Quelle: Januar 1860 - September 1864
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Friedrich Engels
Die englische Armee [319]
Die "Allg[emeine] Mil[itär] Z[ei]t[un]g" hat vor kurzem in einer
ausführlichen Besprechung des Werkchens von Petrie und James
[320] die Organisation der englischen Armee, und seitdem in einem
ändern Artikel die Stellung dieses Heers im englischen Staate ge-
schildert. Es bleibt nun noch übrig, diese Armee selbst in ihrer
geschichtlichen Entwicklung in den letzten siebenzig Jahren, in
ihrer jetzigen Erscheinung, ihrem Material, ihrem inneren Dienst-
betrieb, ihrer taktischen Ausbildung und ihren eigentümlichen Ge-
fechtsformen zu betrachten. Dies ist der Zweck der gegenwärtigen
Zeilen.
Die englische Armee bietet für den militärischen Beobachter ganz
besondres Interesse. Sie ist die einzige der Welt, die noch an
der alten Lineartaktik steif und starr festhält, insofern wenig-
stens, daß sie Kolonnen im Feuerbereich der Infanterie (ausge-
nommen im Defilegefecht) nie gekannt hat. Sie feuert nicht nur in
Linie, sie greift auch mit dem Bajonett nur in Linie an. Trotzdem
- oder vielleicht ebendeswegen - ist sie unleugbar diejenige
Armee, die die wenigsten Niederlagen erlitten hat. Es ist
jedenfalls der Mühe wert, die Kampfweise einer solchen Armee nä-
her zu untersuchen, namentlich jetzt, wo zum Erstaunen der ganzen
Welt das unmöglich Geglaubte möglich wird: daß England uns Deut-
schen mit Krieg droht.
I
Wir fangen natürlich mit der I n f a n t e r i e an. Der robur
peditum 1*) ist die Hauptstärke und der Hauptstolz der englischen
Armee. Seit William Napier ist es Glaubensartikel geworden in
ganz England, daß das Massenfeuer einer englischen Linie dem je-
der ändern Truppe überlegen, und daß das
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1*) Die Elite-Infanterie
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britische Bajonett unwiderstehlich ist, und wahr ist es, daß die
Engländer, wie freilich andere Leute auch, ihre Siege vor allem
der Infanterie verdanken.
Die englische Infanterie hat 3 Garderegimenter mit 7 Bataillonen,
109 Linienregimenter, wovon Nr. 1 bis 25 zwei Bataillone, Nr. 60
(Jäger) 4 Bataillone und die übrigen jedes nur ein Bataillon ha-
ben. Dazu die Jägerbrigade mit 4 Bataillonen, im ganzen 141 Ba-
taillone. Die Zahl der Bataillone im Linienregiment, ob eins oder
zwei, richtet sich lediglich nach dem Bedürfnis; sobald die Um-
stände es erlauben, werden die zweiten Bataillone der ersten 25
Regimenter sicher wieder aufgelöst. Das Avancement der Offiziere
geht auch im Regiment voran, woraus dann häufig fatale Störungen
entstehen, wenn z.B. wie jetzt beim 13.Regt, das erste Bataillon
in Jamaica, das andre in Neuseeland steht.
Als Reserve- und Elitetruppen gelten vor allem die Garden und die
acht hochschottischen Regimenter, die ihrem Ruf auch stets Ehre
gemacht haben. Als leichte Infanterie gelten 9 sogenannte
"leichte" und 5 "Füsilier"-Regimenter, doch unterscheiden sie
sich nur durch wenige Abzeichen von der Linie, und nur die 8 Jä-
gerbataillone sind wirkliche leichte Infanterie. Die Regimenter
Nr. 101 bis 109, ehemalige europäische Regimenter der Ostindi-
schen Kompanie, dienen nur in Indien.
Außer diesen 141 Bataillonen britischer Infanterie gibt es im In-
lande noch verschiedne Korps, auf die wir später zurückkommen,
und in den Kolonien:
In Nordamerika: 1 Bataillon und 2 Kompanien
britische Truppen 1350 Mann
In Westindien: 4 Bat. Neger und Mulatten 3700 "
Auf St. Helena: 1 britisches Bataillon 560 "
Auf Malta: eingeborne Festungsartillerie 640 "
Am Kap der Guten Hoffnung: berittene Jäger,
5/6 Hottentotten, 1/6 Europäer, meist
Deutsche und Schweizer 900 "
In Ceylon: 3 Bat. eingeborne Jäger 1460 "
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8610 Mann
Endlich in Indien die eingeborne Armee. 151 Bataillone mit im
ganzen an 110 000 Mann. Diese Truppen sind mit wenig Ausnahmen
von britischen Offizieren geführt und in ihrer ganzen Organisa-
tion der englischen Linie sehr ähnlich. Nur die indische Armee
hat aus der Zeit der Ostindischen Kompanie her noch manches Ei-
gentümliche; sie kennt z.B. den Stellenkauf nicht, wenigstens
nicht offiziell, obgleich indirekt ähnliche Dinge dort auch vor-
kommen.
#607# Die englische Armee
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Von der englischen Infanterie waren am 5. Februar d.J. in Indien
58 Bataillone, in China 3, auf Mauritius (Isle-de-France) 2, am
Kap 4, in Kanada und den übrigen nordamerikanischen Besitzungen
12, in Bermuda 1, Westindien 2, Neuseeland (wegen des Kriegs mit
den Eingebornen [321]) 10, Gibraltar 5, den Ionischen Inseln 4,
Malta 5, in England und auf der Heimfahrt 42. Von diesen letzte-
ren waren in London 6, im Lager von Aldershot [323] 9, in Ports-
mouth, Plymouth und Dover 10, in Jersey 1, im Innern von England
2, in Schottland 2, in Irland 10, auf der Rückreise 2. Man sieht
hier den mächtigen Beistand, den die Flotte der Armee gewährt;
ohne ihren Schutz und die raschen Transportmittel, die sie ge-
währt, wären diese schwachen Garnisonen bei weitem nicht ausrei-
chend. Wo aber die Flotte nur wenig Schutz gewähren kann, wie in
Indien und Kanada, da finden wir starke Besatzungen, und ebenso
in den strategischen Positionen im Mittelmeer, wo man sich auf
Kämpfe mit europäischen Truppen gefaßt machen muß.
