Quelle: MEW 14 Juli 1857 - November 1860


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       Friedrich Engels
       
       Borodino [221]
       
       B o r o d i n o  - ein Dorf in Rußland, am linken Ufer der Kolot-
       scha, ungefähr  2 Meilen  vor deren  Mündung in  die Moskwa. Nach
       diesem Dorf  benennen die Russen die große Schlacht von 1812, die
       den Besitz  von Moskau  entschied; die  Franzosen nennen  sie die
       Schlacht an  der Moskwa oder bei Moshaisk. Das Schlachtfeld liegt
       am rechten  Ufer der Kolotscha. Der rechte russische Flügel wurde
       durch diesen  Fluß von  seiner Mündung in die Moskwa bis Borodino
       gedeckt; der  linke Flügel  war en  potence 1*) hinter einen Bach
       und eine  Schlucht zurückgezogen, die sich von der äußersten Lin-
       ken bei  Utiza nach  Borodino erstreckt.  Hinter dieser  Schlucht
       gibt es  zwei Hügel, die mit unvollständigen Redouten oder Lünet-
       ten gekrönt waren; von ihnen hieß die dem Zentrum am nächsten ge-
       legene Rajewski-Redoute, die auf dem Hügel weiter links gelegenen
       drei nannte man Bagration-Lünetten. Zwischen diesen beiden Hügeln
       liegt eine  andere Schlucht, nach dem dahinter liegenden Dorf Se-
       menowskoje benannt, die von dem russischen linken Flügel nach der
       ersten Schlucht verläuft und sich mit ihr, ungefähr 1000 Yard vor
       der Kolotscha,  verbindet. Die  Hauptstraße nach  Moskau führt an
       Borodino vorbei, die alte Straße bei Utiza nach Moshaisk verläuft
       im Rücken der russischen Stellung. Diese sich über rund 9000 Yard
       erstreckende Linie wurde von ungefähr 130 000 Russen gehalten und
       Borodino vor  dem Zentrum  besetzt. Der  russische Oberkommandie-
       rende war  General Kutusow.  Seine Truppen  waren in 2 Armeen ge-
       teilt; die  größere unter Barclay de Tolly hielt den rechten Flü-
       gel und  das Zentrum,  die kleinere unter Bagration stand auf dem
       linken. Die  Stellung war sehr schlecht gewählt; denn durch einen
       erfolgreichen Angriff  auf den linken Flügel wären der rechte und
       das Zentrum  völlig umgangen  worden, und wenn die Franzosen Mos-
       haisk erreicht hätten, ehe sich der russische rechte Flügel
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       1*) in Hakenstellung
       
       #248# Friedrich Engels
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       zurückgezogen hatte  - was durchaus möglich war -, dann wären die
       Russen hoffnungslos  verloren gewesen.  Doch Kutusow  blieb keine
       andere Wahl, nachdem er einmal die von Barclay ausgesuchte ausge-
       zeichnete Stellung von Zarewo Saimistsche abgelehnt hatte. [69]
       Die von  Napoleon persönlich  geführten Franzosen  waren ungefähr
       125 000 Mann  stark; nachdem  sie die  Russen am 5.September 1812
       neuen Stils  (26. August  alten Stils  1*)) aus  einigen leichten
       Verschanzungen auf  deren linken Flügel vertrieben hatten, wurden
       sie am  7. zur Schlacht aufgestellt. Napoleons Plan gründete sich
       auf die Irrtümer Kutusows; er beschränkte sich darauf, das russi-
       sche Zentrum  zu beobachten  und konzentrierte seine Kräfte gegen
       den linken  Flügel, den er bezwingen wollte, um sich dann den Weg
       nach Moshaisk  zu bahnen.  Dementsprechend hatte Vizekönig Eugène
       den Befehl  erhalten, einen  Scheinangriff auf Borodino zu unter-
       nehmen; Ney  und Davout sollten danach Bagration und die nach ihm
       benannten Lünetten  angreifen, während  Poniatowski den äußersten
       linken Flügel  der Russen  bei Utiza  umgehen sollte.  Sobald die
       Schlacht in vollem Gange wäre, sollte Vizekönig Eugène die Kolot-
       scha passieren  und die  Rajewski-Lünette angreifen. So überstieg
       die gesamte  wirklich angegriffene Front nicht die Länge von 5000
       Yard und gestattete es, auf jeden Yard der Front 26 Mann zu stel-
       len, eine  noch nicht  dagewesene Tiefe  der Schlachtordnung, der
       auch die  furchtbaren Verluste  der Russen  durch Artilleriefeuer
       zugeschrieben werden müssen. Beim Morgengrauen rückte Poniatowski
       gegen Utiza  vor und nahm es ein, doch sein Gegner Tutschkow warf
       ihn wieder  hinaus. Da  Tutschkow später eine Division zur Unter-
       stützung Bagrations  schicken mußte, eroberten die Polen das Dorf
       zurück. Um  6 Uhr  griff Davout  die eigentliche Linke der Bagra-
       tion-Schanzen an.  Er rückte  unter dem schweren Feuer der Zwölf-
       pfünder vor,  denen er  nur Drei-  und Vierpfünder entgegensetzen
       konnte. Eine halbe Stunde später griff Ney die eigentliche Rechte
       dieser Lünetten  an. Sie  wurden genommen  und zurückerobert, und
       ein erbitterter und unentschiedener Kampf folgte.
       Bagration erkannte  jedoch sehr gut die große Streitmacht mit der
       im Hintergrund  stehenden machtvollen  Reserve und  französischen
       Garde, die gegen ihn aufgeboten wurde. Es gab keinen Zweifel über
       den wirklichen  Angriffspunkt. Deshalb raffte er alle verfügbaren
       Truppen zusammen, forderte eine Division des Rajewski-Korps, eine
       weitere des  Tutschkow-Korps sowie  Garden und Grenadiere aus der
       Reservearmee an  und bat  Barclay, das gesamte Korps von Baggowut
       zu schicken. Diese Verstärkungen, die
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       1*) Julianischer Kalender
       
