Quelle: Juli 1870 - Februar 1872
zurück
#56#
-----
Die Krise des Krieges
["The Pall Mall Gazette" Nr. 1722 vom 20. August 1870]
Der Kaiser hat die Armee verlassen, aber sein böser Geist ist bei
ihr zurückgeblieben, jener böse Geist, der in brennender Ungeduld
die Kriegserklärung übereilte und dann, als dies geschehen, unfä-
hig war, sich zu irgend etwas zu entschließen. Die Armee sollte
bis spätestens 20. Juli marschbereit sein. Der 20. Juli kam, und
nichts war geschehen. Am 29. übernahm Napoleon III. den Oberbe-
fehl in Metz; da war noch Zeit für einen fast unbehinderten Vor-
marsch bis zum Rhein; aber die Armee rührte sich nicht. Die Un-
schlüssigkeit scheint so groß gewesen zu sein, daß der Kaiser
nicht einmal zu bestimmen vermochte, ob man überhaupt angreifen
oder eine Verteidigungsstellung einnehmen solle. Die Spitzen der
deutschen Kolonnen marschierten bereits aus allen Richtungen auf
die Pfalz zu, und jeden Tag konnte man ihren Angriff erwarten.
Dennoch blieben die Franzosen in ihren Stellungen an der Grenze,
in Stellungen, die für einen Angriff bestimmt waren, der niemals
unternommen wurde, und gänzlich ungeeignet für die Verteidigung,
die bald ihr einziger Ausweg werden sollte. Die Unschlüssigkeit,
die vom 29. Juli bis zum 5. August dauerte, war charakteristisch
für den ganzen Feldzug. Das französische Heer war dicht an der
Grenze aufgestellt worden, ohne daß die Vorhut in dem richtigen
Abstand vor die Haupttruppen vorgeschoben worden wäre. Es gab nur
zwei Wege, diesen Fehler zu beheben: Die Vorhut konnte entweder m
Feindesland vorstoßen oder aber in ihrer gegenwärtigen Stellung
an der Grenze bleiben, während die Haupttruppen einen Tagesmarsch
weiter zurück näher zusammengezogen werden konnten. Der erste
Plan würde jedoch zu Zusammenstößen mit dem Feind unter Verhält-
nissen geführt haben, die außerhalb der Kontrolle des Kaisers ge-
standen hätten; der zweite Plan dagegen hätte die politische Un-
möglichkeit eines Rückzugs vor der ersten Schlacht einbegriffen.
#57# Die Krise des Krieges
-----
So dauerte die Unschlüssigkeit fort, und es wurde überhaupt
nichts getan, gerade als ob sich der Feind davon anstecken lassen
und ebenfalls auf ein Vorgehen verzichten werde. Aber der Feind
ging vor. Bereits einen Tag bevor alle seine Truppen die Front
erreicht hatten, am 4. August, beschloß er, die fehlerhafte Auf-
stellung der Franzosen auszunutzen. Die Schlacht bei Weißenburg
zog alle Korps Mac-Mahons und de Faillys noch weiter vom Zentrum
der französischen Stellungen ab. Als am 6. August die Deutschen
nun vollständig bereitstanden, schlug ihre Dritte Armee die sechs
Divisionen Mac-Mahons bei Wörth und trieb ihn mit de Faillys bei-
den übriggebliebenen Divisionen über Zabern nach Luneville. In-
zwischen schlug die Vorhut der Ersten und der Zweiten Armee die
Truppen Frossards und einen Teil der Truppen Bazaines bei Spi-
chern. Dadurch wurde das ganze Zentrum und der linke Flügel der
Franzosen auf Metz zurückgeworfen. So lag ganz Lothringen zwi-
schen den beiden zurückgehenden französischen Armeen; und in
diese weite Bresche ergoß sich die deutsche Kavallerie und hinter
ihr die Infanterie, um den gewonnenen Vorteil so gut wie möglich
auszunützen. Der Kronprinz ist getadelt worden, weil er Mac-
Mahons geschlagene Armee nicht bis nach Zabern und darüber hinaus
verfolgte. Aber nach der Schlacht bei Wörth wurde die Verfolgung
in der geschicktesten Weise durchgeführt. Sobald die geschlagenen
Truppen so weit nach Süden getrieben worden waren, daß sie den
Rest der französischen Armee nur auf einem Umweg wieder erreichen
konnten, marschierten die Verfolger geradewegs nach Nancy und
hielten sich beständig zwischen den beiden Armeen. Daß diese Art
der Verfolgung (dieselbe wie die Napoleons I. nach der Schlacht
bei Jena [37]) wenigstens ebenso wirksam ist wie ein direkter
Marsch hinter den Fliehenden her, zeigt sich jetzt in den Ergeb-
nissen. Was noch von diesen acht Divisionen übriggeblieben ist,
ist entweder von den Haupttruppen abgeschnitten oder ist im Zu-
stand vollständiger Auflösung zu ihnen gestoßen.