Früher war es Regel, die Garden nur im Kriegsfall außer Landes zu
schicken; jetzt befinden sich indes zwei Bataillone in Kanada.
Die Gesamtstärke der aktiven Infanterie beträgt jetzt 133 500
Mann; also 884 Mann durchschnittlich per Bataillon, die in 10
Kompanien eingeteilt sind, jede mit einem Hauptmann, einem Lieu-
tenant und einem Fähnrich (ensign, gleich unserm Sekondelieu-
tenant). Außerdem hat jedes Bataillon, mit Ausnahme der Garden,
noch zwei Depotkompanien zur Einübung der Rekruten; 6 bis 8 die-
ser Depots werden in ein Depotbataillon vereinigt, deren es 23
gibt, in der Gesamtstärke von etwa 18 000 Mann. Diese Depots ste-
hen alle im Inlande, meist an oder nahe der See. Die Gesamtstärke
der englischen Infanterie ist also etwas über 150 000 Mann.
II
Die Offiziere rekrutieren sich aus allen gebildeten Klassen der
Nation. Viel theoretische Schulbildung wird von den Aspiranten
nicht verlangt; die vorgeschriebnen Examina machen Anforderungen,
über die ein preußischer Portepeefähnrich lächeln würde. Man
sucht indes mehr und mehr junge Leute aus der Militärschule zu
Sandhurst [323] in die Armee zu bringen, namentlich dadurch, daß
man denen, die das beste Examen machen, Fähnrichsstellen o h n e
K a u f überweist. Sprachkenntnisse werden nur wenige verlangt,
und dabei ist dem Aspiranten eine große Freiheit der Wahl zwi-
schen mehreren europäischen und indischen Sprachen gelassen; die
mathematischen
#608# Friedrich Engels
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Anforderungen sind äußerst niedrig; dagegen wird auf gute, klare,
einfache Ausdrucksweise in englischen Aufsätzen praktischer Art
weit mehr gesehn als bei uns, wo fast jede deutsche Armee ihr
apartes Deutsch schreibt, und nicht immer das Deutsch des gesun-
den Menschenverstandes. Daß man nicht nach politischen Meinungen
inquiriert, versteht sich in einem Lande von selbst, wo die bei-
den Hauptparteien in der Aristokratie fast gleich vertreten sind;
die größte Soldatenfamilie Englands, die Napiers, bestand und be-
steht fast aus lauter Radikalen. Im allgemeinen wird mehr auf
männlichen Charakter gesehn als auf Kenntnisse, und da der engli-
sche Offizier mit Sicherheit darauf rechnen kann, in alle Enden
der Welt kommandiert und bald ins Feuer geführt zu werden, so
kann man sich wohl denken, daß die englische Armee nicht in dem
Grade, wie manche andre, eine Versorgungsanstalt für Leute wird,
denen fast alle körperlichen und moralischen Eigenschaften zum
Soldaten fehlen. Dies letztere ist aber auch die Hauptgarantie
für ein gutes Offizierkorps; denn trotz aller obigen schönen Re-
geln existiert nirgends mehr Nepotismus und Familienbevorzugung
als in der englischen Armee. Ohne einflußreiche Verbindungen
kommt niemand in das Offizierkorps, und ohne Geld kommt niemand
voran, der nicht das Glück hat, daß sein Vormann im Gefecht er-
schossen wird. Allerdings gibt es auch hier ehrenvolle Ausnahmen;
ein gewisser Schuhmacherssohn aus Glasgow starb voriges Jahr als
Feldmarschall Lord Clyde, nachdem er das verlorne Indien wieder-
erobert hatte; aber der arme Colin Campbell hatte dafür auch
schon 1807 den Feldzug gegen Buenos Aires als Offizier mitmachen
müssen und war 1854, als er nach der Krim ging, erst Oberst. Und
ohne einen entfernten Verwandten, der ein Regiment kommandierte,
wäre er nie Offizier geworden.
Die englischen Offiziere bilden, namentlich im Lande selbst, ein
sehr exklusives Korps. Sie haben sogar, wie in Preußen, einen
eignen Dialekt oder vielmehr Akzent, und verkehren nur sehr wenig
mit den Bürgern ihrer Garnisonstädte. Zu dieser Abgeschlossenheit
trägt bei, daß die unverheirateten Offiziere in der Kaserne (d.h.
einem separaten Nebengebäude im Kasernenhof) wohnen und am ge-
meinsamen Offizierstisch teilnehmen müssen. In einem Lande, wo
die Armee in allen Strafsachen, die nicht streng militärischer
Natur sind, unter der bürgerlichen Gerichtsbarkeit steht, ist
dies Zusammenwohnen in der Kaserne eine Notwendigkeit. Die jungen
Offiziere werden für tolle Streiche draußen in der Stadt, welche
sie mit den Zivilbehörden in Kollision bringen könnten, streng
bestraft; dafür herrscht aber auch eine ziemlich große Freiheit
in der Kaserne selbst. Weiblicher Besuch aller Art geht aus und
ein, es wird tüchtig gezecht und gespielt, und
#609# Die englische Armee
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die jungen Herren spielen sich untereinander die derbsten Spaße
mit. Wenn sich ein Duckmäuser unter sie verläuft, desto schlimmer
für ihn. Vor einigen Jahren führten diese in einigen Regimentern
bis zum Exzeß getriebenen practical jokes 1*) zu skandalösen
Kriegsrechtsverhandlungen, und seitdem sind strenge Verordnungen
dagegen erlassen; in der Wirklichkeit aber werden derartige
Scherze meist ganz gern gesehn, nur muß eben der öffentliche
Skandal vermieden werden. Zum Offizierstisch steuert die Regie-
rung 25 Pfund Sterling per Kompanie jährlich bei; derselbe soll
anständig, aber sparsam gehalten werden und die unbemittelten Of-
fiziere nie in den Fall setzen, Ausgaben über ihre Kräfte hinaus
zu machen. Trotzdem aber ist Gelegenheit genug zum Geldausgeben
da, und die Wucherjuden reiten mit Wechseln und Ehrenscheinen
hier ebensoviel junge Offiziere ins Unglück wie anderswo.
