Quelle: Juli 1870 - Februar 1872


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       Das Schicksal von Metz
       
       ["The Pall Mall Gazette" Nr. 1771 vom 17. Oktober 1870]
       Wenn wir  den Nachrichten  aus Berlin  glauben sollen,  nimmt der
       preußische Generalstab  offenbar an,  daß Paris  vor Metz erobert
       werden wird. Aber diese Meinung stützt sich augenscheinlich eben-
       sosehr auf politische wie auf militärische Argumente. Die Unruhen
       innerhalb von  Paris, auf  die Graf  Bismarck wartet,  haben noch
       nicht begonnen;  aber Uneinigkeit und Bürgerkrieg sind ohne Zwei-
       fel zu  erwarten, sobald  die schweren  Belagerungsgeschütze über
       der Stadt  erdröhnen. Bisher  haben die  Pariser die Meinung, die
       das deutsche  Hauptquartier über  sie hegte,  Lügen gestraft, und
       vielleicht tun  sie dies bis zum Ende. Wenn dem so ist, wird sich
       die Ansicht, die Einnahme von Paris werde bis Ende des Monats er-
       folgen, mit  großer Sicherheit  als trügerisch erweisen, und Metz
       wird sich vor Paris ergeben müssen.
       Metz als Festung ist unvergleichlich stärker als Paris. Paris ist
       befestigt worden  unter der Voraussetzung, daß sich die ganze ge-
       schlagene französische  Armee, oder wenigstens ihr größerer Teil,
       dorthin zurückziehen  und die Verteidigung durch fortwährende An-
       griffe auf den Feind führen werde, der sich durch seine Versuche,
       den Platz einzuschließen, unvermeidlich an jedem Punkt der langen
       Linie, die  er zu besetzen hat, schwächen würde. Die Widerstands-
       kraft der  Befestigungswerke ist deshalb nicht sehr groß, und das
       ist ganz  natürlich. Vorsorge  zu treffen  für einen Fall, wie er
       jetzt durch  die Fehler der bonapartistischen Strategie eingetre-
       ten ist,  würde die  Kosten der  Befestigung zu  einer ungeheuren
       Summe gesteigert haben; die Zeit, um welche dadurch die Verteidi-
       gung hätte verlängert werden können, würde kaum vierzehn Tage be-
       tragen haben.  Überdies vermögen  Erdwälle, die, während oder vor
       der Belagerung  errichtet werden, die Werke bedeutend zu verstär-
       ken. Bei Metz liegen die Dinge ganz anders. Metz wurde der
       
