Quelle: Januar 1860 - September 1864


       zurück

       #439#
       -----
       Karl Marx
       
       Die öffentliche Meinung in England
       
       ["New-York Daily Tribune" Nr. 6499 vom 1. Februar 1862]
       London, 11. Januar 1862
       Die Nachricht  von der friedlichen Lösung des "Trent"- Konfliktes
       [230] wurde  von der Mehrheit des englischen Volkes mit einer Be-
       geisterung  begrüßt,  welche  die  Unpopularität  des  erwarteten
       Krieges und  die Furcht  vor seinen  Folgen unmißverständlich be-
       wies. Man  sollte in  den Vereinigten  Staaten niemals vergessen,
       daß zumindest die  A r b e i t e r k l a s s e.  Englands sie vom
       Beginn bis  zum Ende des Streits nicht im Stich gelassen hat. Ihr
       war es  zu verdanken, daß während der ganzen Zeit, da der Frieden
       auf Messers  Schneide stand, trotz der von der feilen und verant-
       wortungslosen Presse  täglich verabfolgten Giftspritzen im Verei-
       nigten Königreich  nicht ein  einziges öffentliches Kriegsmeeting
       abgehalten werden konnte. Bei dem einzigen Kriegsmeeting, das bei
       der Ankunft  der "La Plata" in den Baumwollauktionsräumen der Li-
       verpooler Börse  zustande kam, waren die Baumwollspekulanten ganz
       unter sich.  Sogar in Manchester verstand man die Stimmung in der
       Arbeiterklasse so  gut, daß ein einzelner Versuch, ein Kriegsmee-
       ting einzuberufen,  kurz nach Aufkommen des Gedankens wieder auf-
       gegeben wurde.
       Wo in  Schottland, England  oder Irland auch öffentliche Meetings
       stattfanden, protestierten  sie gegen  das wütende Kriegsgeschrei
       der Presse, gegen die finsteren Pläne der Regierung und erklärten
       sich für eine friedliche Lösung der schwebenden Fragen. In dieser
       Beziehung sind  die beiden zuletzt abgehaltenen Meetings, eins in
       Paddington, London,  das andere in Newcastle-upon-Tyne, charakte-
       ristisch. Ersteres stimmte Herrn Washington Wilkes' Darlegung zu,
       daß England  nicht das  Recht habe, die Verhaftung der Kommissäre
       des Südens  zu kritisieren;  während auf dem Meeting in Newcastle
       beinahe einstimmig folgende Entschließung angenommen
       
       #440# Karl Marx
       -----
       wurde: Erstens, daß sich die Amerikaner nur der  g e s e t z l i-
       c h e n   Ausübung des Durchsuchungs- und Festnahmerechtes schul-
       dig gemacht  haben; zweitens,  daß der  Kapitän des "Trent" wegen
       seiner Verletzung  der von  der Königin  proklamierten englischen
       Neutralität bestraft werden müßte.
       Unter gewöhnlichen Umständen hätte man die Haltung der britischen
       Arbeiter auf die natürliche Sympathie zurückführen können, welche
       die Volksmassen  der ganzen  Welt der einzigen Volksregierung der
       Welt entgegenbringen  sollten. Unter  den gegenwärtigen Umständen
       jedoch, da  ein großer  Teil der britischen Arbeiterklasse direkt
       und schwer  unter den  Folgen der  Blockade des Südens leidet, da
       ein anderer  Teil indirekt  durch die Beschränkung des amerikani-
       schen Handels  getroffen wird,  der - wie man ihnen erzählt - der
       selbstsüchtigen "Schutzpolitik"  der  Republikaner  zuzuschreiben
       ist; da  sich die  einzige verbliebene  demokratische Wochenzeit-
       schrift, "Reynolds's  Paper", an  die Herren Yancey und Mann ver-
       kauft hat  und Woche für Woche ihren ganzen Vorrat an schmutzigen
       Reden darin  erschöpft, die Arbeiterklasse aufzurufen, im eigenen
       Interesse die Regierung zu einem Krieg mit der Union zu drängen -
       unter solchen  Umständen erfordert  die bloße  Gerechtigkeit, daß
       man der  festen Haltung  der  britischen  Arbeiterklasse  Achtung
       zollt, um  so mehr,  wenn man  diese Haltung  dem heuchlerischen,
       prahlenden, feigen und dummen Verhalten des offiziellen und wohl-
       situierten John Bull entgegenhält.
       Welcher Unterschied  liegt in dieser Haltung des Volkes gegenüber
       jener, welche  sie in der Zeit des russischen Konfliktes 1*) ein-
       nahm. Damals  winselten die  "Times", die  "Post" und die anderen
       Yellowplushes [231] der Londoner Presse nach Frieden, und im gan-
       zen Lande antworteten ihnen gewaltige Kriegsmeetings. Jetzt heul-
       ten sie nach Krieg, woraufhin ihnen Friedensmeetings antworteten,
       welche die freiheitsmörderischen Pläne und die Sympathien der Re-
       gierung für die Sklaverei öffentlich brandmarkten. Die Grimassen,
       die die  Auguren der  öffentlichen Meinung  auf die Nachricht von
       der friedlichen  Lösung des  "Trent"-Falles hin  schnitten,  sind
       wirklich amüsierend.
       Zuallererst müssen  sie sich  durchaus zu der Würde, dem gesunden
       Menschenverstand, dem  guten Willen und der Mäßigung gratulieren,
       die sie  im Verlaufe  eines vollen Monats täglich bewiesen haben.
       Sie   w a r e n   in den ersten beiden Tagen nach der Ankunft der
       "La Plata"  gemäßigt, als  Palmerston unsicher  war, ob man einen
       legalen Vorwand zum Streit finden
       -----
       1*) des Krimkrieges 1853-1856
       