Diese Lebensweise gibt dem äußeren Auftreten des englischen Offi-
ziers sein Gepräge. Gegenüber dem Zivil - obgleich er außer
Dienst fast immer Zivilkleider trägt - ist er meist vornehm zu-
rückhaltend; anmaßendes, vorlautes Wesen gegenüber Bürgerlichen
findet sich als Ausnahme wohl in Garnisonsstädten wie Portsmouth
oder in Schießschulen, wo viele Offiziere zusammen sind und den
Ton angeben. Im allgemeinen hat der Offizier zu beweisen, daß er
"ein Offizier und ein Gentleman" ist; er kann jeden Augenblick
vor ein Kriegsgericht gestellt, entlassen und selbst kassiert
werden "wegen eines für einen Offizier und Gentleman unpassenden
Betragens", und dies geschieht ohne alle Gnade, sobald ein Offi-
zier durch seine öffentliche Aufführung einen Skandal hervorgeru-
fen hat, es sei denn, er danke vorher freiwillig ab. Vertuschun-
gen öffentlicher Skandalgeschichten, wie solche in Deutschland
unsres Wissens vorgekommen sind, sind in England nicht möglich,
und der Geist der Armee kann dabei nur gewinnen.
Das Recht der Offiziere, außer Dienst Zivilkleider zu tragen, so
ungewohnt es uns Deutschen auch ist, hat doch seine sehr guten
Seiten, und daß es keineswegs ungünstig auf den militärischen
Geist der Offiziere einwirkt, beweist England hinlänglich. Übri-
gens ist zu bemerken, daß in den Hauptgarnisonsorten, wie
Chatham, Portsmouth usw., wo viel Dienst ist, die Offiziere auch
seltener in Zivil erscheinen.
Das Duell ist aus der englischen Armee gänzlich verschwunden. Das
letzte Duell zwischen zwei Offizieren fand vor zwanzig Jahren
zwischen zwei Schwägern, einem Major und einem Lieutenant, statt;
der Major fiel,
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1*) derben Späße
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der Lieutenant wurde wegen der vorhergegangenen unerhörten Provo-
kation von den Geschwornen freigesprochen. Die Ansichten von
Ehre, welche man - und niemand eifriger als Wellington selbst -
in dem englischen Offizierkorps durchgesetzt hat, beruhen auf der
Grundanschauung: daß derjenige, welcher einen ändern ohne Grund
beleidigt, sich selbst, nicht aber den Beleidigten, entehrt; und
daß er seine Ehre nur dadurch wiederherstellen kann, daß er sein
Unrecht, soweit es in seiner Kraft steht, wiedergutmacht. Wer
also einen Kameraden zuerst insultiert, fällt damit unter die An-
klage des eines Gentleman unwürdigen Betragens, wenn er sein Un-
recht nicht wiedergutmacht, oder wenn der Insult überhaupt der
Art ist, daß er nicht wiedergutgemacht werden kann; ein Kriegsge-
richt bringt die Sache bald in Ordnung. Diese Anschauungsweise
mag in gewissen Kreisen, besonders der preußischen Armee, be-
fremdlich genug erscheinen, sie hat aber sicher den gesunden Ver-
stand mehr auf ihrer Seite, als dies bei dem phantastisch über-
triebnen Duell-Point d'honneur 1*) mancher Leute der Fall ist.
Daß das militärische Ehrgefühl dabei ganz gut bestehen kann, be-
weisen die englischen Offiziere selbst, die in dieser Beziehung
keinen Vergleich zu scheuen haben.
Das Avancement geschieht im Regiment durchweg nach dem Dienstal-
ter, verbunden mit Stellenkauf, und zwar so: Sobald eine Vakanz
eintritt, hat der älteste Offizier des folgenden Grades die Wahl,
ob er sie kaufen will oder nicht; schlägt er sie aus, was nur bei
Mangel an Geldmitteln geschieht, so kommt der Zweitälteste an die
Reihe usw. Dieser Stellenkauf ist unbedingt eine der schlech-
testen Einrichtungen in der englischen Armee, ein Punkt, mit dem
ausländische Soldaten sich nie versöhnen werden. Die Sache bleibt
abgeschmackt und verwerflich, selbst wenn man alle die Mil-
derungsgründe gelten läßt, die die Engländer zu ihrer Vertei-
digung anführen: daß dadurch jüngere Offiziere rascher in höhere
Stellen rücken, daß es eine altüberkommene Einrichtung ist, die
schwer abzuschaffen ist, usw. Es ist und bleibt eine Schande für
die englische Armee, daß sie dies System nicht hat überwinden
können, und es schadet dem Geist des Offizierkorps unbedingt im
höchsten Grad, daß tüchtige Offiziere in niedern Graden versauern
müssen, weil sie eben nur ihre Gage, aber kein Kapital haben.
Der Preis eines Fähnrichs- (d.h. Unterlieutenants-) Patents ist
bei der Linien-Infanterie 450 Pfd. St. (3000 Taler); will der
Fähnrich zum Lieutenant avancieren, so muß er weitere 250 Pfd.
(1700 Tlr.) zahlen; für das Hauptmannspatent weitere 1100 Pfd.
(7030 Tlr.); Majorspatent weitere 1400 Pfd.
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1*) Ehrenduell
#611# Die englische Armee
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(9030 Tlr.); Oberstlieutenantspatent noch 1300Pfd. (8700 Tlr.).
Dies Patent ist also summa summarum 4540 Pfd. St. oder über 30
000 Taler wert, die der Besitzer auch von seinem Nachfolger zu-
rückerhält, sobald er zum Obersten avanciert. In der Garde und
der Kavallerie sind die Preise noch weit höher; in der Artillerie
und im Genie findet kein Stellenkauf statt. Stirbt der Offizier,
so ist das ganze angelegte Kapital verloren, und der nächste im
Dienstalter rückt ohne Kauf an seine Stelle. Vom Obersten an fin-
det kein Kauf mehr statt; jeder Oberstlieutenant, der 3 Jahre im
aktiven Dienst als solcher gestanden hat, wird von Rechts wegen
Oberst. Es ist bei Kassation verboten, mehr als den festgestell-
ten Preis für eine Offiziersstelle zu zahlen, doch geschieht dies
durchweg.
