Quelle: MEW 13 Januar 1859 - Februar 1860


       zurück

       #292#
       -----
       Karl Marx
       
       Schwere Zerrüttung der indischen Finanzen
       
       ["New-York Daily Tribune" Nr. 5624 vom 30. April 1859]
       
       I
       
       London, 8. April 1859
       Die indische  Finanzkrise, die  augenblicklich gemeinsam  mit den
       Kriegsgerüchten und  der Wahlagitation  der Ehre teilhaftig wird,
       das Interesse  der englischen  Öffentlichkeit ganz in Anspruch zu
       nehmen, muß  unter zwei  Gesichtspunkten betrachtet  werden.  Sie
       kennzeichnet sowohl  eine vorübergehende  Notlage als  auch  eine
       ständige Schwierigkeit.
       Am 14.  Februar brachte  Lord Stanley im Unterhaus eine Bill ein,
       der zufolge  die Regierung  ermächtigt werden  soll, eine Anleihe
       von 7  Millionen Pfd.  St. in England aufzunehmen, um die Sonder-
       ausgaben der  Indienverwaltung für  das laufende  Jahr zu decken.
       Etwa sechs Wochen danach wurden John Bulls Selbstbeglückwünschun-
       gen über  die geringen  Kosten der  indischen Rebellion [139] jäh
       unterbrochen durch  das Eintreffen der Überlandpost, die ein Weh-
       geschrei der  Regierung in  Kalkutta über  ihre  Finanzschwierig-
       keiten enthielt.  Am 25.  März erhob sich Lord Derby im Oberhaus,
       um zu  verkünden, daß außer der 7-Millionen-Pfd.-St.-Anleihe, die
       dem Parlament  zur Beratung  vorliegt, eine weitere Anleihe von 5
       Millionen Pfd.  St. für Indien benötigt würde, um die Anforderun-
       gen dieses  Jahres zu  decken, und  daß selbst  dann noch gewisse
       Ansprüche auf  Entschädigung und  Prisengeld [175],  die sich auf
       mindestens 2  Millionen Pfd.  St. belaufen, aus einer bisher noch
       unbekannten Quelle  beglichen werden  müßten. Um die Dinge in ein
       angenehmeres Licht zu rücken, hatte Lord Stanley in seiner ersten
       Erklärung nur  den Bedarf  des in London befindlichen Schatzamtes
       für Indien  berücksichtigt und  es der  britischen  Regierung  in
       Indien überlassen, sich mit ihren eigenen Ressourcen zu behelfen,
       obwohl er aus den eingegangenen
       