       #441# Die öffentliche Meinung in England
       -----
       könne. Doch  kaum stießen die Kronjuristen auf einen legalen Vor-
       wand, da begannen sie ein derart mißtönendes Geschrei, wie man es
       seit dem Antijakobinerkrieg nicht gehört hatte. Die Depeschen der
       englischen Regierung  verließen Queenstown  Anfang Dezember.  Vor
       Anfang Januar  konnte keine offizielle Antwort Washingtons erwar-
       tet werden.  Die inzwischen  neueingetretenen  Vorfälle  sprachen
       alle zugunsten  der Amerikaner.  Der  Ton  der  transatlantischen
       Presse war  ruhig, obgleich  die Nashville-Affäre [212] ihre Lei-
       denschaften erregt  haben mochte.  Alle festgestellten  Tatsachen
       zeigens daß  Kapitän Wilkes auf eigene Faust gehandelt hatte. Die
       Lage der  Washingtoner Regierung war heikel. Widersetzte sie sich
       den englischen  Forderungen, so  würde sie  den Bürgerkrieg durch
       einen auswärtigen Krieg komplizieren. Gäbe sie nach, so würde sie
       ihrer Popularität  im Lande schaden und dem Druck von außen nach-
       zugeben scheinen. Und in dieser Lage führte die Regierung gleich-
       zeitig einen  Krieg, der auf seiner Seite die wärmsten Sympathien
       eines jeden hat, der nicht ein erklärter Räuber ist.
       Gesunder Menschenverstand  und elementarer  Anstand hätten  daher
       der Londoner  Presse wenigstens  in der  Zeit zwischen der engli-
       schen Forderung  und der amerikanischen Antwort diktieren müssen,
       sich sorgsam  jedes Wortes  zu enthalten,  das  dazu  beigetragen
       hätte, die  Leidenschaften zu erhitzen, Feindschaft hervorzurufen
       und  die   Schwierigkeiten  zu  komplizieren.  Aber  nein!  Diese
       "unaussprechlich erbärmliche  und kriecherische"  Presse, wie sie
       William Cobbett  - und er war eine Autorität auf dem Gebiet - be-
       zeichnet, brüstete  sich wirklich  damit -  als sie  die vereinte
       Kraft der  Vereinigten Staaten  fürchtete -,  sich der wachsenden
       Geringschätzung und den Beleidigungen der Pro-Sklaverei-Regierun-
       gen fast  ein halbes  Jahrhundert lang  bescheiden unterworfen zu
       haben, während sie jetzt mit dem wilden Frohlocken von Feiglingen
       danach lechzt, an der republikanischen Regierung, die durch einen
       Bürgerkrieg abgelenkt  ist, Rache  zu nehmen.  Die Geschichte der
       Menschheit verzeichnet  kein niederträchtigeres  Selbstbekenntnis
       als dieses.
       Einer der  Yellowplushes, Palmerstons  privater  Moniteur  -  die
       "Morning Post"  -, findet  sich selbst  durch die  amerikanischen
       Zeitungen eines schändlichen Vergehens angeklagt. John Bull wurde
       niemals informiert  - eine Nachricht, die die über ihn herrschen-
       den Oligarchen  ihm sorgfältig  vorenthielten -, daß Herr Seward,
       ohne  Russells   Depesche  abzuwarten,   jede   Beteiligung   des
       Washingtoner Kabinetts an der Tat Kapitän Wilkes geleugnet hatte.
       Herrn Sewards  Depesche traf  am 19.  Dezember in  London ein. Am
       20.Dezember verbreitete sich das Gerücht dieses "Geheimnisses" an
       der Börse.  Am 21.  traten die  Yellowplushes der  "Morning Post"
       auf, um
       
