Quelle: Januar 1860 - September 1864
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Karl Marx
Zur Baumwollkrise
["Die Presse" Nr. 38 vom 8. Februar 1862]
Vor einigen Tagen fand das jährliche Meeting der H a n d e l s-
k a m m e r v o n M a n c h e s t e r statt. Sie repräsentiert
Lancashire, den größten Industriedistrikt des Vereinigten König-
reichs und den Hauptsitz der britischen Baumwollmanufaktur. Der
Präsident des Meetings, Herr E. Potter, und die Hauptredner auf
demselben, die Herren Bazley und Turner, vertreten Manchester und
einen Teil Lancashires im Unterhaus. Aus den Verhandlungen des
Meetings erfahren wir also o f f i z i e l l, welche Haltung
das große Zentrum englischer Baumwollindustrie der amerikanischen
Krise gegenüber in dem "Senat der Nation" behaupten wird.
Auf dem v o r j ä h r i g e n Meeting der Handelskammer hatte
Herr Ashworth, einer der größten Baumwollbarone Englands, in pin-
darischer Überschwenglichkeit die unerhörte Ausdehnung der Baum-
wollindustrie während des letzten Dezenniums gefeiert. Er hob na-
mentlich hervor, daß selbst die Handelskrisen von 1847 und 1857
keinen Ausfall in der Ausfuhr englischer Baumwollgespinste und
Gewebe erzeugt. Er erklärte dies Phänomen aus der wundertätigen
Kraft des 1846 eingeführten Freihandelssystems. Schon damals
klang es absonderlich, daß dasselbe System, obgleich unfähig,
England die Krisen von 1847 und 1857 zu ersparen, fähig sein
sollte, einen b e s o n d e r n englischen Industriezweig, die
Baumwollindustrie, "dem Einfluß jener Krise zu entziehen. Aber
was hören wir heute? Sämtliche Redner, Herr Ashworth eingeschlos-
sen, gestehen, daß seit 1858 eine unerhörte Überführung der asia-
tischen Märkte stattgefunden und daß infolge massenhafter und
stetig fortgesetzter Ü b e r p r o d u k t i o n die jetzige
Stockung eintreten mußte, selbst ohne Amerikanischen Bürgerkrieg,
Morrill-Tarif [134] und Blockade. Ob ohne diese erschwerenden Um-
stände der Ausfall in der Ausfuhr des letzten Jahres die Höhe von
6 Millionen Pfund Sterling erreicht
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hätte, bleibt natürlich dahingestellt, erscheint aber nicht un-
wahrscheinlich, wenn wir hören, daß die Hauptmärkte Asiens und
Australiens für 12 Monate mit englischem Baumwollfabrikat
versorgt sind.
Die bisherige Krise in der englischen Baumwollindustrie ist also,
nach dem Eingeständnis der in dieser Angelegenheit maßgebenden
Handelskammer von Manchester, das Resultat nicht der amerikani-
schen Blockade, sondern der englischen Überproduktion. Was aber
wären die Folgen einer Fortdauer des Amerikanischen Bürger-
krieges? Auf diese Frage erhalten wir wieder einstimmige Antwort:
Maßloses Leiden der arbeitenden Klasse und Ruin der kleineren Fa-
brikanten.
"In London", bemerkte Herr Cheetham, "sagt man, wir hätten noch
Baumwolle genug, um fortarbeiten zu lassen. Aber die Baumwolle
allein steht nicht in Frage. Es handelt sich vor allem um ihren
P r e i s. Mit den gegenwärtigen Preisen würde das Kapital der
Fabrikanten aufgezehrt."
Die Handelskammer erklärt sich jedoch entschieden g e g e n
j e d e I n t e r v e n t i o n in den Vereinigten Staaten, ob-
gleich die meisten ihrer Mitglieder hinreichend von den "Times"
beherrscht sind, um die Auflösung der Union für unvermeidlich zu
halten.
"Das letzte Ding", sagt Herr Potter, "das wir empfehlen können,
wäre die Intervention. Der letzte Platz, von dem ein solcher Vor-
schlag ausgehen würde, ist Manchester. Nichts wird uns bestimmen,
etwas moralisch Schlechtes zu empfehlen."
Herr Bazley:
"Der amerikanische Zwist muß dem strengsten Prinzip der Nichtin-
tervention anheimfallen. Das Volk jenes großen Landes muß unge-
stört seine eigenen Angelegenheiten ordnen."
Herr Cheetham:
"Die herrschende Meinung in diesem Distrikt widerstrebt aufs ent-
schiedenste jeder Intervention in dem amerikanischen Zwist. Es
ist notwendig, dies klar auszusprechen, weil im Zweifelsfalle von
anderer Seite ein außerordentlicher Druck auf die Regierung aus-
geübt werden würde."
Was empfiehlt also die Handelskammer? Die englische Regierung
soll alle Hindernisse beseitigen, die von selten der Verwaltung
noch immer die Baumwollkultur in I n d i e n hemmen. Sie soll
namentlich den Einfuhrzoll von 10 Prozent aufheben, womit engli-
sche Baumwollgespinste und Gewebe in Indien belastet sind. Kaum
war das Regime der Ostindischen Kompanie beseitigt [70], kaum
Ostindien dem britischen Reiche einverleibt, als Palmerston durch
Herrn Wilson jenen Einfuhrzoll auf e n g l i s c h e Fabrikate
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in Indien einführte, und zwar zur selben Zeit, wo er für den eng-
lisch-französischen Handelsvertrag Savoyen und Nizza verkaufte.
Während der französische Markt der englischen Industrie in einem
gewissen Umfang eröffnet ward, wurde ihr der ostindische Markt in
größerem Umfange verschlossen.
Herr Bazley bemerkte mit Bezug hierauf, daß große Massen engli-
scher Maschinerie seit der Einführung jenes Zolls nach Bombay und
Kalkutta ausgeführt und daselbst Fabriken im englischen Stil er-
richtet worden seien. Diese bereiteten sich vor, ihnen die beste
indische Baumwolle wegzuschnappen. Rechne man zu den 10 Prozent
Einfuhrzoll 15 Prozent für Fracht hinzu, so genießen die durch
die Initiative der englischen Regierung künstlich hervorgerufenen
Rivalen eines Schutzzolls von 25 Prozent.
Überhaupt sprach sich auf dem Meeting der Großwürdenträger der
englischen Industrie bittere Verstimmung aus über die protektio-
nistische Tendenz, die mehr und mehr in den Kolonien, namentlich
auch in Australien, um sich greife. Die Herren vergessen, daß die
Kolonien während anderthalb Jahrhunderten vergebens gegen das
"Kolonialsystem" des Mutterlandes protestierten. Damals verlang-
ten die Kolonien freien Handel. England bestand auf Prohibition.
Jetzt predigt England freien Handel, und die Kolonien finden Pro-
tektion gegen England ihren Interessen angemessener.
Geschrieben Anfang Februar 1862.
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