       #293# Schwere Zerrüttung der indischen Finanzen
       -----
       Depeschen genau  wußte, daß  diese bei  weitem nicht ausreichten.
       Ganz abgesehen von den Ausgaben der englischen Regierung oder der
       Indienverwaltung in London veranschlagte Lord Canning das Defizit
       der  Regierung   in  Kalkutta   für  das  laufende  Rechnungsjahr
       1859/1860 auf  12 Millionen  Pfd. St., wobei eine Zunahme der ge-
       wöhnlichen Revenue um 800 000 Pfd. St. und eine Abnahme der Mili-
       tärausgaben um  2 Millionen  Pfd. St. bereits einkalkuliert sind.
       Die Geldknappheit  der Regierung in Kalkutta war derart groß, daß
       sie die  Bezahlung eines  Teils ihrer  Zivilverwaltung einstellen
       mußte,  ihr  Kredit  derart  gesunken,  daß  die  fünfprozentigen
       Staatspapiere mit 12% Abzug notiert wurden, und ihre Finanzen wa-
       ren derart  zerrüttet, daß sie nur vor dem Bankrott gerettet wer-
       den konnte,  weil innerhalb  weniger Monate Silber im Werte von 3
       Millionen Pfd.  St. von  England nach  Indien gesandt wurde. Drei
       Punkte werden  also offensichtlich.  Erstens: Lord  Stanleys  ur-
       sprüngliche Erklärung  war ein  "Kniff" und  weit davon entfernt,
       alle indischen  Verpflichtungen zu  umfassen; sie berücksichtigte
       nicht einmal  den unmittelbaren  Bedarf der  Regierung Indiens im
       Lande selbst.  Zweitens: Während der ganzen Zeit der Insurrektion
       wurde es,  wenn wir von der Silbersendung im Werte von einer Mil-
       lion Pfd.  St. von  London nach Indien im Jahre 1857 absehen, der
       Regierung in  Kalkutta überlassen, selbst einen Weg zu finden, um
       aus  eigenen   Ressourcen  den  Hauptteil  der  außerordentlichen
       Kriegskosten zu bestreiten, die Indien auf jeden Fall für den Un-
       terhalt von mehr als 60 000 europäischen Soldaten zusätzlich, für
       die Wiedererstattung der geraubten Schätze und für den Ersatz der
       ganzen verlorengegangenen  Revenuen  der  örtlichen  Verwaltungen
       aufbringen mußte. Drittens: Neben der Deckung des Bedarfs der In-
       dienverwaltung in England ist in diesem Jahr noch ein Defizit von
       12 Millionen Pfd. St. auszugleichen. Durch Operationen, mit deren
       zweifelhaften Charakter wir uns nicht befassen wollen, soll diese
       Summe  auf  9  Millionen  Pfd.  St.  reduziert  werden,  wovon  5
       Millionen Pfd.  St. in Indien und 4 Millionen Pfd. St. in England
       geliehen werden sollen. Von der letzteren Summe sind bereits eine
       Million Pfd.  St. in  Gestalt von  Silberbarren von  London  nach
       Kalkutta abgegangen,  und weitere  2 Millionen Pfd. St. sollen in
       möglichst kurzer Frist folgen.
       Aus dieser  kurzen Aufstellung ist zu erkennen, daß die Regierung
       Indiens von ihren englischen Herren recht unfair behandelt worden
       ist; sie  ließen sie  im Stich, um John Bull Sand in die Augen zu
       streuen. Andererseits  muß man jedoch zugeben, daß die Finanzope-
       rationen Lord  Cannings sogar seine militärischen und politischen
       Leistungen an  Ungeschicklichkeit übertreffen.  Bis  Ende  Januar
       1859 hatte er es fertiggebracht, die notwendigen Mittel durch An-
       leihen in Indien zu beschaffen, die teils in Regierungsobligatio-
       nen, teils in
       