       #442# Karl Marx
       -----
       ernst zu  verkünden, daß  "die fragliche Depesche sich keineswegs
       auf die Ausschreitungen gegenüber unserem Postdampfboot beziehe".
       In den "Daily News", dem "Morning Star" und anderen Londoner Zei-
       tungen wird  man finden, daß mit Yellowplush ziemlich streng ver-
       fahren wird,  doch man  kann von  ihnen nicht  erfahren, was  die
       Leute außerhalb  sagen. Sie sagen, daß "Morning Post" und "Times"
       wie "Patrie"  und "Pays"  das Publikum nicht nur täuschten, um es
       politisch irrezuführen,  sondern um  es im Interesse ihrer Herren
       auch in der Finanzbranche auf der Börse zu plündern.
       Die unverschämte  "Times", völlig im klaren darüber, daß sie wäh-
       rend der  ganzen Krise  niemanden als  sich selbst kompromittiert
       und einen  Beweis dafür geliefert hatte, wie hohl ihre Behauptung
       sei, sie  beeinflusse das  wirkliche Volk  Englands, spielt heute
       einen Trick  aus, der  hier in  London nur  auf  die  Lachmuskeln
       wirkt, doch  auf der anderen Seite des Atlantik falsch verstanden
       werden könnte.  Die "Volksklassen"  Londons, der  "Mob", wie  die
       Yellowplushes sie  nennen, haben unmißverständliche Zeichen gege-
       ben - haben sogar m Zeitungen darauf hingewiesen - daß sie es für
       einen außerordentlich passenden Witz betrachten würden, Herrn Ma-
       son (der nebenbei gesagt ein entfernter Verwandter von Palmerston
       ist, da sein Urgroßvater mit einer Tochter Sir W. Temples verhei-
       ratet war),  Slidell und Co. mit denselben Demonstrationen zu be-
       denken, die  Haynau bei  seinem Besuch  in Barclays  Brauerei er-
       hielt. Die  "Times" ist  schon bei dem Gedanken an einen so uner-
       hörten Zwischenfall  entsetzt; und  wie versucht sie zu parieren?
       Sie ermahnte  das englische Volk, Mason, Slidell und Co. mit kei-
       nerlei öffentlichen  Ovationen zu  überhäufen! Die  "Times" weiß,
       daß ihr heutiger Artikel allen Schenkstuben Londons Anlaß zum La-
       chen geben  wird. Das macht jedoch nichts! Menschen auf der ande-
       ren Seite  des Atlantik  mögen vielleicht denken, daß der Edelmut
       der "Times" sie vor dem Schimpf öffentlicher Ovationen für Mason,
       Slidell und Co. gerettet habe, während die "Times" in der Tat nur
       beabsichtigt, diese Herren vor öffentlicher Beleidigung zu schüt-
       zen!
       Solange die  "Trent"-Affäre unentschieden war, haben die "Times",
       die "Post",  der "Herald",  der "Economist" und die "Saturday Re-
       view", in  der Tat  die ganze  vornehme käufliche Presse Londons,
       alles versucht, John Bull zu überzeugen, daß die Washingtoner Re-
       gierung, selbst  wenn sie wollte, unfähig sei, Frieden zu halten,
       weil der  Yankee-Mob es nicht erlauben würde und weil die Bundes-
       regierung eine  Regierung des  Mobs sei.  Die Tatsachen haben sie
       jetzt Lügen  gestraft. Sühnen sie jetzt ihre böswilligen Beleidi-
       gungen des  amerikanischen Volkes?  Bekennen sie  wenigstens  den
       Irrtum, dem  Yellowplush verfallen mußte, da er sich anmaßte, die
       Taten eines freien
       
