Quelle: Januar 1860 - September 1864
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Karl Marx
Volkswirtschaftliche Glossen
["Die Presse" Nr. 308 vom 9. November 1861]
London, 3. November 1861
Allgemeine Politik existiert in diesem Augenblicke nicht in Eng-
land. Das Interesse des Landes geht auf in der französischen Fi-
nanz-, Handels- und Agrikulturkrise, in der britischen Indu-
striekrise, der Baumwollnot und der amerikanischen Frage.
In hiesigen urteilsfähigen Kreisen täuschte man sich keinen Au-
genblick darüber, daß die Wechselreiterei der Bank von Frankreich
mit einigen großen Häusern auf beiden Seiten des Kanals ein Pal-
liativ der schwächsten Art sei. Alles, was damit erreicht werden
konnte und erreicht worden ist, war eine a u g e n b l i c k-
l i c h e Verminderung des Goldabflusses nach England. Die wie-
derholten Versuche der Bank von Frankreich zur Werbung metallener
Hilfstruppen in Petersburg, Harnburg und Berlin schaden ihrem
Kredit, ohne ihre Kasse zu füllen. Die Erhöhung des Zinsfußes auf
Tresorscheine, um sie im Kurs zu halten, und die Notwendigkeit,
Nachlaß der Zahlungen für das neue italienische Anlehen von
Viktor Emanuel zu erwirken - beides gilt hier als bedenkliches
Symptom der französischen Finanzkrankheit. Man weiß zudem, daß in
diesem Augenblicke zwei Projekte in den Tuilerien um den Vorrang
streiten. Die Vollblutbonapartisten, mit Persigny und Pereire
(vom Crédit mobilier [4]) an der Spitze, wollen die Bank von
Frankreich völlig der Regierungsgewalt unterwerfen, sie zum
bloßen Büro des Finanzministeriums herabsetzen und das so
verwandelte Institut als Assignatenfabnk benutzen.
Es ist bekannt, daß dies Prinzip der Organisation des Crédit mo-
bilier ursprünglich zu Grunde lag. Die minder abenteuerliche Par-
tei, vertreten durch Fould und andere Renegaten aus der Zeit
Louis-Philippes, schlägt
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ein neues N a t i o n a l - A n l e h e n vor, das nach einigen
400, nach anderen 700 Millionen Francs betragen soll. Die "Times"
in einem heutigen Leitartikel spiegeln wohl die Ansicht der City
ab, wenn sie sagen, daß Frankreich durch seine ökonomische Krisis
völlig paralysiert und seines europäischen Einflusses beraubt
sei. Indes irren "Times" und City. Gelingt es der Dezembermacht,
den Winter ohne große innere Stürme zu überdauern, so wird sie im
Frühling in die Kriegsposaune stoßen. Die innere Not würde damit
nicht geheilt, aber übertäubt.
In einem früheren Briefe wies ich darauf hin, daß der Baumwoll-
schwindel zu Liverpool während der letzten Wochen durchaus an die
tollsten Zeiten der Eisenbahnmanie von 1845 mahnt. 1*) Zahnärzte,
Chirurgen, Advokaten, Köchinnen, Witwen, Arbeiter, Schreiber und
Lords, Komödianten und Geistliche, Soldaten und Schneider, Zei-
tungsschreiber und Wohnungsvermieter, Mann und Weib, alles speku-
lierte in Baumwolle. Ganz geringe Quantitäten von 1 zu 4 Ballen
wurden gekauft, verkauft und wieder verkauft. Beträchtlichere
Quantitäten blieben monatelang auf demselben Lager liegen, obwohl
sie zwanzigmal den Eigentümer wechselten. Wer um 10 Uhr Baumwolle
gekauft hatte, verkaufte sie um 11 Uhr schon wieder mit einem
Aufschlag von 1/2 Penny per Pfund. So zirkulierte dieselbe Baum-
wolle oft sechsmal während zehn Stunden durch verschiedene Hände.
Diese Woche jedoch trat eine Art von Stillstand ein, und zwar aus
keinem anderen rationellen Grunde, als weil das Pfund Baumwolle
(nämlich mittlere Orleans-Baumwolle) die Höhe von 1 Schilling er-
reicht hatte, weil 12 Penny 1 Schilling ausmachen und also eine
runde Zahl sind. So hatte sich jeder vorgenommen, sobald dies Ma-
ximum erreicht sei, loszuschlagen. Dadurch plötzliches Steigen
des Angebots und folglich Reaktion. Sobald sich der Engländer mit
der Möglichkeit vertraut gemacht, daß ein Pfund Baumwolle
ü b e r einen Schilling steigen kann, wird der Veitstanz noch
toller wiederkehren.
