelde gebaut seien als Schutz gegen Frankreich, die
       ständen jetzt den Franzosen gegen uns zu Gebote. Die französische
       Grenze sei  bis an  und über die Maas und Scheide vorgerückt, wie
       lange werde  es dauern,  bis sie an den Rhein vorgeschoben werde.
       Die meisten  von uns erinnern sich dieser Lamentationen noch ganz
       deutlich. Und  was ist  geschehen? Belgien hat sich seit 1848 und
       besonders seit der bonapartischen Restauration immer entschiedner
       von Frankreich  abgewandt und Deutschland genähert. Es kann jetzt
       sogar schon  für ein  auswärtiges Mitglied  des Deutschen  Bundes
       [61] gelten.  Und was-  taten die  Belgier, sobald  sie sich  mit
       Frankreich in  eine Art  Opposition setzten?  Sie schleiften alle
       die Festungen,  die die  Weisheit des Wiener Kongresses dem Lande
       oktroyiert hatte, als  v o l l s t ä n d i g  n u t z l o s  g e-
       g e n   F r a n k r e i c h   und errichteten  um  Antwerpen  ein
       verschanztes Lager, groß genug, die ganze
       
       #265# Po und Rhein
       -----
       Armee aufzunehmen  und dort im Falle einer französischen Invasion
       englischen oder  deutschen Sukkurs  abwarten zu  können. Und  mit
       Recht.
       Dieselbe weise Politik, die 1830 mit Gewalt das katholische, vor-
       zugsweise französisch  sprechende Belgien an das protestantische,
       holländisch redende  Holland gefesselt  halten  wollte,  dieselbe
       weise Politik will seit 1848 Italien mit Gewalt unter dem östrei-
       chischen Druck  halten und  uns Deutsche für Östreichs Handlungen
       in Italien verantwortlich machen. Und alles das aus reiner Furcht
       vor Frankreich.  Der ganze  Patriotismus  dieser  Herren  scheint
       darin zu bestehen, daß sie in eine fieberhafte Aufregung geraten,
       sobald von Frankreich die Rede ist. Sie scheinen die Schläge noch
       immer nicht verwunden zu haben, die der alte Napoleon vor fünfzig
       und sechzig  Jahren austeilte.  Wir  gehören  wahrlich  nicht  zu
       denen, die  die Kriegsmacht Frankreichs unterschätzen. Wir wissen
       sehr gut,  daß z.B.,  was leichte Infanterie angeht und Erfahrung
       und Geschick  im kleinen Krieg und gewisse Seiten der Artillerie-
       wissenschaft, keine  Armee in  Deutschlandsich mit  der französi-
       schen messen  kann. Aber wenn Leute erst mit den zwölfhunderttau-
       send Soldaten  Deutschlands um  sich werfen,  als ständen sie da,
       fix und  fertig wie  Schachfiguren, mit  denen der  Herr Dr. Kolb
       eine Partie gegen Frankreich um Elsaß und Lothringen spielt [133]
       - und  wenn dieselben  Leute dann bei jeder Gelegenheit eine Zag-
       haftigkeit an  den Tag  legen, als  verstände es sich von selbst,
       daß diese  zwölfhunderttausend Mann  von halb soviel Franzosen in
       die Pfanne gehauen werden müßten, es sei denn, daß besagte Zwölf-
       hunderttausend sich  in lauter  uneinnehmbare Positionen verkrie-
       chen - so ist es wahrlich hohe Zeit, daß man die Geduld verliert.
       Es ist  Zeit, dieser  Politik der  passiven  Defensive  gegenüber
       daran zu  erinnern, daß,  wenn auch  Deutschland  im  ganzen  und
       großen auf  eine Defensive mit offensiven Rückschlägen angewiesen
       sein mag,  doch keine Defensive wirksamer ist als die aktive, die
       offensiv geführte.  Es ist  Zeit, daran  zu erinnern, daß wir den
       Franzosen und  andern Nationen gegenüber uns im Angriff oft genug
       überlegen gezeigt haben.
       
