Quelle: MEW 13 Januar 1859 - Februar 1860
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Friedrich Engels
Der Rückzug der Österreicher an den Mincio
["Das Volk" Nr. 8 vom 25. Juni 1859]
Die F r ü c h t e eines Sieges werden gepflückt in der Verfol-
gung des Feindes. Je aktiver die Verfolgung, desto entscheidender
der Sieg. Gefangene, Artillerie, Bagage, Fahnen erobert man nicht
so sehr in der Schlacht selbst als in der Verfolgung nach der
Schlacht. Andrerseits mißt sich die I n t e n s i v i t ä t ei-
nes Siegs an der Energie der Verfolgung. Von diesem Standpunkte
aus, was sagen von der "grande victoire" 1*) bei Magenta? Den Tag
nachher finden wir die französischen Befreier "ausruhend und re-
organisierend". Nicht der leiseste Versuch zur Verfolgung. Durch
den Marsch nach Magenta hatte die alliierte Armee tatsächlich
alle ihre Streitkräfte konzentriert. Die Österreicher, umgekehrt,
hatten einen Teil ihrer Truppen bei Abbiategrasso, einen Teil auf
der Straße nach Mailand, einen andern Teil bei Binasco, endlich
einen Teil bei Belgiojoso - ein Haufen von Kolonnen, so zer-
streut, in so zusammenhangloser Weise sich fortschleppend, als
gälte es eine Einladung an den Feind, über sie herzufallen, durch
e i n e Anstrengung sie nach allen Richtungen zu versprengen,
und ihn dann in aller Ruhe ganze Brigaden und Regimenter, die von
ihrer Rückzugslinie abgeschnitten worden wären, gefangennehmen zu
lassen. Napoleon, der echte Napoleon, würde in solchem Fall ge-
wußt haben, wie die 15 oder 16 Brigaden zu verwenden, die, laut
des offiziellen französischen Berichts, den Tag zuvor keinen An-
teil an der Schlacht genommen. Was tat der Brummagem-Napoleon
2*), der Napoleon des Herrn Vogt, des Cirque olympique, der St.
James Street und des Astley-Amphitheaters [234]? Er dinierte auf
dem Schlachtfeld.
Die direkte Straße nach Mailand stand ihm offen. Der Bühneneffekt
war gesichert. Das genügte ihm natürlich. Der 5., 6. und 7. Juni,
drei volle Tage, werden den Österreichern geschenkt, damit sie
sich aus ihren gefährlichen Positionen herauswinden. Sie mar-
schierten nach dem Po herunter und zogen sich entlang des nördli-
chen Ufers dieses Flusses auf Cremona zu, auf drei
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1*) dem "großen Sieg" - 2*) nachgemachte Napoleon
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Parallelstraßen vorrückend. Auf dem nördlichsten Punkt dieser
Straßen deckte General Benedek mit drei Divisionen den Rückzug,
da er der Marschlinie des Feindes sich zunächst bewegte. Von Ab-
biategrasso, wo er am 6. stand, marschierte er über Binasco nach
Melegnano. In letzterer Stadt ließ er zwei Brigaden zurück zur
Haltung der Position, bis Bagage und Train der Zentralkolonne
hinreichenden Vorsprung gewonnen. Am 8. Juni erhielt Marschall
Baraguay d'Hilliers den Befehl, diese zwei Brigaden herauszuwer-
fen, und um ganz sicher zu gehen, wird noch das Korps Mac-Mahons
unter sein Kommando gestellt. Zehn Brigaden gegen zwei! Nahe beim
Lambro ward Mac-Mahons Korps detachiert, um den Rückzug der
Österreicher abzuschneiden, während Baraguays 3 Divisionen Me-
legnano angriffen; zwei Brigaden griffen die Stadt in der Fronte
an, zwei umgingen sie auf der Rechten, zwei auf der Linken. Nur
e i n e österreichische Brigade, die Rodens, stand in Melegnano
und General Boérs Brigade stand auf der andern, der östlichen
Seite des Lambro-Flusses. Die Franzosen attackierten mit großer
Heftigkeit, und ihre sechsfach überlegene Zahl zwang General Ro-
den, nach hartnäckigem Widerstand die Stadt zu räumen und sich
zurückzuziehen unter dem Schutz von Boérs Brigade. Letztere hatte
nämlich zu diesem Zweck eine Position im Rücken eingenommen.