Da übrigens die Anforderungen zum Fähnrichsexamen gar keine mili-
tärischen Kenntnisse in sich schließen, so findet vor dem Aufrüc-
ken zum Lieutenant und Hauptmann noch ein besondres Examen statt,
das sich auf den praktischen Dienst, die Dienstvorschriften, die
Militärgesetzgebung und das Exerzitium beschränkt. Theoretische
Kenntnisse in der Taktik werden n i c h t verlangt.
Die Offiziere in der Garde haben höheren Rang; der Fähnrich den
des Lieutenants, der Lieutenant den des Hauptmanns, der Hauptmann
den des Oberstlieutenants. Dies setzt viel Ärger in der Linie.
Das Avancement von Unteroffizieren zu Offizieren kommt nur in
Ausnahmsfällen vor. In jedem Bataillon fällt die Hauptroutinear-
beit drei Offizieren zu: dem Adjutanten, dem Quartiermeister und
dem Zahlmeister. Zu diesen Posten werden daher häufig alte ver-
läßliche Unteroffiziere genommen, die dann auch nie über den ih-
nen gratis erteilten Lieutenantsrang hinausrücken. Sonst findet
Beförderung zum Offizier nur in seltnen Fällen statt für besondre
Auszeichnung vor dem Feinde. Der Charakter der englischen Werbe-
armee, der eine sehr starke Mischung von niedrigen und rohen Ele-
menten bedingt, der davon abhängige Ton unter der Truppe und die
dabei notwendige Art der Disziplin macht es nötig, daß die Offi-
ziere von vornherein einer höheren Gesellschaftsklasse angehören
als die Soldaten. Der Abstand zwischen Offizier und Soldat ist
daher in England größer als irgendwo anders. Daher ist die Beför-
derung von der Pike auf hier sehr erschwert und wird, solange ei-
nerseits der Stellenkauf und andrerseits das Werbsystem dauert,
immer nur seltne Ausnahme bleiben. Daß gebildete junge Leute als
Freiwillige in die Armee treten, um auf Avancement zu dienen, wie
dies in Preußen und Frankreich so häufig geschieht, kann in Eng-
land nicht vorkommen; der Charakter der Truppe ist eben der Art,
daß man allgemein glauben würde, der junge Mann habe aus ganz an-
dren
#612# Friedrich Engels
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Motiven, die er lieber verschweigt, zum Soldatenhandwerk gegrif-
fen. Es ist also ganz begreiflich, daß das englische Offi-
zierskorps fast ausschließlich aus Leuten besteht, die als
Gentlemen erzogen sind, und daß die Masse der Soldaten mehr Re-
spekt vor Offizieren hat, die schon von vornherein ihre
"natürlichen Vorgesetzten" sind, wie man in England sagt.
Dementsprechend ist auch der Ton, der zwischen Offizieren und
Soldaten herrscht, kalt und geschäftsmäßig. Die beiden Klassen
sind eben nur durch das Verhältnis des Befehlens und Gehorchens
miteinander verbunden. Es fallen weder Vertraulichkeiten und
Spaße noch Ausbrüche der Leidenschaft vor. Lob und Tadel werden
den Soldaten von den Offizieren nur selten direkt erteilt und
dann stets mit derselben ruhigen Geschäftsstimme. Dies bezieht
sich natürlich nur auf das dienstliche Verhältnis beim Exerzieren
usw.; unter der Hand können die englischen Offiziere fluchen 1*)
..., wovon ihre Burschen genug erzählen könnten.
Eine der englischen Armee ganz eigentümliche Einrichtung ist die,
wonach ein Offizier zweierlei Rang haben kann: einen niederen in
seinem Regiment und einen höheren in der Armee. Dieser zweite
Rang, wenn er permanent und unbedingt erteilt ist, heißt Brevet-
Rang. So kann ein Hauptmann in der Armee Brevet-Major oder Bre-
vet-Oberstlieutenant sein; es ist sogar schon vorgekommen
(namentlich bei Kommandeurs indischer irregulärer Truppen), daß
sie in ihrem Regiment nur Lieutenants, in der Armee aber Majore
waren. Ein solcher Hauptmann und Brevet-Major tut in seinem Regi-
ment Hauptmannsdienst, zählt aber für den Dienst in der Garnison
oder dem Lager als Stabsoffizier. Dieser höhere Rang kann auch
nur für eine gewisse Zeit oder für eine gewisse Kolonie oder
Kriegsschauplatz erteilt werden. So wurden in den letzten 10 Jah-
ren manche Obersten für die Dauer des Krimkriegs oder auch für
die Dauer ihres Aufenthalts in der Levante zu "Brigadier-Generä-
len" oder auch "General-Majors" ernannt, und ebenso in Indien. Es
ist dies System ein Mittel, trotz der Anciennität einzelne begün-
stigte oder besonders brauchbare Leute in höhere Stellungen zu
bringen; es hat aber, wie auf der Hand liegt, viele Unannehmlich-
keiten und Verwirrung zur Folge. Den Franzosen in der Krim konn-
ten die Engländer es nie begreiflich machen, daß ein Mann gleich-
zeitig Hauptmann und Major sein könne.
Im Avancement gilt die Regel, daß niemand Hauptmann werden kann,
der nicht mindestens zwei Jahre als Fähnrich und Lieutenant sei-
nen vollen Dienst getan, niemand Major, der nicht sechs Jahre Of-
fizier war.