       "Im übrigen  ist das  Genie von unseren Soldaten, zu attackieren;
       es ist solches auch schon ganz recht",
       
       sagt Friedrich  der Große  von seiner Infanterie [134]; wie seine
       Kavallerie zu  attackieren verstand,  davon mögen  Roßbach, Zorn-
       dorf, Hohenfriedberg  Zeugnis ablegen [135]. Wie die deutsche In-
       fanterie 1813 und 1814 anzugreifen gewohnt war, dafür ist der be-
       ste Beweis  die bekannte  Instruktion Blüchers  bei Eröffnung des
       Feldzugs von 1815:
       
       "Da die Erfahrung gelehrt hat, daß die französische Armee den Ba-
       jonettangriff unsrer  Bataillonsmassen nicht  auszuhalten vermag,
       so ist es Regel, diesen stets auszuführen,
       
       #266# Friedrich Engels
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       wo es  darauf ankommt,  den Feind  über den Haufen zu werfen oder
       einen Posten zu gewinnen."
       
       Unsre schönsten  Schlachten sind  Offensivschlachten gewesen, und
       wenn der deutsche Soldat einer bestimmten Qualifikation des fran-
       zösischen entbehrt,  so ist  es erwiesenermaßen  derjenigen, sich
       defensiv in  Dörfern und  Häusern einzunisten; im Angriff kann er
       sich schon neben ihm sehen lassen und hat es oft genug getan.
       Was übrigens diese Politik selbst betrifft, abgesehen von den zu-
       grunde liegenden  Motiven, so besteht sie darin: zuerst unter dem
       Vorwande der  Verteidigung angeblicher oder bis ins Absurde über-
       triebener deutscher Interessen uns bei allen kleineren Grenznach-
       barn verhaßt  zu machen  und dann  sich darüber zu entrüsten, daß
       diese sich  mehr an  Frankreich anschließen.  Es waren fünf Jahre
       bonapartischer Restauration  nötig, um  Belgien von der französi-
       schen Allianz  zu trennen,  in die  die Politik von 1815, fortge-
       setzt 1830,  die Politik  der Heiligen  Allianz [136],  es gejagt
       hatte; und  in Italien  haben wir den Franzosen eine Position ge-
       macht, die die Minciolinie wahrlich aufwiegt. Und dennoch ist die
       französische Politik gegenüber Italien immer borniert, engherzig,
       ausbeutend gewesen,  so daß  die Italiener bei irgend loyaler Be-
       handlung von  unserer Seite unbedingt mehr zu uns gehalten hätten
       als zu  Frankreich. Wie  sie von  1796 bis  1814 von Napoleon und
       seinen Statthaltern  und Generalen  an Geld,  Naturalien,  Kunst-
       schätzen und  Menschen ausgesogen worden sind, ist bekannt genug.
       1814 kamen  die Östreicher als "Befreier" und wurden als Befreier
       aufgenommen. (Wie sie Italien befreit haben, davon zeugt der Haß,
       den heute  jeder Italiener  gegen die  Tedeschi 1*)  hat.) Soviel
       über die  Praxis der  französischen Politik  in Italien; über die
       Theorie brauchen  wir bloß  zu sagen,  daß  sie  nur    e i n e n
       Grundsatz kennt:   F r a n k r e i c h   k a n n   n i e    e i n
       e i n h e i t l i c h e s  u n d  u n a b h ä n g i g e s  I t a-
       l i e n   d u l d e n.  Bis auf Louis-Napoleon herab steht dieser
       Grundsatz fest,  und  damit  allen  Mißverständnissen  vorgebeugt
       werde, muß  La Guéronnière  ihn jetzt abermals als ewige Wahrheit
       proklamieren [137].  Und einer  so  bornierten  spießbürgerlichen
       Politik Frankreichs  gegenüber, einer  Politik, die das Recht der
       Einmischung in  die innern Angelegenheiten Italiens ohne weiteres
       in Anspruch  nimmt -  einer solchen Politik gegenüber sollten wir
       Deutsche zu  befürchten haben,  daß ein nicht mehr unter direkter
       deutscher Herrschaft  stehendes Italien  stets Frankreichs gehor-
       samer Diener gegen uns sein werde? Es ist wahrhaft lächerlich. Es
       ist das  alte Zeter  von 1830  wegen  Belgien.  Belgien  ist  uns
       trotzdem gekommen,  ungebeten gekommen,  Italien müßte uns ebenso
       kommen.
       