       #294# Karl Marx
       -----
       Schatzkammerscheinen ausgeschrieben  wurden; doch  während  seine
       Bemühungen in  der Zeit  der Rebellion Erfolg hatten, scheiterten
       sie seltsamerweise  gänzlich von dem Augenblick an, da die engli-
       sche Herrschaft durch Waffengewalt wiederhergestellt war. Und sie
       scheiterten nicht nur, sondern es gab eine Panik in bezug auf die
       Staatspapiere; bei  allen Fonds trat eine beispiellose Entwertung
       ein, begleitet von Protesten seitens der Handelskammern in Bombay
       und Kalkutta  und von  öffentlichen Versammlungen  englischer und
       einheimischer Geldmakler in Kalkutta, die die Unentschlossenheit,
       den willkürlichen  Charakter  und  das  hilflose  Unvermögen  der
       Regierungsmaßnahmen verurteilten.  Das leihbare  Kapital Indiens,
       das die  Regierung bis  zum Januar  1859 mit Geld versorgt hatte,
       begann nunmehr  auszubleiben, da die Kraft zum Verleihen anschei-
       nend erschöpft  war. Tatsächlich  absorbierten die  Anleihen, die
       sich von  1841 bis  1857 auf  insgesamt 21 Millionen Pfd. St. be-
       liefen, allein  in den zwei Jahren 1857 und 1858 etwa 9 Millionen
       Pfd. St.,  das entspricht beinahe der Hälfte der während der vor-
       angegangenen sechzehn  Jahre geliehenen Geldsumme. Ein derartiges
       Versagen der  Ressourcen begründet  zwar die  Notwendigkeit,  den
       Zinsfuß für  Regierungsanleihen nach und nach von 4 auf 6 Prozent
       hochzuschrauben, erklärt  aber selbstverständlich  keineswegs die
       kommerzielle Panik auf dem indischen Wertpapiermarkt und die völ-
       lige Unfähigkeit  des Generalgouverneurs, die dringendsten Forde-
       rungen zu befriedigen. Das Rätsel wird durch die Tatsache gelöst,
       daß es  bei Lord Canning zu einem ständig wiederkehrenden Manöver
       geworden ist, ohne vorherige Unterrichtung der Öffentlichkeit und
       bei größter Ungewißheit über die weiterhin geplanten Finanzopera-
       tionen neue  Anleihen  zu  einem  höheren  Zinsfuß  als  bei  den
       o f f e n e n   A n l e i h e n   auszuschreiben. Die  Entwertung
       der Staatspapiere  infolge dieser  Manöver ist  auf nicht weniger
       als 11  Millionen Pfd.  St. errechnet  worden. Bedrängt durch die
       Armut der  Staatskasse, beängstigt durch die Panik auf dem Effek-
       tenmarkt und beunruhigt durch die Proteste der Handelskammern und
       die Versammlungen  in Kalkutta, hielt es Lord Canning für das be-
       ste, artig  zu sein  und zu versuchen, den Wünschen der Geldleute
       nachzukommen; doch  seine Bekanntmachung  von  21.  Februar  1859
       [176] zeigt  aufs neue,  daß der  menschliche Verstand  nicht vom
       menschlischen Willen  abhängt. Was  wurde von ihm verlangt? Nicht
       gleichzeitig zwei  Anleihen zu unterschiedlichen Bedingungen aus-
       zuschreiben und  den Geldleuten  sofort die für das laufende Jahr
       benötigte Summe  zu nennen,  statt sie  durch aufeinanderfolgende
       Verlautbarungen, die einander widersprechen, zu täuschen. Und was
       tut er  in seiner  Bekanntmachung? Zuerst  sagt er,  für das Jahr
       1859/1860 seien  5 Millionen  Pfd. St. zu 5 1/2 Prozent durch An-
       leihe auf dem indischen Markt aufzubringen, und
       
       #295# Schwere Zerrüttung der indischen Finanzen
       -----
       "wenn diese  Summe realisiert ist, wird die Anleihe für 1859/1860
       geschlossen und  keine weitere  Anleihe während  dieses Jahres in
       Indien aufgenommen werden".
       
       Er hebt  jedoch den ganzen Wert der gerade gegebenen Versicherun-
       gen auf, indem er in der gleichen Proklamation fortfährt:
       
       "Im Laufe  des Jahres  1859/1860 wird  in Indien  k e i n e  A n-
       l e i h e   m i t   h ö h e r e m   Z i n s f u ß  ausgeschrieben
       werden, es   s e i   d e n n   a u f   A n w e i s u n g    d e r
       e n g l i s c h e n  R e g i e r u n g."
       