       #249# Borodino
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       sich auf  mehr als  30 000 Mann beliefen, wurden sofort in Marsch
       gesetzt; allein  aus der Reservearmee erhielt Bagration 17 Garde-
       und Grenadierbataillone und 2 Batterien Zwölfpfünder. Sie konnten
       jedoch nicht  vor 10 Uhr am Ort zur Verfügung stehen, und bereits
       vor diesem Zeitpunkt unternahmen Davout und Ney ihren zweiten An-
       griff auf die Verschanzungen, nahmen sie ein und trieben die Rus-
       sen über  die  Semenowskoje-Schlucht.  Bagration  schickte  seine
       Kürassiere  vor;  ein  regelloser  Kampf  von  großer  Heftigkeit
       folgte, in dem die Russen Boden zurückgewannen, als ihre Verstär-
       kungen eintrafen, aber wieder hinter die Schlucht zurückgetrieben
       wurden, als  Davout seine Reservedivision einsetzte. Beide Seiten
       erlitten ungeheure  Verluste; fast  alle höheren Offiziere wurden
       getötet oder verwundet, Bagration selbst wurde tödlich getroffen.
       Jetzt endlich  nahm Kutusow  einigen Anteil  an der  Schlacht und
       ließ Dochturow das Kommando über den linken Flügel übernehmen und
       seinen eigenen  Generalstabschef Toll  die Verteidigungsmaßnahmen
       an Ort  und Stelle  überwachen. Kurz  nach 10  Uhr kamen  die  17
       Garde- und  Grenadierbataillone und die Division von Wassiltschi-
       kow in  Semenowskoje an.  Das Baggowutsche  Korps wurde  geteilt,
       eine Division wurde zu Rajewski, eine andere zu Tutschkow und die
       Kavallerie an  die rechte  Flanke gesandt. Inzwischen setzten die
       Franzosen ihre Angriffe fort. Die westfälische Division rückte im
       Wald gegen den oberen Teil der Schlucht vor, während General Fri-
       ant diese  Schlucht überschritt,  ohne jedoch  dort Fuß fassen zu
       können. Die  Russen wurden  jetzt (halb  11 Uhr)  durch Borosdins
       Kürassiere aus  der Reservearmee  und durch einen Teil der Korff-
       schen Kavallerie  verstärkt, doch  sie waren bereits zu sehr zer-
       mürbt, um  zum Angriff vorzugehen. Ungefähr zur gleichen Zeit be-
       reiteten die Franzosen einen gewaltigen Kavallerieangriff vor. Im
       russischen Zentrum  hatte Eugène Beauharnais um 6 Uhr morgens Bo-
       rodino eingenommen,  die Kolotscha  überschritten und  den  Feind
       zurückgetrieben. Er  kehrte jedoch schnell zurück und überschritt
       weiter oben  den Fluß  erneut, um - mit den italienischen Garden,
       der Division von Broussier (Italiener), den Divisionen von Gérard
       und Morand  sowie der  Kavallerie von  Grouchy - Rajewski und die
       Redoute anzugreifen,  die dessen  Namen trug.  Borodino blieb be-
       setzt. Der  Übergang der Truppen von Beauharnais verursachte eine
       Verzögerung; sein  Angriff konnte  kaum vor  10 Uhr beginnen. Die
       Rajewski-Redoute war  von der  Division Paskewitschs besetzt, die
       zu ihrer  Linken von  Wassiltschikow unterstützt  wurde  und  das
       Korps Dochturows  als Reserve  hatte. Gegen  11 Uhr wurde die Re-
       doute von den Franzosen genommen, die Division Paskewitschs voll-
       ständig aufgerieben  und vom  Schlachtfelde getrieben.  Doch Was-
       siltschikow und Dochturow
       