       #138# Friedrich Engels
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       heutigen Generation von Cormontaigne und anderen großen Ingenieu-
       ren des vorigen Jahrhunderts als sehr starke Festung hinterlassen
       - stark in seinen Verteidigungswerken. Das Zweite Kaiserreich hat
       einen Ring aus sieben mächtigen detachierten Forts im Abstand von
       2r/2 bis  3 Meilen  vom Zentrum der Stadt hinzugefügt, um sie vor
       einem Bombardement selbst mit gezogenen Geschützen zu sichern und
       das Ganze in ein weites verschanztes Lager zu verwandeln, das nur
       Paris nachsteht.  Eine Belagerung  von Metz  würde  deshalb  eine
       recht langwierige  Operation sein,  auch wenn  die Stadt nur ihre
       normale Knegsgarnison  enthielte. Aber eine Belagerung angesichts
       der 100000 Mann, die jetzt von ihren Forts beschirmt werden, wäre
       fast unmöglich.  Das Gebiet, in dem die Franzosen noch die Herren
       sind, erstreckt sich auf volle zwei Meilen über die Befestigungs-
       linie hinaus;  sie auf  die Befestigungslinie zurückzutreiben, um
       das Gelände  zu erobern,  wo die  Gräben gezogen  werden  müßten,
       würde eine  Reihe von  Nahkämpfen erfordern,  wie man sie nur vor
       Sewastopol [55] gesehen hat. Angenommen, die Garnison werde durch
       die dauernden Kämpfe nicht demoralisiert und die Belagerer würden
       durch die großen Verluste an Menschenleben nicht geschwächt, dann
       könnte der  Kampf noch  manchen Monat dauern. Die Deutschen haben
       deshalb niemals  eine reguläre Belagerung versucht, sondern bemü-
       hen sich,  den Platz  auszuhungern. Eine  Armee von 100 000 Mann,
       dazu fast  60000 Einwohner  und zahlreiche  Landbevölkerung,  die
       hinter den  Forts Schutz  gesucht hat, muß früher oder später die
       Vorräte an  Proviant  erschöpfen,  wenn  die  Blockade  energisch
       durchgeführt wird; und noch bevor sich das ereignet, ist es sogar
       wahrscheinlich,  daß   die  Demoralisierung   der  Besatzung  die
       Übergabe  erzwingt.   Wenn  sich   eine  Armee   erst  vollkommen
       eingeschlossen sieht,  wenn alle Versuche, den Einschließungsring
       zu  durchbrechen,  fruchtlos  bleiben,  wenn  alle  Hoffnung  auf
       Entsatz von  außen abgeschnitten ist, wird selbst die beste Armee
       bei den  Leiden, Entbehrungen,  Mühen und  Gefahren,  die  keinem
       anderen  Zweck  zu  dienen  scheinen,  als  die  Ehre  der  Fahne
       hochzuhalten, allmählich  ihre Disziplin  und ihren  Zusammenhalt
       verlieren.
       Eine Zeitlang  haben wir  nach Symptomen  dieser  Demoralisierung
       vergeblich Ausschau  gehalten. Die  Proviantvorräte innerhalb der
       Stadt sind  weit beträchtlicher  gewesen, als  man vermutete, und
       dadurch war  es der  Armee von Metz ganz gut gegangen. Aber trotz
       der Fülle muß die Zusammenstellung der Vorräte schlecht sein, was
       ganz natürlich  ist, weil es nur verirrte Armeelieferungen waren,
       die zufällig  in der  Stadt zurückgeblieben  und niemals  für den
       Zweck bestimmt  waren, dem  sie jetzt  dienen. Die Folge ist, daß
       auf die Dauer die Kost der Soldaten nicht nur von der
       
       #139# Das Schicksal von Metz
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       gewohnten abweicht,  sondern direkt  ungesund wird;  sie ruft mit
       täglich zunehmender  Heftigkeit die  verschiedensten Erkrankungen
       hervor, da  die Ursuchen  von Tag  zu Tag  stärker wirken.  Diese
       Phase der Blockade scheint jetzt erreicht zu sein. Zu den Lebens-
       mitteln, die  in Metz  knapp sind, gehören Brot, die Hauptnahrung
       des französischen  Bauern, und Salz. Das letztere ist absolut un-
       entbehrlich, um  die Gesundheit zu erhalten; und da Brot fast die
       einzige Form  ist, in  der die Franzosen Stärke als fettproduzie-
       rende Nahrung  genießen, gilt  dasselbe für das Brot. Die Notwen-
       digkeit, die  Soldaten und Einwohner hauptsächlich mit Fleisch zu
       ernähren, soll Ruhr und Skorbut erzeugt haben. Ohne den Berichten
       der Überläufer  zu Hehr  zu trauen,  welche gewöhnlich das sagen,
       was ihrer Meinung nach dem Feinde gefällt, möchten wir doch glau-
       ben, daß  es stimmt,  weil es  unter den  gegebenen Umständen gar
       nicht anders  sein kann. Daß die Wahrscheinlichkeit der Demorali-
       sierung dadurch rasch zunimmt, ist selbstverständlich.
       Der sehr  befähigte Korrespondent  der "Daily  News" vor Metz be-
       richtet in  seiner Beschreibung  von Bazaines  Ausfall am  7. Ok-
       tober, nachdem  sich die  Franzosen in  den Dörfern  nördlich des
       Forts Saint-Eloy  (nördlich von  Metz, im  Moseltal)  festgesetzt
       hätten, sei  eine Truppenmasse  von wenigstens 30 000 Mann weiter
       rechts formiert worden und dicht am Fluß gegen die Deutschen vor-
       gerückt. Diese  Kolonne oder  Gruppe von  Kolonnen  halte  augen-
       scheinlich den  Auftrag, den Einschließungsring zu durchbrechen -
       eine Aufgabe, die höchste Entschlossenheit erforderte. Sie hätten
       direkt in  einen Halbkreis  von Truppen und Batterien unter deren
       konzentrischem Feuer  hineinmarschieren  müssen;  die  Heftigkeit
       dieses Feuers  mußte bis  zur direkten Berührung mit den feindli-
       chen Massen zunehmen und alsdann, sofern es den Franzosen gelang,
       den Feind  m die  Flucht zu  schlagen, erheblich geringer werden,
       während sie sich im Falle eines Rückzugs demselben Kreuzfeuer zum
       zweitenmal hätten  aussetzen müssen. Das muß den Soldaten bekannt
       gewesen sein;  außerdem wird  Bazaine für  diese höchste Kraftan-
       strengung seine  besten Truppen  eingesetzt haben. Indessen heißt
       es in  dem Bericht,  daß sie  gar nicht  bis in  den Bereich  des
       Schützenfeuers der  deutschen Hauptkräfte  gelangten. Ehe sie den
       kritischen Punkt  erreichten, hatte  das Feuer der Artillerie und
       der Vorpostenlinien  ihre Reihen aufgelöst: "Die dichten Kolonnen
       gerieten erst ins Wanken und brachen dann auseinander."
       Das ist  das erste Mal in diesem Kriege, daß wir solche Dinge von
       den Soldaten hören, die in Vionville, Gravelotte und bei späteren
       Ausfällen kaltem  Stahl und heißem Feuer tapfer genug Trotz gebo-
       ten haben.  Diese Unfähigkeit, auch nur zu versuchen, eine befoh-
       lene Aufgabe ernstlich
       
