Quelle: Juli 1870 - Februar 1872
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Über den Krieg - XIV
["The Pall Mall Gazette" Nr. 1731 vom 31. August 1870]
Die Deutschen sind wieder einmal für Mac-Mahon zu schnell gewe-
sen. Die Vierte Armee, unter dem Kronprinzen Albert von Sachsen,
die wenigstens zwei Armeekorps (die preußische Garde und das XII.
oder Königlich Sächsische Korps), wenn nicht mehr, umfaßt, ist
plötzlich zur Maas vorgestoßen, hat sich Übergänge irgendwo zwi-
schen Stenay und Verdun gesichert und ihre Kavallerie hinüberge-
schickt. Die Argonnenpässe sind in ihrer Hand. In Ste-Menehould
nahmen sie am Donnerstag 1*) 800 Mobilgardisten gefangen, und am
Sonnabend schlugen sie eine französische Kavalleriebrigade bei
Buzancy. Auf ihrem Wege machten sie letzten Donnerstag einen
starken Erkundungsvorstoß auf Verdun; aber nachdem sie festge-
stellt hatten, daß die Festung zu ihrem Empfang bereit war, be-
standen sie nicht darauf, sie mit größeren Kräften anzugreifen.
In der Zwischenzeit, und zwar am 22. und 23. August, hatte Mac-
Mahon Reims mit einer Armee verlassen, die nach französischen Be-
richten 150 000 Mann stark, wohl ausgerüstet und mit Artillerie,
Munition und Vorräten gut versehen war. Er war bis zum Abend des
25. nicht weiter gekommen als bis nach Rethel, ungefähr dreiund-
zwanzig Meilen von Reims entfernt. Wie lange er dort blieb und
wann er es verließ, ist uns nicht genau bekannt. Aber das Kaval-
lenegefecht bei Buzancy, das etwa zwanzig Meilen weiter an der
Straße nach Stenay liegt, beweist, daß sogar am Sonnabend seine
Infanterie dort noch nicht eingetroffen war. Diese Langsamkeit
der Bewegung steht in starkem Gegensatz zu der Regsamkeit der
Deutschen. Ohne Zweifel ist das in großem Ausmaß durch die Zusam-
mensetzung seiner Armee bedingt, die entweder aus mehr oder weni-
ger demoralisierten Truppen besteht oder aus Neuaufstellungen, in
denen junge Rekruten überwiegen;
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1*) 25. August 1870
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einige davon sind sogar bloße Freiwilligenkorps mit vielen Nicht-
berufsoffizieren. Es ist klar, daß diese Armee weder die Diszi-
plin noch den Zusammenhalt der alten "Rheinarmee" haben kann und
daß es fast unmöglich ist, 120 000 bis 150 000 Mann dieser Art
sowohl schnell als auch in voller Ordnung zu bewegen. Hinzu kommt
noch der Train. Die große Masse des schweren Trains der Rheinar-
mee war sicherlich am 14. und 15. aus Metz entkommen, aber man
kann sich vorstellen, daß sie nicht in der allerbesten Verfassung
war; es ist anzunehmen, daß ihr Munitionsvorrat und der Zustand
ihrer Pferde viel zu wünschen übrigließen. Schließlich kann als
selbstverständlich angenommen werden, daß sich die französische
Intendantur seit Kriegsbeginn nicht gebessert hat und infolgedes-
sen die Versorgung einer großen Armee in einem äußerst armen
Landstrich keine einfache Sache sein wird. Aber selbst wenn wir
auf all diese Hindernisse weitestgehend Rücksicht nehmen, müssen
wir doch außerdem in Mac-Mahons Zaudern ein deutliches Zeichen
von Unentschlossenheit sehen. Sein nächster Weg zur Entsetzung
Bazaines war - nachdem er den direkten Weg über Verdun einmal
aufgegeben hatte - der über Stenay, und diese Richtung schlug er
ein. Aber ehe er über Rethel hinauskam, muß er erfahren haben,
daß die Deutschen die Maasübergänge besetzt hatten und daß die
rechte Flanke seiner Kolonnen auf der Straße nach Stenay nicht
sicher war. Diese Schnelligkeit des deutschen Vormarschs scheint
seine Pläne vereitelt zu haben. Wir erfahren, daß er am Freitag
noch in Rethel war, wo er neue Verstärkungen aus Paris erhielt,
und daß er beabsichtigte, am nächsten Tag nach Mézières zu mar-
schieren. Da wir keine authentischen Nachrichten von wichtigen
Gefechten haben, erscheint dies sehr wahrscheinlich. Das würde
zugleich die fast völlige Aufgabe seines Plans zur Entsetzung Ba-
zaines bedeuten; denn ein Marsch durch den schmalen französischen
Landstreifen zwischen Mézières und Stenay auf dem rechten
Maasufer würde große Schwierigkeiten und Gefahren mit sich brin-
gen, erneut eine Verzögerung verursachen und seinem Gegner aus-
reichend Zeit geben, ihn von allen Seiten einzuschließen. Jetzt
kann schon kein Zweifel mehr daran bestehen, daß für diesen Zweck
genügend Streitkräfte der Armee des Kronprinzen nordwärts ge-
schickt worden sind. Alles, was man über den Aufenthalt der Drit-
ten Armee hört, weist auf eine nordwärts gerichtete Bewegung über
die drei dazu geeignetsten großen Straßen: Épernay-Reims-Rethel,
Châlons bis Vouziers und Bar-le-Duc-Varennes-Grand-Pré. Daß das
Gefecht von Ste-Menehould von Bar-le-Duc aus gemeldet wurde,
macht es sogar wahrscheinlich, daß es ein Teil der Dritten Armee
war, der die Mobilgarde schlug und die Stadt besetzte.