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1*) Die folgenden zwei Worte sind unleserlich
#613# Die englische Armee
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Die militärische Ausbildung der Offiziere, welche nicht von der
Sandhurster Schule herkommen, geschieht in der Pelotons- und Kom-
panieschule ganz wie die der Soldaten; erst nach einem Examen vor
dem Bataillonskommandeur werden sie vom Exerzieren befreit und
zum Dienst als Offiziere zugelassen. Sämtliche Subaltern-Offi-
ziere eines Bataillons werden jährlich einmal, ehe der Frühjahrs-
Exerzierkursus des Bataillons beginnt, unter Befehl eines Stabs-
offiziers in einem Zug vereinigt und müssen in dieser Gestalt,
die Büchse in der Hand, die Mannes-, Pelotons- und Kompanieschule
vollständig durchexerzieren. Doch mag dies meist wohl nur sehr
oberflächlich geschehen.
III
Die Unteroffiziere und Soldaten werden bekanntlich durch Werbung
ergänzt, und zwar ausschließlich in Großbritannien und Irland.
Nur das 100. Regiment läßt in Kanada werben. Der Werbedienst
steht unter dem General-Adjutanten der Armee und wird auf dop-
pelte Weise betrieben: Erstens können die einzelnen Regimenter
und Depotbataillone in ihren eignen Garnisonen werben lassen.
Zweitens besteht unabhängig hiervon ein organisierter Werbedienst
über das ganze Land, für welchen Zweck er in neun Werbbezirke ge-
teilt ist (England 4, Schottland 2, Irland 3). Jeder Distrikt
steht unter einem inspizierenden Stabsoffizier (gewöhnlich Bre-
vet-Oberst) und wird nötigenfalls in kleinere Kreise unter Lieu-
tenants oder Hauptleuten geteilt. - Im ganzen werden für diesen
Dienst verwandt: 8 Stabsoffiziere, 9 Adjutanten, 9 Zahlmeister, 9
Ärzte, 11 rekrutierende Subaltern-Offiziere (auf Halbsold), 8
Feldwebel, 48 Sergeanten und eine angemessene Anzahl Soldaten.
Außerdem rekrutiert die Garde noch ausschließlich zu ihrer eignen
Ergänzung. Jeder Rekrut hat das Recht, sich das Korps zu wählen,
bei dem er eintreten will. Als frommer Wunsch wird ausgesprochen,
daß jedes Korps möglichst m derjenigen Grafschaft sich ergänzen
soll, deren Namen es trägt. Ausländer sollen nur mit besonderer
Erlaubnis angenommen werden, weshalb man sie häufig als
"Schotten" passieren läßt.
In Kriegszeiten muß die Miliz hauptsächlich als Pflanzschule für
die Linie dienen; auf eine jedesmal festzustellende Anzahl Leute,
die aus der Miliz in die Linie treten, erhält ein Offizier des
betreffenden Milizregiments ein Patent in der Linie. Während der
indischen Rebellion 1857 ging man sogar so weit, jedem damaligen
oder früheren Stabsoffizier, der 1000 Rekruten zusammenbrachte,
das Oberstlieutenants-Patent zu geben.
#614# Friedrich Engels
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Jeder Rekrut oder Kapitulant erhält seine volle Equipierung gra-
tis und ein Handgeld, das nach dem Bedarf an Rekruten wechselt,
das aber nie unter 1 Pfund, und sehr selten über 10 Pfund Ster-
ling (67 Tlr.) beträgt. Es ist auch für verschiedne Truppenteile
häufig verschieden; für die Genietruppen wird am meisten bezahlt,
da hier nur die besten Leute verwendbar sind. Das Handgeld wird
teilweise bei der Attestation, größtenteils aber erst beim Ein-
tritt ins Regiment und nach Annahme des Rekruten durch dessen
Chef ausbezahlt. Diese Attestation besteht darin, daß der Rekrut
nicht eher als 24 Stunden nach der Anwerbung vor den Polizeirich-
ter geführt wird und hier eidlich erklärt, daß er freiwillig ein-
getreten und daß seinem Eintritt in das Heer kein gesetzliches
Hindernis entgegenstehe.
Für die Kavallerie, Artilleriefahrer, Genietruppen, Train und für
die in Indien, China, Australien und St. Helena stehende Infante-
rie werden Rekruten im Alter von 18 bis 25 Jahren, für die übrige
Artillerie und Infanterie von 17 bis 25 Jahren angenommen. Die
Körpergröße ist festgestellt wie folgt:
Kavallerie; Gardekürassiere: 5' 10" bis 6' 1*)
Schwere Dragoner-Regimenter: 5' 8" bis 5' 11".
Mittlere Dragoner und Ulanen: 5' 7" bis 5' 9".
Husaren: 5' 6" bis 5' 8".
Artillerie; Kanoniere: Minimum 5' 7", wenn unter 18 Jahren, 5' 6"
Fahrer: 5' 4" bis 5' 6".
Handwerker: Minimum 5' 6".
Infanterie; Minimum Garde: 5' 8 1/2", Linie 5' 6".
Doch ist dies Minimum sehr variabel; jede ernsthafte Kriegsgefahr
zwingt die Regierung sofort, es herabzusetzen, und selbst der Um-
stand, daß durch Verkürzung der Dienstzeit von 12 auf 10 Jahre in
der nächsten Zeit sehr viele Soldaten frei werden, war hinrei-
chend, die Regierung vor wenigen Wochen zu veranlassen, das Mini-
mum für die Infanterie auf 5' 5" zu reduzieren. Im allgemeinen
wird auch hier, wie anderwo, das Maß immer mehr herabgesetzt, ob-
wohl begreiflicherweise bei einer Werbe-Armee man sich immer noch
durchschnittlich größere Soldaten verschaffen kann als bei allge-
meiner Dienstpflicht oder Konskription. Daß dies auch in England
der Fall ist, sieht man aus obigen Zahlen, die sich leicht auf
rheinisches Maß reduzieren lassen, wenn man bei 5' bis 5' 6",
2 1/4 Zoll und bei 5' 7" bis 6', 2 1/2" in Abzug bringt, was hin-
reichend genau ist.
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1*) 5 Fuß 10 Zoll bis 6 Fuß
#615# Die englische Armee
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Außer der Größe ist auch das Minimum des Brustumfangs bestimmt,
welches bei 5' 6" bis 5' 8", 33 Zoll; [5'] 8" bis [4'] 10", 34
Zoll; über 5' 10", 35 Zoll beträgt. Fahrkanoniere, Tramsoldaten
und Schützen müssen unter allen Umständen 34" Brustumfang haben.