       #250# Friedrich Engels
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       eroberten die Redoute wieder zurück; die Division des Herzogs Eu-
       gen von  Württemberg traf  zur rechten Zeit ein, und jetzt befahl
       Barclay dem Korps Ostermanns, im Rücken als neue Reserve Stellung
       zu nehmen.  Mit diesem  Korps wurde die letzte einsatzfähige Ein-
       heit der  russischen Infanterie  in  Schußweite  gebracht;  jetzt
       blieben nur  6 Gardebataillone  als Reserve.  Eugène  Beauharnais
       ging gegen  12 Uhr gerade ein zweites Mal zum Angriff auf die Ra-
       jewski-Redoute vor,  als russische Kavallerie auf dem linken Ufer
       der Kolotscha  erschien. [222]  Der Angriff  wurde  gestoppt  und
       Truppen gegen  die Kavallerie vorgeschickt. Doch die Russen konn-
       ten weder  Borodino nehmen  noch das  sumpfige Gelände der Woina-
       Schlucht überschreiten und mußten sich in die Nähe von Zodock zu-
       rückziehen; sie  hatten nichts  weiter erreicht, als bis zu einem
       gewissen Grade Napoleons Absichten durchkreuzt.
       Inzwischen hatten  Ney und  Davout, die  auf dem  Bagration-Hügel
       standen, über  die Semenowskoje-Schlucht  hinweg  die  russischen
       Massen mit  starkem Feuer  belegt. Ganz plötzlich setzte sich die
       französische Kavallerie  in  Bewegung.  Rechts  von  Semenowskoje
       griff Nansouty die russische Infanterie mit vollem Erfolg an, bis
       ihn Sievers'  Kavallerie in  die Flanke nahm und zurücktrieb. Zur
       Linken rückten die 3000 Reiter Latour-Maubourgs in 2 Kolonnen vor
       ; die  erste wurde  von 2  sächsischen  Kürassierregimentern  an-
       geführt und überritt zweimal 3 russische Grenadierbataillone, die
       sich gerade  zu einem  Karree formierten;  aber dieser  Teil  der
       französischen Kavallerie  wurde ebenfalls  von der russischen Ka-
       vallerie in die Flanke genommen. Ein polnisches Kürassierregiment
       vollendete die Zerschlagung der russischen Grenadiere, doch diese
       wurden wieder  in die Schlucht zurückgetrieben, wo die zweite Ko-
       lonne, 2 westfälische Kürassierregimenter und ein polnisches Ula-
       nenregiment, die Russen zurückschlug. Als dadurch der Boden gesi-
       chert war,  überschritt die  Infanterie von  Ney und  Davout  die
       Schlucht. Friant  besetzte Semenowskoje;  die übrigen Russen, die
       hier gekämpft  hatten, Grenadiere,  Garde und  Linie, wurden end-
       gültig  zurückgetrieben  und  ihre  Niederlage  wurde  durch  die
       französische  Kavallerie   vollendet.  Sie   flohen  in  kleinen,
       ungeordneten Gruppen  nach Moshaisk  und konnten erst spät in der
       Nacht gesammelt werden; nur die 3 Garderegimenter bewahrten etwas
       Ordnung. So  setzte sich  der französische rechte Flügel, nachdem
       er den  russischen linken besiegt hatte, schon um 12 Uhr in einer
       Position direkt im Rücken des russischen Zentrums fest; daraufhin
       drangen Davout  und Ney  in Napoleon, seiner eigenen Taktik gemäß
       den Sieg  zu vollenden  und die Garden bei Semenowskoje im Rücken
       der Russen  einzusetzen. Napoleon  weigerte sich  jedoch, und Ney
       und Davout, deren
       