Nachdem sie ihren Zweck erreicht, zog sie sich ebenfalls in vol-
ler Ordnung zurück. Boér fiel bei dieser Gelegenheit. Der Verlust
der einen hauptsächlich engagierten österreichischen Brigade war
unstreitig bedeutend, aber die von den dezembrisierenden Crapauds
1*) angegebenen Zahlen (ungefähr 2400) sind rein phantastisch, da
die Gesamtstärke der Brigade vor der Aktion sich nicht über 5000
belief. Der französische Sieg war wieder fruchtlos. Keine Tro-
phäen, keine einzige Kanone!
Am 6. war unterdessen Pavia geräumt von den Österreichern, dann,
aus unbekannten Gründen, wieder besetzt worden am 8., um wieder
geräumt zu werden am 9., während Piacenza am 10., erst sechs Tage
nach der Schlacht bei Magenta, verlassen wurde. Die Österreicher
retirierten in bequemen Märschen, den Po verfolgend, bis sie am
Chiese anlangten. Hier wandten sie sich nordwärts und marschier-
ten nach Lonato, Castiglione und Castelgoffredo, wo sie eine De-
fensivposition einnahmen, in der sie einen neuen Angriff der
"Befreier" abzuwarten scheinen.
Während dieses Marsches der Österreicher, erst südwärts von
Magenta nach Belgiojoso, dann östlich nach Piadena zu und dann
wieder nördlich nach Castiglione - Beschreibung eines völligen
Halbzirkels -, marschierten die
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Befreier auf dem Durchmesser dieses Halbzirkels in grader Linie
und hatten folglich nur ein Dritteil der Entfernung zu durchmes-
sen. Dennoch erreichten sie nie die Österreicher, außer bei Me-
legnano und einmal nahe bei Castenedolo, wo Garibaldi ein unbe-
deutendes Scharmützel lieferte. Solche Indolenz in der Verfolgung
ist unerhört in der Kriegsgeschichte. Sie ist charakteristisch
für den Quasimodo, der seinen Onkel (sein Onkel nach dem Grund-
satz des Code Napoléon [235]: "La recherche de la paternité est
interdite" 1*) travestiert, selbst in seinen Erfolgen trave-
stiert.
Zur selben Zeit, wo die Hauptmasse der Österreicher in ihre Posi-
tionen hinter dem Chiese einrückte, zwischen dem 18. und 20.
Juni, erreichte die Avantgarde der Alliierten die Front des
Chiese. Sie brauchen einen oder mehrere Tage, um ihre Hauptmasse
heranzubringen. Nehmen daher die Österreicher wirklich die
Schlacht an, so kann ein zweites allgemeines Engagement am 24.
oder 26. Juni erwartet werden. Die Befreier können nicht lange im
Angesicht der Österreicher zaudern, wenn sie den Elan des Sieges
unter ihren Truppen wachhalten und dem Feinde nicht Gelegenheit
geben wollen, sie in kleineren. Treffen zu schlagen. Die Position
der Österreicher ist sehr günstig. Von der südlichen Extremität
des Gardasees, bei Lonato, läuft ein Plateau gegen den Mincio,
dessen Umriß, nach der lombardischen Ebene zu, gebildet wird
durch die Linie Lonato-Castiglione-San Cassiano-Cavriana-Volta,
eine vorzügliche Position dies, um einen Feind abzuwarten. Das
Plateau erhebt sich allmählich nach dem See zu und bietet ver-
schiedene gute Positionen in einer Reihenfolge, worin jede nach-
folgende ihre Vorgängerin an Stärke und Konzentration übertrifft,
so daß die Eroberung der Spitze des Plateaus keinen Sieg liefert,
sondern nur den ersten Akt einer Schlacht abschließt. Der rechte
Flügel ist gedeckt durch den See, der linke ist bedeutend rück-
wärts eingebogen, so daß er beinahe zehn Meilen der Minciolinie
unbeschützt läßt. Statt im Nachteil zu sein, bildet dies die gün-
stigste Seite der Position, weil am Mincio der Marschboden be-
ginnt, der zwischen den vier Festungen Verona, Peschiera, Mantua
und Legnago eingeschlossen ist und worin ein Feind ohne außeror-
dentliche numerische Überlegenheit sich nicht hineinwagen kann.