Doch werden Fahrkanoniere auch dann angenommen, wenn sie diese
Bedingungen nicht vollständig erfüllen, dagegen mit Pferden umzu-
gehn gewohnt sind.
Zu Trommlern und Hornisten werden Knaben von mindestens 14 Jahren
mit Einwilligung ihrer Eltern angeworben. Sie erhalten kein Hand-
geld.
Die Dienstzeit beträgt 10 Jahre für die Infanterie, 12 für Kaval-
lerie, Artillerie, Genie und Train, nach deren Ablauf der Austre-
tende, wenn er noch tüchtig befunden wird, auf weitere 11 Jahre
in der Infanterie, 9 Jahre in den ändern Truppengattungen, kapi-
tulieren kann. Nach Ablauf dieser zweiten Kapitulation kann er
auf dreimonatliche Kündigung weiterdienen. Befindet sich das
Korps beim Ablauf der Dienstzeit im Auslande, so hat der die Sta-
tion kommandierende Offizier das Recht, sie bis zu zwei Jahren zu
verlängern.
Jeder Soldat von guter Führung erhält in der Regel die Erlaubnis,
sich freizukaufen. Die Loskaufsumme richtet sich nach der bereits
geleisteten und noch zu leistenden Dienstzeit, nach der Auffüh-
rung etc. und beträgt im Maximum in der Kavallerie 30 Pfd., in
der Infanterie 20 Pfd., für farbige Soldaten in den Kolonialkorps
12 Pfd.
Nach 21jährigem Dienst ist jeder Soldat pensionsberechtigt. Der
Betrag der Pension richtet sich nach der Dienstzeit, der Auffüh-
rung und den während des Dienstes erworbenen körperlichen Gebre-
chen; er ist für Soldaten und Unteroffiziere mindestens 8 Pence
(6 Sgr. 8 Pf.) und höchstens 3 Schul. 6 Pence (1 Tlr. 5 Sgr.)
täglich. Unter Umständen wird auch bei kürzerer Dienstzeit
Pension bewilligt.
Die Werbesergeanten mit ihren beigegebenen Soldaten halten sich
meist in den schlechteren Vierteln der großen Städte auf und be-
obachten hauptsächlich die Wirtshäuser. Oft auch ziehen sie, mit
Bändern an der Mütze, in Begleitung einiger Trommler und Pfeifer
in Prozession durch die Straßen, ziehen so eine Volksmenge an und
suchen darunter zu fischen. Findet sich das gesuchte Wild darun-
ter, so wird es baldmöglichst ins Wirtshaus gelockt, wo dann alle
Künste aufgeboten werden, dasselbe zur Annahme des symbolischen
Schillings zu bewegen, welche den Kontrakt festmacht. Hat der
neue Ruhmeskandidat diesen Schilling erst genommen, so kann er
sich gegen Zahlung eines "Schmerzensgeldes" (smart-money) von ei-
nem Pfd. St. vor dem Polizeirichter wieder frei machen. Das Ge-
setz schreibt zwar vor, daß der angehende Held nach Verlauf von
mindestens 24 Stunden nach der
#616# Friedrich Engels
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Anwerbung vor diesem Richter erklären muß, daß er freiwillig ein-
tritt und auf seinem Entschlüsse beharrt. Das Gesetz nimmt hier-
bei ganz richtig an, daß der Angeworbene in der Regel nicht nüch-
tern ist, wenn er den Schilling nimmt, und sucht ihm so Gelegen-
heit zu geben, erst wieder nüchtern zu werden. Es müßte aber ein
schlechter Werbesergeant sein, der sich sein Wild so leicht ent-
gehen ließe. Er und seine Leute lassen den Rekruten nicht aus den
Augen, und ehe er vor den Richter kommt, haben Schnaps und Bier
ihre Wirkung schon wieder hinreichend getan. Das Beste dabei ist,
daß ein großer Teil der Zeche gewöhnlich vom Rekruten selbst be-
zahlt wird, für den der Sergeant auf Rechnung des Handgelds flott
vorschießt. Unter diesen Umständen ist es naiv, aber richtig,
wenn ausdrücklich vorgeschrieben ist: Zum Rekrutierungsdienst
sollen nur unverheiratete Soldaten und Trommler, und nur im äu-
ßersten Notfall verheiratete Sergeanten, jedenfalls aber nur ge-
sunde, kräftige Leute genommen werden. Wer nicht gut zechen kann,
taugt für diesen Dienst nicht.
Man glaubt sich förmlich ins achtzehnte Jahrhundert zurückver-
setzt, wenn man diese Werberei sieht. Trotz der schützenden Förm-
lichkeiten, womit das Gesetz diese Praxis eingeschränkt hat,
steht es doch fest, daß weitaus der größte Teil der "ganz aus
Freiwilligen bestehenden englischen Armee" sehr unfreiwillig in
diese Anstalt gerät; ob im Durchschnitt zu seinem schließlichen
eignen Besten, ist eine andre Frage.