       #251# Borodino
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       Truppen schwer angeschlagen waren, wagten es nicht, ohne Verstär-
       kungen vorzugehen.
       Auf russischer  Seite wurde,  nachdem Eugène  Beauharnais von dem
       Angriff auf  die Rajewski-Redoute  Abstand genommen  hatte, Eugen
       von Württemberg  nach Semenowskoje  geschickt, und auch Ostermann
       mußte seine  Front nach dieser Richtung hin ändern, um den Rücken
       des Rajewski-Hügels  gegen Semenowskoje  zu decken.  Als Sorbier,
       der französische Chef der Artillerie, diese frischen Truppen sah,
       ließ er  36 Zwölfpfünder  der Gardeartillerie  kommen und bildete
       vor Semenowskoje  eine Batterie  von 85 Geschützen. Während diese
       Geschütze die  russischen Massen heftig beschossen, zog Murat die
       bisher intakt  gebliebene Kavallerie  von Montbrun  und die  pol-
       nischen Ulanen nach vorn. Sie überraschten Ostermanns Truppen bei
       ihrer Entfaltung und brachten sie in große Gefahr, bis die Kaval-
       lerie von  Kreutz die französischen Reiter zurückschlug. Die rus-
       sische Infanterie  litt  Weiterhin  unter  Artilleriefeuer,  doch
       keine der  Parteien wagte  vorzurücken. Mittlerweile war es unge-
       fähr 2  Uhr geworden,  als Eugène Beauharnais, der sich hinsicht-
       lich der  feindlichen Kavallerie  zu seiner Linken sicher fühlte,
       die Rajewski-Redoute erneut angriff. Während die Infanterie diese
       frontal angriff,  wurde Kavallerie  von Semenowskoje aus in ihren
       Rücken geschickt.  Nach einem  harten Kampf  blieb die Redoute in
       der Hand  der Franzosen, und kurz vor 3 Uhr zogen sich die Russen
       zurück. Von beiden Seiten erfolgte zwar eine allgemeine Kanonade,
       aber der aktive Kampf war vorbei. Napoleon weigerte sich noch im-
       mer, seine Garde einzusetzen, und die Russen konnten sich zurück-
       ziehen, wie  sie wollten. Die Russen hatten ihre gesamten Truppen
       eingesetzt, mit  Ausnahme der  beiden ersten Garderegimenter, und
       selbst diese  verloren durch Artilleriefeuer 17 Offiziere und 600
       Mann. Der  Gesamtverlust der  Russen betrug  52 000  Mann,  neben
       Leichtverwundeten und  Versprengten, die  bald zurückfanden; doch
       am Tage  nach der  Schlacht war  ihre Armee  nur noch 52 000 Mann
       stark. Die  Franzosen hatten  auch alle  Truppen mit Ausnahme der
       Garden (14 000 Mann Infanterie, 5000 Mann Kavallerie und Artille-
       rie) im  Kampf; sie schlugen daher entschieden überlegene Kräfte.
       Außerdem war  ihre Artillerie  schlechter, da sie meist aus Drei-
       und Vierpfündern  bestand, während ein Viertel der russischen Ge-
       schütze Zwölfpfünder  Und die  übrigen  Sechspfünder  waren.  Die
       Franzosen verloren  30 000 Mann;  sie erbeuteten 40 Geschütze und
       machten nur  ungefähr 1000  Gefangene. Hätte Napoleon seine Garde
       eingesetzt, so wäre laut General Toll die Zerschlagung der russi-
       schen Armee  sicher gewesen. Er riskierte jedoch diese letzte Re-
       serve nicht,  den Kern und die Hauptstütze seiner Armee, und ver-
       paßte
       
       #252# Friedrich Engels
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       dadurch vielleicht die Gelegenheit, in Moskau den Frieden schlie-
       ßen zu können.
       Die obige  Darstellung basiert  in den Einzelheiten, die sich von
       den allgemeinen  Berichten unterscheiden,  hauptsächlich auf  den
       "Denkwürdigkeiten des  Generals Toll  [164], den wir als Kutusows
       Generalstabschef erwähnt  haben. Dieses  Buch enthält  den besten
       russischen Bericht  über die  Schlacht und ist für deren korrekte
       Würdigung unentbehrlich.
       Geschrieben um den 28. Januar 1858.
       
       Aus dem Englischen.

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