       Das ist  aber noch  nicht alles.  Tatsächlich  schreibt  er  eine
       D o p p e l a n l e i h e   zu unterschiedlichen Bedingungen aus.
       Zugleich mit  der Ankündigung, daß "die Ausgabe von Schatzkammer-
       scheinen zu  den am  26. Januar 1859 bekanntgegebenen Bedingungen
       am 30.  April beendet wird", gibt er bekannt, "daß eine neue Aus-
       gabe von  Schatzkammerscheinen mit dem 1. Mai beginnen wird", die
       zu ungefähr 5 3/4 Prozent verzinst und ein Jahr nach dem Tage der
       Ausgabe eingelöst  werden. Beide Anleihen werden gleichzeitig of-
       fengehalten, da  die im Januar ausgeschriebene Anleihe noch nicht
       abgeschlossen ist. Der einzige Finanzgegenstand, den Lord Canning
       anscheinend zu begreifen vermag, ist, daß sein Jahresgehalt nomi-
       nell 20 000  Pfd. St.,  tatsächlich aber ungefähr 40 000 Pfd. St.
       beträgt. Trotz  der Anwürfe des Derby-Kabinetts und seiner offen-
       kundigen Unzulänglichkeit  hält er  daher aus  "Pflichtgefühl" an
       seinem Posten fest.
       Die Auswirkungen  der indischen  Finanzkrise auf  den  englischen
       Binnenmarkt sind  bereits offensichtlich geworden. Die Silbersen-
       dungen seitens  der Regierung, die von großen Sendungen auf Rech-
       nung der  Kaufleute begleitet werden und die in eine Periode fal-
       len, in der die üblichen Silberlieferungen aus Mexiko infolge der
       zerrütteten Lage  dieses Landes [177] ausbleiben, haben natürlich
       als erstes  den Preis  von Barrensilber  ansteigen lassen. Am 25.
       März war  er auf  den künstlich  hochgetriebenen Preis von 62 3/4
       Pence für  die Standardunze  gestiegen, was einen solchen Zustrom
       von Silber  aus allen Teilen Europas hervorrief, daß der Preis in
       London wieder  auf 62 3/8  Pence fiel, die Diskontrate in Hamburg
       indessen von  2 1/2 auf 3 Prozent stieg. Auf Grund dieser starken
       Silbereinfuhr haben  sich die  Wechselkurse zuungunsten  Englands
       verändert, und  es setzte ein Abfluß von Gold ein, der den Londo-
       ner Goldmarkt  im Augenblick nur von seinem Überfluß befreit, ihn
       aber auf  die Dauer  ernsthaft gefährden kann, da er bestimmt mit
       großen kontinentalen  Anleihen verbunden  sein wird.  Jedoch  die
       Entwertung der  indischen Staatspapiere und der von der indischen
       Regierung garantierten  Eisenbahnaktien auf  dem  Londoner  Geld-
       markt, die  sich nachteilig  auf die  im Laufe dieses Jahres noch
       aufzunehmenden Regierungs-  und Eisenbahnanleihen auswirken wird,
       ist gewiß  die ernsthafteste Auswirkung, die die indische Finanz-
       krise
       
       #296# Karl Marx
       -----
       bisher auf  dem englischen  Binnenmarkt gehabt  hat.  Die  Aktien
       vieler indischer  Eisenbahnen werden  jetzt mit  2 oder 3 Prozent
       Diskont gehandelt,  obwohl die Regierung 5 Prozent Zinsen für sie
       garantiert hat.
       Alles in  allem sehe  ich jedoch die augenblickliche indische Fi-
       nanzpanik als  eine Angelegenheit von zweitrangiger Bedeutung an,
       wenn man  sie mit der allgemeinen Krise des indischen Schatzamtes
       vergleicht, die ich vielleicht bei anderer. Gelegenheit einer Be-
       trachtung unterziehen werde.
       