Soviel über die Folgen der Unschlüssigkeit, die den Beginn des
Feldzuges kennzeichnete. Man dürfte eigentlich erwarten, daß der-
selbe Fehler nicht noch einmal begangen wird. Der Kaiser hatte
den Oberbefehl an Marschall Bazaine abgetreten. Marschall Bazaine
dürfte wohl gewußt haben, daß, was er auch tat oder unterließ,
der Feind kein Gras unter seinen Füßen wachsen lassen würde.
Die Entfernung zwischen Forbach und Metz beträgt nicht ganz fünf-
zig Meilen. Die meisten Korps hatten weniger als dreißig Meilen
zurückzulegen. In drei Tagen würden sie sicher den Schutz von
Metz erreicht haben, und am vierten Tage konnte der Rückzug nach
Verdun und Châlons
#58# Friedrich Engels
-----
begonnen werden, denn über die Notwendigkeit dieses Rückzugs
konnten keine Zweifel mehr bestehen. Die acht Divisionen Mac-
Mahons und die zwei übrigen Divisionen des Generals Douay - mehr
als ein Drittel der Armee - konnten sich unmöglich an einem nähe-
ren Punkt als Châlons mit Bazaine vereinigen. Bazaine hatte zwölf
Divisionen, einschließlich der Kaiserlichen Garde, so daß er
selbst nach der Vereinigung mit drei Divisionen von Canrobert
mitsamt Kavallerie und Artillerie nicht mehr als 180 000 Mann ha-
ben konnte - eine Armee, die für ein Treffen auf dem Schlachtfeld
völlig ungenügend war. Wenn er also nicht beabsichtigte, ganz
Frankreich dem eindringenden Feinde preiszugeben und sich selbst
an einem Ort einschließen zu lassen, wo die Hungersnot ihn bald
zwingen würde, sich zu ergeben oder unter vom Feinde diktierten
Umständen zu kämpfen - so durfte er nicht einen Augenblick zö-
gern, sich sofort aus Metz zu entfernen. Doch er rührt sich nicht
von der Stelle. Am 11. August erscheint die deutsche Kavallerie
bei Lunéville; er aber gibt noch immer kein Zeichen zum Aufbruch.
Am 12. setzen die Deutschen über die Mosel, requirieren in Nancy;
sie zerstören die Eisenbahn zwischen Metz und Frouard, sie zeigen
sich in Pont-à-Mousson. Am 13. besetzt ihre Infanterie Pont-à-
Mousson, und sie beherrschen nunmehr beide Ufer der Mosel. End-
lich am Sonntag, dem 14. August, beginnt Bazaine, seine Truppen
auf das linke Ufer überzusetzen. Es entwickelt sich das Gefecht
bei Fange, durch das der Rückzug offensichtlich wiederum
verzögert wird. Wir dürfen vermuten, daß am Montag der wirkliche
Rückzug auf Châlons damit begonnen wurde, daß man den schweren
Train und die Artillerie m Marsch setzte. Aber an jenem Montag
befand sich die deutsche Kavallerie bereits jenseits der Maas in
Commercy und in Vigneulles, also in zehn Meilen Entfernung von
der französischen Rückzugslinie. Wieviele Truppen am Montag und
am Dienstag morgen abmarschierten, können wir nicht sagen; aber
es scheint sicher, daß die Haupttruppen noch zurück waren, als
das deutsche III. Korps und die Reservekavallene die marschie-
renden Kolonnen in der Nähe von Mars-la-Tour am Dienstag, dem 16.
August, gegen neun Uhr morgens angriffen. Das Ergebnis ist
bekannt: Bazames Rückzug wurde wirksam aufgehalten. Seine eigenen
Telegramme vom 17. August beweisen, daß er im besten Falle nur
die Stellung behauptete, die hinter sich zu lassen sein einziger
Wunsch war.
Am Mittwoch, dem 17. August, scheinen sich die beiden Armeen eine
Atempause gegönnt zu haben. Aber am Donnerstag wurde jede Hoff-
nung Bazaines auf ein Gelingen seines Rückzugs endgültig zer-
stört. Die Preußen griffen ihn an jenem Morgen an, und nach neun-
stündiger Schlacht
#59# Die Krise des Krieges
-----
"war die französische Armee vollständig geschlagen, von ihren
Verbindungen mit Paris abgeschnitten und gegen Metz zurückgewor-
fen " [38].