Da die Linie des Mincio an ihrem südlichen Ende durch Mantua kom-
mandiert wird und der Boden jenseits des Mincio den Wirkungs-
kreisen von Mantua und Verona angehört, würde jeder Versuch, die
Österreicher auf dem Plateau unberücksichtigt zu lassen und an
ihnen vorbei auf den Mincio loszumarschieren, rasch zum Still-
stand gezwungen werden. Die vorrückende Armee würde ihre Kommuni-
kationslinien vernichtet sehen, ohne
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1*) "Die Nachforschung nach der Vaterschaft ist untersagt"
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die der Österreicher gefährden zu können. Zudem würde sie jen-
seits des Mincio (da von Belagerung unter diesen Umständen nicht
die Rede sein könnte) nichts zu attackieren finden und aus Mangel
eines Objekts des Angriffs wieder umkehren müssen. Die eigentli-
che Gefahr einer solchen Bewegung wäre jedoch, daß sie unter den
Augen der Österreicher auf dem Plateau zu bewerkstelligen ist.
Letztere hätten nur ihre ganze Linie in Bewegung zu setzen und
über die Kolonne des Feindes herzufallen, von Volta auf Goito,
von Cavriana auf Guidizzolo und Ceresara, von Castiglione auf Ca-
stelgoffredo und Montechiaro. Eine solche Schlacht würde von den
Befreiern unter furchtbarer Ungunst der Verhältnisse gekämpft
werden und könnte enden in ein zweites Austerlitz [164], nur mit
verkehrten Rollen.
Magenta-Gyulay ist abgesetzt. An seine Stelle tritt als Komman-
dant der zweiten Armee Schlick, während Wimpffenan der Spitze der
ersten Armee bleibt. Beide Armeen, konzentriert bei Lonato und
Castiglione, bilden zusammen die österreichisch-italienische Ar-
mee unter dem Nominalkommando von Franz Joseph und mit Heß als
Chef des Generalstabes. Schlick, so weit seine Antezedentien im
ungarischen Kriege gehen, scheint ein tüchtiger Durchschnittsge-
neral. Heß ist unstreitig der größte lebende Strategiker. Die Ge-
fahr liegt in der persönlichen Dazwischenkunft des berüchtigten
Franz Joseph. Er hat sich, wie Alexander I. beim Einfall Napo-
leons in Rußland, mit einer gemischten Bande alter, philisterhaf-
ter, besserwissender Schnurrbarte umgeben, wovon einige viel-
leicht direkt von Rußland bezahlt sind. Von dem Plateau herab
würde die französische Armee, sollte sie die Österreicher stehen
lassen und direkt auf den Mincio losmarschieren, in klar imposan-
ter Deutlichkeit, Regiment für Regiment, angeschaut werden. Der
sinnliche Eindruck, den Feind auf näherem Weg zur Rückzugslinie
zeigend, könnte einen Kopf wie den von Franz Joseph leicht bewil-
dern 1*). Das Dazwischenreden grämelnder epaulettierter Besser-
wisser könnte seine Nervenschwäche beschönigen und ihn zur Auf-
gabe der trefflich gewählten Position und zum Rückzug zwischen
den Festungen entscheiden. [236] Mit dummen Jungen an der Spitze
eines Reichs hängt alles von ihrem Nerventhermometer ab. Die be-
stüberlegten Pläne sind das Spiel von subjektiven Eindrücken, Zu-
fällen, Grillen. Mit einem Franz Joseph im Hauptquartier der
Österreicher gibt es kaum eine andere Garantie für den Sieg als
den Quasimodo im feindlichen Lager. Aber der hat wenigstens in
St. James Street bei den professionellen Spielern seine Nerven
abgehärtet und ist zwar kein Mann von Eisen, wie seine Bewunderer
wollen, wohl aber einer von Guttapercha.
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