Welche Bestandteile der Nation auf diese Weise in die Armee kom-
men, ist einleuchtend genug. Das Heer bleibt in großem Maß, wie
unsre früheren Werbeheere, ein refugium peccatorum 1*), in dem
der größere und bessere Teil aller abenteuernden Elemente des
Volks sich zusammenfindet, um hier durch einen scharfen Exerzier-
kursus und eine sehr strenge Disziplin gebändigt zu werden. Die
englische Armee steht daher auch, was ihren moralischen und in-
tellektuellen Charakter angeht, weit unter allen denen, welche
durch Konskription (selbst mit Stellvertretung) oder gar durch
allgemeine Wehrpflicht ohne Stellvertretung gebildet werden. Nur
die französische Fremdenlegion [324] und die sonst hauptsächlich
durch Stellvertreter gebildeten französischen Korps, wie die Zua-
ven, können mit ihr auf ähnliche Linie gestellt werden; obwohl
sich nicht leugnen läßt, daß die ganze französische Armee durch
die steigende Begünstigung der Berufssoldaten in Reih und Glied
sich mehr und mehr dem Charakter der englischen nähert. Aber
selbst der französische Remplafant steht an gesellschaftlicher,
äußerlicher Bildung weit über den rohen wüsten Burschen aus dem
Abschaum
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1*) Zufluchtsort für Sünder
#617# Die englische Armee
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der großen Städte, welche in den englischen Kasernen den Ton an-
geben. In die französische Armee kann doch noch ein gebildeter
junger Mann als Freiwilliger eintreten, um auf Avancement zu die-
nen, ohne daß ihm die Prüfungszeit als gemeiner Soldat gar zu un-
erträglich vorkommt; in England müßte einer wahnsinnig sein, um
diesen Schritt zu tun. So stolz der Engländer auf seine Armee als
Ganzes ist, so verachtet ist noch immer der einzelne gemeine Sol-
dat; selbst in den unteren Volksschichten gilt es noch immer für
einigermaßen unrühmlich, sich anwerben zu lassen oder einen Sol-
daten zum Verwandten zu haben. Übrigens hat sich der Charakter
der Angeworbenen in den letzten zehn Jahren unleugbar sehr gebes-
sert. Man sucht über die Antezedenzien der Rekruten möglichste
Aufklärung sich zu verschaffen und entschieden schlechte Subjekte
fernzuhalten. Die starken Werbungen, die der Krimkrieg und die
indische Rebellion nötig machten, erschöpften bald die verkommene
Klasse, aus der sich das Heer während der langen Friedenszeit in
der Regel ergänzt hatte. Man mußte nicht nur das Maß herunterset-
zen (einmal bis auf 5' 3" für die Infanterie), sondern auch das
Soldatenleben anziehender machen und den Ton in den Kasernen zu
heben suchen, damit auch die solidere Arbeiterklasse in den Be-
reich der Werbung gezogen werden konnte. Der Mangel an tauglichen
Subjekten für die vielen neuen Unteroffiziersstellen (im Krim-
krieg wurden die Bataillone beinahe auf doppelte Stärke gesetzt)
kam noch dazu. Auch sah man ein, daß eine Kriegführung, wie die
Wellingtons in Spanien, mit obligater Plünderung aller erstürmten
Festungen, jetzt in Europa nicht mehr an der Zeit sei. Die Presse
nahm sich der Soldaten an, und bald wurde es Mode unter den höhe-
ren Offizieren, die Philanthropie auf die Truppen auszudehnen.
Man bemühte sich, den Soldaten das Leben angenehmer zu machen,
ihnen für die Mußestunden die Mittel zur Zerstreuung und Selbst-
beschäftigung in der Kaserne oder im Lager zu verschaffen und sie
von den Wirtshäusern fernzuhalten. So entstanden, besonders in
den letzten sieben Jahren, meist durch Privatsubskription, Bi-
bliotheken, Lesezimmer, Gesellschaftszimmer mit allerlei Spielen,
Soldatenklubs usw. In den Lagern wurde nach französischem Muster
den Soldaten, wo möglich, etwas Gartenland angewiesen, Versuche
mit theatralischen Vorstellungen und Vorlesungen gemacht und von
Zeit zu Zeit Ausstellungen von allerlei kleinen, von ihnen ver-
fertigten Kunstprodukten u.a. arrangiert. Alle diese Sachen sind
erst in der Kindheit, werden aber immer allgemeiner. Sie sind
auch durchaus nötig. Die Rekruten während der Feldzüge in der
Krim und in Indien standen unbedingt auf einer weit höheren Stufe
als die bisherigen, da beide Kriege bei den Massen sehr populär
waren. Sie haben den Ton in der
#618# Friedrich Engels
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Armee sehr gebessert. Die Berührung mit den französischen Solda-
ten in der Krim tat auch das ihrige. Es handelt sich jetzt darum,
diesen Geist zu erhalten, damit man auch während einer längeren
Friedenszeit ähnliche bessere Rekruten bekommt und nicht wieder
ausschließlich auf die im Frieden immer zuerst sich anbietenden,
vagabundierenden Elemente der Bevölkerung angewiesen bleibt.
Trotzdem bilden die letzteren immer noch den größeren Teil der
Truppe, und danach sind alle Einrichtungen getroffen. Eine engli-
sche Kaserne mit Nebengebäuden und Hof ist nach allen Seiten von
hohen Mauern umgeben, welche in der Regel nur ein Tor haben. Ein
separates Gebäude enthält die Offizierswohnungen, eins oder meh-
rere andre die der Soldaten. Wo das Soldatenquartier Fenster nach
der Straße hat, wird bei neueren Anlagen dieser Teil des Gebäudes
meist mit einem tiefen Graben und starken Eisenzaun am äußern
Grabenrand abgeschlossen. In großen Städten findet man, nament-
lich bei Milizkasernen, welche ein Zeughaus enthalten (die Miliz
ist bloß 4 Wochen im Jahr versammelt), die ganze Straßenfront des
Gebäudes mit Gewehrscharten statt Fenstern und die Flügelecken
mit für Gewehr-Flankierung eingerichteten kleinen Türmen versehen
- ein Beweis, daß man Arbeiteraufstände doch nicht für so unmög-
lich hält. In diesem großen Kasernengefängnis verbringt der Sol-
dat sein Leben mit Ausnahme seiner Freistunden. Der Zugang für
Bürgerliche wird streng überwacht, und das ganze Gebäude ist ge-
gen Einsicht von außen möglichst defiliert, so daß der Soldat
möglichst unter Kontrolle gehalten und von Zivilisten abgesondert
wird. Der gemütliche Verkehr zwischen Bürgern und Soldaten, der
in Deutschland so allgemein ist, die Leichtigkeit des Zutritts in
die Kaserne für jeden, fehlen hier gänzlich, und damit keine dau-
ernden Verbindungen geknüpft werden können, wechseln die Garniso-
nen in der Regel jährlich.