       II
       
       London, 12. April 1859
       Die neueste  Überlandpost zeigt  keineswegs  ein  Nachlassen  der
       Finanzkrise in Indien, sondern enthüllt einen Zustand der Zerrüt-
       tung, wie  er kaum  vermutet wurde.  Die Manipulationen, zu denen
       die Regierung  Indiens getrieben  wird, um ihren dringendsten Be-
       darf zu  decken, lassen  sich am besten durch eine kürzliche Maß-
       nahme des Gouverneurs von Bombay 1*) illustrieren. Bombay ist der
       Markt, wo  das Malwa-Opium,  im Durchschnitt  30 000  Kisten  pro
       Jahr, in  monatlichen Teillieferungen  von 2000  oder 3000 Kisten
       Absatz findet,  wofür auf  Bombay Wechsel  gezogen werden. Da die
       Regierung jede nach Bombay eingeführte Kiste mit einer Gebühr von
       400 Rupien belegt, nimmt sie für Malwa-Opium eine jährliche Reve-
       nue von  1 200 000 Pfd.  St. ein. Um nun seine erschöpfte Staats-
       kasse wieder  aufzufüllen und den unmittelbaren Bankrott abzuwen-
       den, hat  der Gouverneur von Bombay eine Bekanntmachung erlassen,
       derzufolge der  Zoll auf  jede Kiste  Malwa-Opium von 400 auf 500
       Rupien erhöht  wird; gleichzeitig  teilt er jedoch mit, daß diese
       erhöhte Zollgebühr erst nach dem 1. Juli erhoben wird, so daß die
       Opiumbesitzer in Malwa das Narkotikum noch weitere vier Monate zu
       dem alten Zollsatz nach Bombay einführen können. Tatsächlich kann
       das Opium  in der Zeit von Mitte März, als die Bekanntmachung er-
       lassen wurde, bis zum 1. Juli nur während zweieinhalb Monaten im-
       portiert werden,  da am  15.Juni bereits der Monsun einsetzt. Die
       Opiumbesitzer in Malwa werden sich natürlich den Zeitraum, in dem
       es ihnen noch gestattet ist, Opium zu der alten Zollgebühr einzu-
       führen, zunutze  machen und  während der  zweieinhalb Monate ihre
       gesamten Bestände  in die  Präsidentschaft [178]  senden. Da sich
       der noch  in Malwa  befindliche Opiumvorrat aus der alten und der
       neuen Ernte auf 26 000 Kisten beläuft und Malwa-Opium einen Preis
       von 1250 Rupien
       -----
       1*) John Elphinstone
       
       #297# Schwere Zerrüttung der indischen Finanzen
       -----
       pro Kiste  erzielt, werden  die Kaufleute  aus Malwa von den Bom-
       bayer Kaufleuten  nicht weniger  als  3  Millionen  Pfd.  St.  zu
       fordern haben,  wovon über  1 Million  Pfd. St.  in das  Bombayer
       Schatzamt gelangen muß. Der Zweck dieses finanziellen Schachzuges
       ist offensichtlich.  Um die  Jahreseinkünfte  aus  dem  Opiumzoll
       vorwegzunehmen und  die Opiumhändler  zu bewegen, den Zoll sofort
       zu bezahlen,  wird in  terrorem 1*) eine Zollerhöhung in Aussicht
       gestellt. Es  ist völlig überflüssig, auf den empirischen Charak-
       ter dieses  Kunstgriffs näher  einzugehen, der die Staatskasse im
       Augenblick füllt, um wenige Monate später eine empfindliche Lücke
       zu schaffen;  jedoch gibt  es kein  treffenderes Beispiel für die
       Erschöpfung der  Budgetmittel seitens  der Nachfolger  des  Groß-
       moguls [179].
       Wenden wir uns nun dem allgemeinen Zustand der indischen Finanzen
       zu, wie er sich im Gefolge der kürzlichen Insurrektion entwickelt
       hat. Nach  den letzten offiziellen Berechnungen beträgt der Rein-
       gewinn, der von den Briten aus ihrer indischen Farm gezogen wird,
       23 208 000 Pfd.  St., also rund 24 Millionen Pfd. St. Diese jähr-
       liche Revenue hat niemals ausgereicht, um die jährlichen Ausgaben
       zu decken.  Von 1836  bis 1850  belief sich  das Nettodefizit auf
       13 171 096 Pfd. St. oder durchschnittlich etwa 1 Million Pfd. St.
       jährlich. Selbst  1856, als die im großen betriebenen Annexionen,
       Räubereien und  Erpressungen Lord  Dalhousies die Staatskasse au-
       ßergewöhnlich gefüllt hatten, glichen sich Einnahmen und Ausgaben
       nicht aus,  sondern im Gegenteil, es kam ein weiteres Defizit von
       etwa einer  viertel  Million  zu  der  gewöhnlichen  Defiziternte
       hinzu. 1857  betrug das  Defizit 9 Millionen Pfd. St., 1858 stieg
       es auf 13 Millionen Pfd. St. an, und für 1859 wird es von der Re-
       gierung Indiens  selbst auf  12 Millionen Pfd. St. geschätzt. Die
       erste Schlußfolgerung,  zu der  wir gelangen,  ist also,  daß die
       selbst unter gewöhnlichen Umständen ständig anwachsenden Defizite
       unter außergewöhnlichen  Umständen solche  Dimensionen  annehmen,
       daß sie die Hälfte oder noch mehr der Jahreseinnahmen ausmachen.
       Als nächstes drängt sich die Frage auf, in welchem Maße diese be-
       reits existierende  Kluft zwischen den Ausgaben und den Einnahmen
       der Regierung  Indiens durch  die jüngsten  Ereignisse  erweitert
       wurde? Die  neuen permanenten  Schulden Indiens, die sich aus der
       Unterdrückung des  Aufstandes ergaben,  werden  von  den  optimi-
       stischsten englischen  Finanzleuten auf  40 bis 50 Millionen Pfd.
       St. geschätzt,  während  Herr  Wilson  das    p e r m a n e n t e
       D e f i z i t   oder die  aus der jährlichen Revenue zu deckenden
       Jahreszinsen für  diese neuen  Schulden auf  nicht weniger  als 3
       Millionen Pfd. St. schätzt. Es wäre
       -----
       1*) als Schreckmittel
       