       #267# Po und Rhein
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       Es muß  übrigens durchaus  festgehalten werden,  daß die Frage um
       den Besitz der Lombardei eine Frage zwischen Italien und Deutsch-
       land ist, nicht aber zwischen Louis-Napoleon und Östreich. Gegen-
       über einem Dritten wie Louis-Napoleon, einem Dritten, der um sei-
       ner eignen,  in andrer  Beziehung antideutschen Interessen willen
       sich einmischt,  handelt es sich um die einfache Behauptung einer
       Provinz, die man nur gezwungen abtritt, einer militärischen Posi-
       tion, die man nur räumt, wenn man sie nicht mehr halten kann. Die
       politische Frage tritt in diesem Fall sogleich hinter die militä-
       rische zurück; werden wir angegriffen, so wehren wir uns.
       Wenn Louis-Napoleon  als Paladin der italienischen Unabhängigkeit
       auftreten will,  so kann er sich den Krieg gegen Östreich sparen.
       Charité  bien   ordonnée  commence   chez   soi-même.   1*)   Das
       "Departement" Korsika  ist eine  italienische Insel, italienisch,
       trotzdem es das Vaterland des Bonapartismus ist. Möge Louis-Napo-
       leon seinem  Onkel Viktor Emanuel vorerst Korsika abtreten, viel-
       leicht lassen wir dann auch mit uns reden. Bis er dies getan hat,
       wird er  wohl tun, seine Begeisterung für Italien für sich zu be-
       halten.
       Es ist in ganz Europa keine größere Macht, die nicht Teile andrer
       Nationen mit ihrem Gebiete vereinigt hätte. Frankreich hat flämi-
       sche, deutsche,  italienische  Provinzen.  England,  das  einzige
       Land, das wirklich natürliche Grenzen besitzt, ist in jeder Rich-
       tung über  sie hinausgegangen,  hat Eroberungen  in allen Ländern
       gemacht und  ist jetzt auch mit einer seiner Dependenzen, den Io-
       nischen Inseln  [138], in  Streit, nachdem es eben eine kolossale
       Rebellion in Indien [139] mit echt östreichischen Mitteln nieder-
       geschlagen hat.  Deutschland hat  halbslawische Provinzen, slawi-
       sche, magyarische,  walachische und  italienische Anhängsel.  Und
       über wieviel Zungen herrscht der weiße Zar von Petersburg!
       Daß die  Karte von  Europa definitiv  festgestellt sei, wird kein
       Mensch behaupten.  Alle Veränderungen,  sofern sie  Dauer  haben,
       müssen aber  im ganzen  und großen  darauf hinausgehn, den großen
       und  lebensfähigen  europäischen  Nationen  mehr  und  mehr  ihre
       w i r k l i c h e n   natürlichen Grenzen  zu  geben,  die  durch
       Sprache und  Sympathien bestimmt werden, während gleichzeitig die
       Völkertrümmer, die sich hier und da noch finden und die einer na-
       tionalen Existenz  nicht mehr  fähig sind,  den größeren Nationen
       einverleibt bleiben  und entweder in ihnen aufgehen oder sich nur
       als ethnographische Denkmäler ohne politische Bedeutung erhalten.
       [140] Militärische Erwägungen können nur in zweiter Linie gelten.
       Soll aber  die Karte  von Europa  revidiert werden,  so haben wir
       Deutsche
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       1*) Eine wohlbeschaffene  Mildherzigkeit betätigt  sich  zunächst
       daheim.
       
       #268# Friedrich Engels
       -----
       das Recht, zu fordern, daß es gründlich und unparteiisch geschehe
       und daß  man nicht,  wie es beliebte Mode ist, verlange, Deutsch-
       land allein solle Opfer bringen, während alle andern Nationen von
       ihnen Vorteil  haben, ohne  das geringste  aufzugeben. Wir können
       manches entbehren,  das an  den Grenzen unsres Gebiets herumhängt
       und uns  in Dinge  verwickelt, in die wir uns besser nicht so di-
       rekt einmischten.  Aber geradeso  geht es  andern auch; mögen sie
       uns das  Beispiel der Uneigennützigkeit geben oder schweigen. Das
       Endresultat aber dieser ganzen Untersuchung ist, daß wir Deutsche
       einen ganz ausgezeichneten Handel machen würden, wenn wir den Po,
       den Mincio,  die Etsch  und den ganzen italienischen Plunder ver-
       tauschen könnten  gegen  d i e  E i n h e i t,  die uns vor einer
       Wiederholung von Warschau und Bronzell schützt und die allein uns
       nach innen  und außen stark machen kann. Haben wir diese Einheit,
       so kann  die Defensive  aufhören. Wir brauchen dann keinen Mincio
       mehr; "unser  Genie" wird  wieder sein,  "zu attackieren"; und es
       gibt noch einige faule Flecke, wo dies nötig genug sein wird.
       
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