An jenem Abend oder am folgenden Tage muß die Rheinarmee die Fe-
stung wieder bezogen haben, die sie Anfang der Woche verlassen
hatte. Ist sie erst einmal dort eingeschlossen, so wird es für
die Deutschen leicht sein, alle Zufuhren abzuschneiden, und das
um so eher, als das Land durch die lange Anwesenheit von Truppen
bereits vollständig erschöpft ist und die einschließende Armee
selbstverständlich für ihren eigenen Gebrauch alles Erreichbare
requirieren wird. So muß der Hunger Bazaine bald zu einer Bewe-
gung zwingen, aber in welcher Richtung, ist schwer zu sagen. Ei-
ner Bewegung nach Westen wird sich sicher eine große Übermacht
entgegenstellen; eine Bewegung nach Norden ist äußerst gefähr-
lich; ein Durchbruch nach Südosten könnte vielleicht teilweise
gelingen, würde aber ohne jeden unmittelbaren Erfolg sein. Selbst
wenn er Belfort oder Besançon mit einer desorganisierten Armee
erreichte, könnte er keinen nennenswerten Einfluß auf das Schick-
sal des Feldzugs ausüben. Dies ist die Lage, in die die Unschlüs-
sigkeit in der zweiten Phase des Feldzugs die französische Armee
gebracht hat. Ohne Zweifel ist dies der Regierung in Paris genau
bekannt. Die Rückberufung der Mobilgarde von Châlons nach Paris
beweist das. Von dem Augenblick an, da Bazaines Hauptkräfte abge-
schnitten sind, hat die Stellung von Châlons, die nur ein Sammel-
punkt war und nichts weiter, jede Bedeutung verloren. Der nächste
Sammelpunkt für alle Streitkräfte ist jetzt Paris, und dorthin
müßte sich nun alles bewegen. Es gibt keine Streitkräfte, die auf
dem Schlachtfeld der deutschen Dritten Armee, welche jetzt wahr-
scheinlich auf die Hauptstadt marschiert, Widerstand leisten
könnten. Binnen kurzem werden die Franzosen sich in der Praxis
davon überzeugen können, ob die Befestigungen von Paris das wert
sind, was sie gekostet haben.
Obgleich diese Endkatastrophe seit Tagen drohte, ist es bis heute
kaum möglich, sich vorzustellen, daß es tatsächlich soweit gekom-
men ist. Die Wirklichkeit übertraf jede Erwartung. Vor zwei Wo-
chen spekulierten die Engländer über die möglichen Folgen, die
ein Sieg der französischen Armee in der ersten großen Schlacht
nach sich ziehen würde. Sie befürchteten besonders, daß ein sol-
cher Anfangserfolg Napoleon III. als Vorwand zu einem schnellen
Frieden auf Kosten Belgiens dienen werde. In dieser Hinsicht wur-
den sie schnell beruhigt. Die Schlachten bei Wörth und Forbach
zeigten, daß die französischen Warfen keinen theatralischen Tri-
umph zu erwarten hatten. Der Beweis, daß Deutschland nichts von
Frankreich zu befürchten hat, schien ein baldiges Ende des
Krieges zu versprechen. Man dachte, die
#60# Friedrich Engels
-----
Zeit müsse bald kommen, wo die Franzosen zugeben würden, daß der
Versuch, dem Zusammenschluß Deutschlands unter Preußens Führung
entgegenzuwirken, mißlungen sei, daß es infolgedessen nichts mehr
gebe, wofür sie kämpfen müßten, während die Deutschen kaum Wert
darauf legen würden, den gefahrvollen und Ungewissen Krieg wei-
terzuführen, nachdem das Zugeständnis, das sie erzwingen wollten,
bereits erreicht worden war. Die ersten fünf Tage dieser Woche
haben die gesamte Lage der Dinge wiederum verändert. Die militä-
rische Macht Frankreichs ist allem Anschein nach gänzlich ver-
nichtet worden, und im Augenblick scheint es für den deutschen
Ehrgeiz keine Grenze zu geben, außer der zweifelhaften Schranke
deutscher Mäßigung. Wir können vorläufig noch nicht die politi-
schen Ergebnisse dieser furchtbaren Schlappe abschätzen. Wir kön-
nen nur erstaunt sein über ihr Ausmaß, darüber, daß sie so über-
raschend eintrat, und bewundern, wie sie von den französischen
Truppen ertragen worden ist. Daß sie nach viertägigem, fast unun-
terbrochenem Kampf unter den entmutigendsten Bedingungen, die es
nur geben kann, am fünften Tag dem Angriff eines weitaus überle-
genen Gegners neun Stunden lang Widerstand leisteten, stellt ih-
rem Mut und ihrer Entschlossenheit das denkbar beste Zeugnis aus.
Niemals, selbst nicht in ihren glorreichsten Feldzügen, hat die
französische Armee mehr wahren Ruhm gewonnen als in ihrem un-
glücklichen Rückzug von Metz.
zurück