       #443# Die öffentliche Meinung in England
       -----
       Volkes zu  beurteilen? Keineswegs.  Sie entdecken jetzt einmütig,
       daß die  amerikanische Regierung,  als sie  Englands  Forderungen
       nicht zuvorkam,  und die  Verräter aus den Südstaaten sofort nach
       ihrer Festnahme  übergab, eine glänzende Gelegenheit verpaßte und
       ihre gegenwärtige  Konzession wertlos  machte.  Wahrhaft  Yellow-
       plush! Herr  Seward verurteilte die Handlung Wilkes' vor dem Ein-
       treffen der  englischen Forderungen und erklärte sich sofort wil-
       lens, einen  versöhnlichen Weg  einzuschlagen. Und  was haben sie
       bei ähnlicher  Gelegenheit getan?  Als unter  dem Vorwand der ge-
       waltsamen Werbung  englischer  Matrosen  an  Bord  amerikanischer
       Schiffe -  ein Vorwand,  der mit  den Seekriegsrechten  überhaupt
       nichts zu tun hat, sondern eine offensichtliche ungeheure Usurpa-
       tion gegen  jedes internationale  Recht ist  - der "Leopard" eine
       Breitseite auf  die "Chesapeake"  feuerte, sechs Matrosen tötete,
       einundzwanzig verwundete  und die  angeblichen Engländer  an Bord
       der "Chesapeake"  gefangennahm; und  was tat die englische Regie-
       rung? Dieser Übergriff geschah am 20. Juni 1807. Wirkliche Satis-
       faktion, die Auslieferung der Matrosen usw. kam erst am 8. Novem-
       ber 1812,  also fünf Jahre später, zustande. Zwar verurteilte die
       britische Regierung  sofort  diese  Handlung  Admiral  Berkeleys,
       ebenso wie  es Herr  Seward in bezug auf Kapitän Wilkes tat, doch
       als Strafe  avancierte der Admiral von einem niedrigeren zu einem
       höheren Rang.  England gab,  als es  seine Anordnungen im Rat be-
       kanntgab, offen  zu, daß es Ausschreitungen gegen die Rechte Neu-
       traler im  allgemeinen und  der Vereinigten Staaten im besonderen
       seien; daß sie ihm als Vergeltungsmaßnahmen gegen Napoleon aufge-
       zwungen worden seien, und daß es sich sehr freuen würde, sie auf-
       heben zu  können, wenn  Napoleon seine  Übergriffe gegen neutrale
       Rechte einstellte. Napoleon stellte sie, soweit sie die Vereinig-
       ten Staaten  betrafen, im Frühjahr 1810 ein. England beharrte auf
       seinen offen  bekannten Übergriffen  gegen die  maritimen  Rechte
       Amerikas. Sein  Widerstand dauerte von 1806 bis zum 23. Juni 1812
       - nachdem  die Vereinigten  Staaten am  18. Juni 1812 England den
       Krieg erklärt  hatten. England lehnte in diesem Falle sechs Jahre
       lang nicht  ab, seine offen zugegebenen Übergriffe wiedergutzuma-
       chen, lehnte  aber ab, sie einzustellen. Und diese Leute sprechen
       von der  glänzenden Gelegenheit,  die die amerikanische Regierung
       verpaßte! Ob  falsch oder richtig, es war eine feige Tat der bri-
       tischen Regierung,  eine Beschwerde,  die sich auf einen angebli-
       chen technischen Irrtum und einen reinen Prozedurfehler gründete,
       durch ein  Ultimatum, durch  die Forderung  nach Auslieferung der
       Gefangenen zu  verstärken.  Die  amerikanische  Regierung  könnte
       Gründe haben, dieser Forderung nachzukommen, sie konnte keine ha-
       ben, ihr zuvorzukommen.
       
       #444# Karl Marx
       -----
       Durch die gegenwärtige Beilegung des "Trent"-Konfliktes wurde die
       Frage, die  den ganzen  Disput hervorrief  und die wahrscheinlich
       wieder auftauchen  wird - nämlich die Kriegsrechte einer Seemacht
       gegenüber Neutralen - nicht gelöst. Ich werde mit Ihrer Erlaubnis
       versuchen, die  ganze Frage  in einem folgenden Artikel zu behan-
       deln. Vorläufig erlauben Sie mir hinzuzufügen, daß meiner Meinung
       nach die  Herren Mason  und  Slidell  der  Bundesregierung  einen
       großen Dienst  erwiesen haben. Es gab in England eine einflußrei-
       che Kriegspartei,  die teils aus kommerziellen, teils aus politi-
       schen Gründen nach einem Zusammenstoß mit den Vereinigten Staaten
       trachtete. Die  "Trent"-Affäre hat  diese Partei einer Feuerprobe
       unterzogen. Sie  hat diese  nicht bestanden.  Die Kriegswut wurde
       durch eine  unbedeutende Angelegenheit vermindert, das Ventil ge-
       öffnet; die brüllende Begeisterung der Oligarchie hat den Argwohn
       der englischen Demokratie hervorgerufen, die großen, mit den Ver-
       einigten Staaten  verbundenen englischen Interessen leisteten Wi-
       derstand, der  wahre Charakter des Bürgerkrieges wurde den Arbei-
       tern klar  gemacht, und last not least neigt sich die gefährliche
       Periode, da  Palmerston selbstherrlich  regierte, ohne vom Parla-
       ment gehindert  zu werden,  schnell dem Ende zu. Das war die ein-
       zige Zeit,  in der mit dem Gedanken an einen englischen Krieg für
       die Sklavenhalter gespielt werden konnte. Jetzt ist der Zeitpunkt
       dafür vorbei.
       
       Aus dem Englischen.

       zurück