Der letzte offizielle monatliche Bericht des Board of Trade 2*)
über britische Ausfuhren und Einfuhren hat die trübe Stimmung
keineswegs geklärt. Die A u s f u h r t a b e l l e umfaßt die
neunmonatige Periode von Januar bis September 1861. Sie zeigt, im
Vergleich zur selben Periode während des Jahres 1860, einen Aus-
fall von ungefähr 8 Millionen Pfund Sterling. Davon fallen allein
5 671 730 Pfd. St. auf die Ausfuhr nach den Vereinigten Staaten,
während der Rest sich auf das britische Nordamerika 3*), Ostin-
dien, Australien, die Türkei und Deutschland verteilt. Zunahme
zeigt sich nur in
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1*) Siehe vorl. Band, S. 350 - 2*) Handels- und Verkehrsministe-
riums - 3*) Kanada
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Italien. So z.B. ist der Export britischer Baumwollwaren nach
Sardinien, Toskana, Neapel und Sizilien von 756 892 Pfd. St. für
das Jahr 1860, auf 1 204 287 Pfd. St. für das Jahr 1861 gestie-
gen; der Export britischer Baumwollgarne von 348 158 Pfd. St. auf
538 373 Pfd. St.; der Eisenexport von 120 867 Pfd. St. auf
160 912 Pfd. St. usw. Diese Zahlen sind nicht ohne Gewicht in der
Waagschale britischer Sympathie für italienische Freiheit.
Während so der Exporthandel Großbritanniens um beinahe 8 Millio-
nen Pfund Sterling gesunken, ist sein I m p o r t h a n d e l
in noch größerer Proportion g e s t i e g e n, ein Umstand, der
keineswegs die Ausgleichung der Bilanz erleichtert. Dies Wachstum
der Einfuhren stammt namentlich von der Zunahme des Weizenimports
her. Während in den ersten a c h t Monaten von 1860 der Wert
des importierten Weizens nur 6 796 131 Pfd. St. betrug, beläuft
er sich während derselben Periode in diesem Jahre auf 13 431 487
Pfd. St.
Das merkwürdigste Phänomen, welches die E i n f u h r t a b e l-
l e enthüllt, ist die rasche Zunahme der f r a n z ö s i-
s c h e n I m p o r t e, die jetzt schon die Höhe von beinahe
18 Millionen Pfund Sterling (jährlich) erreichen, während die
englische Ausfuhr nach Frankreich nicht viel bedeutender ist als
die nach Holland etwa. Kontinentale Politiker haben dies ganz
neue Phänomen der modernen Handelsgeschichte bisher übersehen. Es
beweist, daß die ökonomische Abhängigkeit Frankreichs von England
vielleicht sechsmal so groß ist als die ökonomische Abhängigkeit
Englands von Frankreich, wenn man nämlich nicht nur die Ziffern
der englischen Ausfuhr- und Einfuhrtabellen betrachtet, sondern
sie auch mit den französischen Ausfuhr- und Einfuhrtabellen
vergleicht. Es ergibt sich dann, daß England jetzt der
Hauptexportmarkt für Frankreich geworden, während Frankreich ein
ganz sekundärer Exportmarkt für England geblieben ist. Daher,
trotz allem Chauvinismus und allen Waterloo-Rodomontaden, die
ängstliche Scheu vor einem Konflikt mit dem "perfiden Albion".
Schließlich geht noch eine wichtige Tatsache aus den letzten eng-
lischen Ausfuhr- und Einfuhrtabellen hervor. Während der engli-
sche Export nach den V e r e i n i g t e n S t a a t e n in
den ersten n e u n Monaten dieses Jahres um mehr als 25 Prozent
sank, im Vergleich zu derselben Periode des Jahres 1860, hat der
Hafen von New York allein während der ersten a c h t Monate
dieses Jahres seine Ausfuhr nach England um 6 Millionen Pfund
Sterling v e r m e h r t. Die Ausfuhr des amerikanischen Goldes
nach England hatte während dieser Periode fast aufgehört, während
jetzt umgekehrt seit Wochen Gold von England nach New York
fließt. Es sind in
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der Tat England und Frankreich, deren Ernteausfälle das nordame-
rikanische Defizit decken, während der Morrill-Tarif [134] und
die von einem Bürgerkrieg unzertrennliche Ökonomie gleichzeitig
den Konsum englischer und französischer Fabrikate in Nordamerika
dezimiert haben. Und nun vergleiche man diese statistischen Tat-
sachen mit den Jeremiaden der "Times" über den finanziellen Ruin
Nordamerikas!
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