       #298# Karl Marx
       -----
       jedoch ein  großer Fehler anzunehmen, daß dieses permanente Defi-
       zit von  3 Millionen  Pfd. St. das einzige Erbe ist, das die Auf-
       ständischen ihren Überwindern hinterlassen haben. Die Begleichung
       der Kosten  der Insurrektion  ist keineswegs  nur eine  Sache der
       Vergangenheit, sondern  steht in großem Ausmaß noch bevor. Selbst
       in ruhigen  Zeiten, vor  dem Ausbruch  der Meuterei, verschlangen
       die Militärausgaben mindestens sechzig Prozent der gesamten regu-
       lären Einnahmen, denn sie betrugen mehr als 12 Millionen Pfd. St.
       Aber jetzt hat sich die Sachlage geändert. Zu Beginn der Meuterei
       beliefen sich  die europäischen Streitkräfte in Indien auf 38 000
       kampffähige Männer  und die  Eingeborenenarmee auf  260 000 Mann.
       Die  gegenwärtig   in  Indien  eingesetzten  Streitkräfte  zählen
       112 000 europäische  und einschließlich  der  Eingeborenenpolizei
       320 000 eingeborene  Soldaten. Man  kann mit Recht einwenden, daß
       diese außergewöhnliche  Anzahl mit  dem Verschwinden  der  außer-
       gewöhnlichen Umstände,  die ihre  augenblickliche Höhe verursacht
       haben, wieder  auf ein  bescheideneres Maß reduziert werden wird.
       Die von  der britischen  Regierung eingesetzte  Militärkommission
       ist jedoch zu dem Schluß gelangt, daß in Indien eine ständige eu-
       ropäische Streitkraft von 80 000 Mann und eine Eingeborenentruppe
       von 200 000 Mann nötig sein wird, wodurch die Militärausgaben auf
       beinahe das Doppelte ihrer ursprünglichen Höhe gesteigert werden.
       In den  Debatten über  die  indischen  Finanzen  im  Oberhaus  am
       7.April waren sich alle Redner von Autorität über zwei Punkte ei-
       nig: Einerseits erklären sie, daß es mit einem Nettoeinkommen In-
       diens von  nur vierundzwanzig Millionen Pfd. St. unvereinbar sei,
       allein für  die Armee jährlich fast zwanzig Millionen auszugeben;
       andererseits sei  es schwierig,  sich einen Zustand vorzustellen,
       der den Engländern auf längere Zeit ermöglichen könnte, in Indien
       eine europäische Streitkraft zu unterhalten, die nicht doppelt so
       groß ist  wie die  vor dem Ausbruch der Meuterei. Aber selbst an-
       genommen, es  würde  für  die  Dauer  genügen,  die  europäischen
       Streitkräfte nur  um ein  Drittel ihrer  ursprünglichen Stärke zu
       erhöhen, so kommen wir doch auf ein neues permanentes Defizit von
       mindestens 4 Millionen Pfd. St. pro Jahr. Das neue permanente De-
       fizit, das  einerseits von den während der Meuterei eingegangenen
       konsolidierten Schulden  und andererseits vom ständigen Anwachsen
       der britischen  Streitkräfte in  Indien herrührt,  kann also  bei
       vorsichtigster Berechnung nicht unter 7 Millionen Pfd. St. betra-
       gen.
       Zwei weitere  Posten müssen  noch hinzugefügt  werden:  der  eine
       rührt aus dem Anwachsen der Passiva, der andere aus einer Vermin-
       derung der  Einnahmen her. Aus einer kürzlichen Erklärung der Ei-
       senbahnabteilung der  Indienverwaltung in London geht hervor, daß
       die ganze  Länge der für Indien genehmigten Eisenbahnen 4847 Mei-
       len beträgt, wovon bisher nur 559 Meilen
       