Die gewöhnlichsten Disziplinarvergehen lassen sich aus dem Cha-
rakter der Armee leicht erraten. Es sind Trunkenheit, Abwesenheit
nach dem Zapfenstreich ohne Erlaubnis, Diebstahl von Kameraden,
Schlägereien, Widersetzlichkeit und tätliches Vergreifen an Vor-
gesetzten. Die leichteren Vergehen straft der Bataillonskomman-
deur summarisch. Er hat ausschließliche Strafgewalt, doch kann er
den Kompaniechefs Strafgewalt bis zu drei Tagen Kasernenarrest
delegieren. Seine eigne Strafgewalt erstreckt sich auf: 1. Ge-
fängnis bis zu 7 Tagen, mit oder ohne Einzelhaft, mit oder ohne
Strafarbeit. Soldaten, die hierzu verurteilt werden, haben das
R e c h t, vom Bataillonschef an ein Kriegsgericht zu appellie-
ren. 2. Einsperrung in dunkler Zelle (black-hole) bis zu 48 Stun-
den. 3. Kasernenarrest bis zu
#619# Die englische Armee
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einem Monat, wobei der Arrestant allen Dienst und außerdem noch
alle ihm vom Kommandeur übertragnen Extra-Arbeiten verrichten
muß. Außerdem zieht jeder Kasernenarrest Strafexerzieren mit
vollem Gepäck bis zu 14 Tagen nach sich. Das Strafexerzieren soll
nie länger als eine Stunde auf einmal dauern, kann aber bis vier-
mal täglich wiederholt werden. In den Fällen ad 2 und 3 k a n n
der Kommandeur Appell an ein Kriegsgericht gestatten. Einsame
oder dunkle Einsperrung sollen möglichst für Fälle von Trunken-
heit, Schlägerei und Insolenz gegen Vorgesetzte aufgespart, und
können in schweren Fällen mit Kasernenarrest in der Weise kombi-
niert werden, daß die ganze Periode des Arrests einen Monat nicht
überschreitet.
Wie man sieht, hat ein englischer Bataillonschef Mittel genug in
Händen, unter seinen wilden Burschen Ordnung zu halten. Reichen
diese Mittel nicht hin, so schafft ein Kriegsgericht Rat, wo dann
in letzter Instanz dem rebellischen Gesellen die neunschwänzige
Katze winkt. Dies ist eins der barbarischsten Züchtigungswerk-
zeuge, welche es gibt: eine kurzstielige Peitsche mit neun lan-
gen, harten und knotigen Schnüren. Der Sträfling, bis auf die
Hüften nackt, wird in ein dreieckiges Gestell gebunden und die
Hiebe mit der äußersten Kraft erteilt. Schon der erste Hieb zer-
fetzt die Haut und holt Blut. Nach wenig Hieben wird Peitsche und
Peitschenführer gewechselt, damit dem Delinquenten ja nichts ge-
schenkt werde. Der Arzt steht natürlich immer dabei. Fünfzig sol-
cher Hiebe machen immer eine langwierige Kur im Lazarett nötig.
Und doch finden sich häufig Leute, die diese fünfzig ohne einen
Schmerzenslaut ertragen, weil es für eine größere Schande gilt,
den Schmerz zu zeigen als die Hiebe zu bekommen.
Bis vor zwölf Jahren wurde die Katze sehr häufig angewandt, und
es waren bis zu 150 Hieben gestattet. Wenn ich nicht irre, konnte
auch bis um dieselbe Zeit der Regimentskommandeur summarisch eine
gewisse Anzahl Hiebe erteilen lassen. Dann wurde die Zahl auf 50
Hiebe beschränkt und die Befugnis, sie zu diktieren, ausschließ-
lich den Kriegsgerichten überwiesen. Endlich, nach dem Knmkrieg,
wurde besonders auf Veranlassung des Prinzen Albert die preußi-
sche Einteilung der Soldaten in zwei Klassen [325] eingeführt und
bestimmt, daß nur Soldaten, welche bereits w e g e n f r ü h e-
r e r Vergehen in die zweite Klasse versetzt worden und sich
nicht durch ein Jahr tadelloser Dienstzeit wieder in die erste
Klasse aufgeschwungen hätten, für ein neues Vergehen körperlich
gezüchtigt werden können. Dieser Unterschied hört jedoch vor dem
Feind auf; hier wird wieder jeder gemeine Soldat der Peitsche
unterworfen. Im Jahre 1862 wurden in der Armee 126 Mann
körperlich gezüchtigt, wovon 114 die höchste gesetzliche Zahl von
50 Hieben erhielten.
#620# Friedrich Engels
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Im allgemeinen sieht man, daß sowohl das Bedürfnis wie die Lust,
die Peitsche anzuwenden, sehr abgenommen haben, und da dieselben
Ursachen in der Armee noch fortwirken, ist anzunehmen, daß dies
auch fernerhin der Fall sein und die Katze mehr und mehr als ein
exzeptionelles, äußerstes Schreckmittel gelten wird, das man für
schlimme Fälle vor dem Feind in Reserve hält. Man hat eben gese-
hen, daß der Appell an das Ehrgefühl der Soldaten mehr hilft als
entehrende Strafen, und darüber ist in der ganzen englischen Ar-
mee nur eine Stimme, daß ein gepeitschter Soldat nachher nie mehr
etwas wert ist. Trotzdem wird man in England sobald nicht zur
vollständigen Abschaffung der Katze kommen. Wir alle wissen, wie
stark die Vorurteile für körperliche Strafen gewesen sind und
teilweise noch sind, selbst in Armeen, die aus weit besseren so-
zialen Elementen bestehen als die englische; und bei einer Werbe-
armee hat ein solches äußerstes Schreck-Instrument noch am ehe-
sten seine Entschuldigung. Darin aber haben die Engländer sicher
recht, wenn einmal Körperstrafe sein soll, daß sie sie nur als
äußerstes Mittel, dann aber auch sehr ernsthaft, anwenden. Die
ewige Stockprügelei in gelindem Maßstabe, wie sie in manchen und
leider auch deutschen Armeen noch vorkommt, und die nur dazu die-
nen kann, die Furcht vor dieser Strafe abzuschwächen.. 1*)
Geschrieben Anfang 1864.
Nach der Handschrift.
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1*) Hier bricht die Handschrift ab
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