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Aber was kann Mac-Mahons Absicht sein, wenn er wirklich auf Mé-
zières marschiert? Wir zweifeln daran, daß er selber eine klare
Vorstellung davon hat, was er zu tun beabsichtigt. Wir wissen
jetzt, daß ihm dieser Marsch nordwärts wenigstens bis zu einem
gewissen Grade durch die Unbotmäßigkeit seiner Leute aufgezwungen
wurde, die über den "Rückzug" aus dem Lager von Châlons nach
Reims murrten und ziemlich energisch verlangten, gegen den Feind
geführt zu werden. Der Marsch zur Entsetzung Bazaines wurde dar-
aufhin angetreten. Am Ende der Woche konnte sich Mac-Mahon wohl
davon überzeugen, daß seine Armee nicht die für einen direkten
Marsch nach Stenay notwendige Beweglichkeit hätte und er besser
daran täte, die für den Augenblick sicherere Straße über Mézières
einzuschlagen. Das würde zweifelsohne die beabsichtigte Entset-
zung Bazaines hinausschieben und vielleicht undurchführbar ma-
chen; aber hatte denn Mac-Mahon selbst jemals fest an seine Fä-
higkeit geglaubt, dies zu erreichen ? Wir bezweifeln es. Der
Marsch nach Mézières konnte auf jeden Fall den feindlichen Marsch
auf Paris verzögern, den Parisern mehr Zeit geben, ihre Verteidi-
gung zu vollenden und Zeit schaffen für die Aufstellung von Re-
servearmeen hinter der Loire und bei Lyon. Und konnte sich Mac-
Mahon nicht im Notfall längs der Nordgrenze hinter den dreifachen
Festungsgürtel zurückziehen und prüfen, ob es dort nicht ein
"Festungsviereck" gebe? Solche mehr oder weniger unbestimmte Ge-
danken mögen Mac-Mahon, der allerdings durchaus kein Stratege zu
sein scheint, veranlaßt haben, eine zweite falsche Bewegung zu
machen, nachdem er sich einmal in einer ersten verstrickt hatte.
So sehen wir die letzte Armee, die Frankreich m diesem Krieg im
Felde hat und wahrscheinlich haben wird, freiwillig m den eigenen
Untergang marschieren, vor dem sie nur die gröbsten Fehler des
Feindes retten können. Aber dieser Feind hat bis jetzt noch kei-
nen einzigen Fehler begangen.
Wir sagen: die letzte Armee, die Frankreich in diesem Krieg wahr-
scheinlich im Felde haben wird. Mit Bazaine ist nicht zu rechnen,
wenn ihn Mac-Mahon nicht entsetzen kann, was mehr als zweifelhaft
ist. Mac-Mahons Armee wird im besten Fall zerstreut in die Fe-
stungen an der Nordgrenze gelangen, wo sie unschädlich sein wird.
Die Reservearmeen, von denen jetzt gesprochen wird, werden aus
Neuausgehobenen bestehen, vermischt mit einer gewissen Anzahl al-
ter Soldaten, und unvermeidlich zum größten Teil nicht von Be-
rufsoffizieren geführt werden; sie werden mit Waffen aller Arten
ausgerüstet sein; sie werden im Gebrauch der Hinterlader vollkom-
men unausgebildet sein, was bedeutet, daß ihre Munition ver-
braucht ist, bevor sie wirklich gebraucht wird, mit einem Wort,
sie
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werden für das Feld ungeeignet und nur brauchbar zur Verteidigung
von Festungen sein. Während die Deutschen nicht nur ihre Batail-
lone und Schwadronen wieder auf ihre volle Stärke gebracht haben,
sondern auch weiterhin Landwehrdivision auf Landwehrdivision nach
Frankreich schicken, sind die französischen vierten Bataillone
noch nicht vollständig. Nur Sechsundsechzig dieser vierten Ba-
taillone haben sich zu "régiments de marche" 1*) formiert und
sind entweder nach Paris oder zu Mac-Mahon geschickt worden; die
übrigen vierunddreißig waren vor einigen Tagen noch nicht marsch-
bereit. Die Armeeorganisation versagt überall. Eine edle und tap-
fere Nation sieht alle ihre Anstrengungen zur Selbstverteidigung
unwirksam werden, weil sie es zwanzig Jahre lang hingenommen hat,
daß ihre Geschicke von einer Abenteurerclique geleitet wurden,
die Verwaltung, Regierung, Heer, Marine - tatsächlich ganz
Frankreich - zu ihrer persönlichen Bereicherungsquelle machte.
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1*) "Marschregimentern"
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