       #299# Schwere Zerrüttung der indischen Finanzen
       -----
       eröffnet sind.  Die  gesamte  Summe  des  von  den  verschiedenen
       Eisenbahngesellschaften investierten Kapitals beläuft sich auf 40
       Millionen Pfd.  St., wovon 19 Millionen Pfd. St. schon eingezahlt
       sind und 21 Millionen Pfd. St. noch ausstehen; 96 Prozent der Ge-
       samtsumme waren in England und nur 4 Prozent in Indien gezeichnet
       worden. Für  diesen Betrag  von 40  Millionen Pfd.  St.  hat  die
       Regierung 5  Prozent Zinsen  garantiert, so daß die Jahreszinsen,
       die aus  den Einkünften  Indiens zu  begleichen sind,  sich auf 2
       Millionen Pfd.  St. belaufen,  die gezahlt werden müssen, ehe die
       Eisenbahnen in  Betrieb sind und irgendeinen Ertrag abwerfen. Der
       Earl of  Ellenborough schätzt  den  Verlust,  der  den  indischen
       Finanzen für  die nächsten  drei Jahre  daraus  erwächst,  auf  6
       Millionen Pfd.  St. und  das endgültige  permanente Defizit durch
       diese Eisenbahnen  auf eine halbe Million Pfd. St. jährlich. Dazu
       kommt noch,  daß von  den 24  Millionen Pfd.  St.  des  indischen
       Nettoeinkommens eine  Summe von  3 619 000 Pfd. St., aus dem Ver-
       kauf des  Opiums an andere Länder herrührt - eine Einkommensquel-
       le, die  jetzt nach  allgemeinem Eingeständnis  durch  den  neuen
       Vertrag mit China [180] beträchtlich vermindert werden dürfte. Es
       wird also  offenbar,  daß  außer  den  Sonderausgaben,  die  noch
       notwendig sind,  um die  Unterdrückung der Meuterei zu vollenden,
       ein jährliches  permanentes Defizit  von mindestens  8  Millionen
       Pfd. St.  aus einem Nettoeinkommen von 24 Millionen Pfd. St., das
       die Regierung  vielleicht durch  Auferlegung neuer Steuern auf 26
       Millionen Pfd.  St. zu  erhöhen vermag,  zu decken  ist. Das  un-
       vermeidliche  Resultat   dieser  Sachlage   wird  sein,  daß  der
       englische Steuerzahler  die Haftung  für die  indischen  Schulden
       übernehmen muß und daß, wie Sir G.C. Lewis im Unterhaus erklärte,
       
       "vier bis  fünf Millionen jährlich als Subsidien für etwas aufge-
       bracht werden müssen, was eine wertvolle Dependenz der britischen
       Krone genannt wurde". [181]
       
       Man wird  zugeben müssen,  daß  diese  finanziellen  Früchte  der
       "glorreichen" Rückeroberung  Indiens kein  bezauberndes  Aussehen
       haben und  daß John  Bull außerordentlich hohe Schutzzölle zahlt,
       um den  Freihändlern aus  Manchester das  Monopol  des  indischen
       Marktes zu sichern.
       
       Aus dem Englischen.

       zurück