       #140# Friedrich Engels
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       durchzuführen, scheint  zu zeigen,  daß die  Armee von Metz nicht
       mehr das  ist, was  sie war. Diese Unfähigkeit deutet offenkundig
       zwar noch  nicht Demoralisierung  an, wohl  aber Entmutigung  und
       Hoffnungslosigkeit -  das Gefühl,  daß der  Versuch  doch  keinen
       Zweck habe. Von hier bis zur eigentlichen Demoralisierung sind es
       nur wenige  Schritte, besonders  bei französischen  Soldaten. Ob-
       gleich es  verfrüht wäre, aus diesen Anzeichen den schnellen Fall
       von Metz  vorauszusagen, so  würde es  uns doch überraschen, wenn
       wir nicht  bald mehr  Symptome entdeckten,  daß die  Verteidigung
       schwächer wird.
       Die Übergabe  von Metz  würde einen  weit geringeren moralischen,
       aber einen  weit größeren materiellen Einfluß auf den Verlauf des
       Krieges haben  als der  Fall von  Paris. Wird  Paris genommen, so
       wird Frankreich  vielleicht nachgeben,  aber das  wäre dann nicht
       nötiger als  gegenwärtig; denn der weitaus größere Teil der Trup-
       pen, die  jetzt Paris einschließen, wäre notwendig, die Stadt und
       ihre Umgebung  zu halten.  Es ist  daher mehr als zweifelhaft, ob
       den Deutschen  dann genug Mannschaften zur Verfügung stünden, bis
       nach Bordeaux  vorzurücken. Wenn  aber Metz kapitulierte, könnten
       sie über mehr als 200 000 Mann frei verfügen, und eine solche Ar-
       mee würde  bei dem  jetzigen Stand  der französischen Feldtruppen
       vollauf genügen,  um in  dem ungeschützten  Lande zu marschieren,
       wohin es  ihr gefällt,  und zu  tun, was ihr beliebt. Die weitere
       Besetzung des  Landes, die  durch die  beiden großen verschanzten
       Lager aufgehalten  wird, würde sofort beginnen, und alle Versuche
       zu einem  Guerillakrieg [78],  der gegenwärtig recht wirksam sein
       könnte, würden dann bald unterdrückt werden.

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