Quelle: März 1875 - Mai 1883


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       #254#
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       Friedrich Engels
       
       Die Trade-Unions
       
       I
       
       ["The Labour Standard" Nr. 4 vom 28. Mai 1881, Leitartikel]
       In unserer letzten Ausgabe 1*) betrachteten wir die Tätigkeit der
       Trade-Unions, insoweit  sie das  ökonomische Lohngesetz gegen die
       Unternehmer durchsetzen.  Wir kehren zu diesem Thema zurück; denn
       es ist von höchster Wichtigkeit, daß die Arbeiterklasse es in ih-
       rer Gesamtheit von Grund aus verstehe.
       Wir nehmen  an, kein englischer Arbeiter unserer Tage muß darüber
       belehrt werden,  daß es ebenso im Interesse des einzelnen Kapita-
       listen wie  der gesamten  Kapitalistenklasse liegt,  die Löhne so
       weit wie  möglich zu  senken. Das  Arbeitsprodukt wird, wie David
       Ricardo unwiderleglich  nachgewiesen hat,  nach Abzug aller Unko-
       sten in  zwei Teile  geteilt: Der eine bildet den Lohn des Arbei-
       ters, der  andere den  Profit des Kapitalisten. Da nun das Netto-
       produkt der  Arbeit in  jedem einzelnen  Fall eine gegebene Größe
       darstellt, ist  es klar, daß der eine Teil, Profit genannt, nicht
       zunehmen kann,  ohne daß der andere Teil, Lohn genannt, sich ver-
       ringert. Zu  bestreiten, daß  es im  Interesse  des  Kapitalisten
       liegt, die  Löhne zu senken, wäre gleichbedeutend mit der Behaup-
       tung, daß  es nicht  in seinem  Interesse liege, seinen Profit zu
       steigern.
       Wir wissen  sehr gut,  daß es  andere  Mittel  gibt,  den  Profit
       vorübergehend zu  steigern; sie ändern aber das allgemeine Gesetz
       nicht und brauchen daher hier von uns nicht beachtet zu werden.
       Wie können  nun aber  die Kapitalisten die Löhne senken, wenn die
       Lohnhöhe durch  ein klares,  genau bestimmtes ökonomisches Gesetz
       geregelt wird? Das ökonomische Lohngesetz existiert und ist unwi-
       derleglich.
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       1*) Siehe vorl. Band, S. 251-253
       
       #255# Die Trade-Unions
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       Aber es  ist, wie  wir gesehen haben, elastisch, und zwar in dop-
       pelter Hinsicht.  Der Lohn  kann in  einem einzelnen Gewerbezweig
       gesenkt werden  - entweder  direkt, durch  schrittweise Gewöhnung
       der Arbeiter dieses Gewerbes an einen niedrigeren Lebensstandard,
       oder indirekt,  durch Verlängerung des Arbeitstages (oder Steige-
       rung der  Arbeitsintensität während  derselben Arbeitszeit)  ohne
       Lohnerhöhung.
       Das Interesse  jedes einzelnen  Kapitalisten, seinen Profit durch
       Senkung des Lohns seiner Arbeiter zu steigern, erhält einen neuen
       Antrieb durch  die Konkurrenz  der Kapitalisten ein und desselben
       Produktionszweigs untereinander.  Jeder von  ihnen ist  bestrebt,
       seine Konkurrenten  zu unterbieten,  und wenn  er  seinen  Profit
       nicht opfern  will, muß  er versuchen,  den Lohn  zu senken.  Auf
       diese Weise  wird der Druck auf den Lohn, hervorgerufen durch das
       Interesse jedes einzelnen Kapitalisten, infolge ihrer gegenseiti-
       gen Konkurrenz  verzehnfacht. Was vorher eine Frage größeren oder
       geringeren Profits  war, wird jetzt zu einer Frage der Notwendig-
       keit.
       Gegenüber diesem  ständigen, unaufhörlichen Druck hat die unorga-
       nisierte Arbeiterschaft  keine wirksamen  Mittel des Widerstands.
       Darum zeigt der Lohn in Produktionszweigen, in denen die Arbeiter
       nicht organisiert sind, eine ständig sinkende Tendenz und die Ar-
       beitszeit eine  ständig steigende  Tendenz. Langsam  aber  sicher
       schreitet dieser  Prozeß fort.  Zeiten der  Prosperität mögen ihn
       hier und da unterbrechen, Zeiten schlechten Geschäftsgangs jedoch
       beschleunigen ihn  nachher wieder um so mehr. Die Arbeiter gewöh-
       nen sich nach und nach an einen immer niedrigeren Lebensstandard.
       Während die  Arbeitszeit eine Tendenz zur Verlängerung zeigt, nä-
       hern die  Löhne sich  immer mehr  ihrem absoluten Minimum - jener
       Summe, unterhalb derer es für den Arbeiter völlig unmöglich wird,
       zu leben und sein Geschlecht fortzupflanzen.
       Eine vorübergehende  Ausnahme hiervon gab es um den Beginn dieses
       Jahrhunderts. Die sich rasch ausdehnende Anwendung von Dampfkraft
       und Maschinen  reichte für die noch schneller wachsende Nachfrage
       nach ihren  Produkten nicht aus. In diesen Produktionszweigen war
       der Lohn  in der  Regel hoch, mit Ausnahme des Lohns von Kindern,
       die vom  Arbeitshaus an den Fabrikanten verkauft wurden; der Lohn
       für  qualifizierte  Handarbeit,  ohne  die  man  nicht  auskommen
       konnte, war  sehr hoch; was ein Färber, ein Mechaniker, ein Samt-
       scherer, ein  Spinner an  der Hand-Mule  damals  erhielt,  klingt
       heute märchenhaft.  Zur selben  Zeit waren  die  Gewerbe,  welche
       durch Maschinen  verdrängt wurden,  zum langsamen  Absterben ver-
       urteilt. Neuerfundene Maschinen verdrängten aber allmählich diese
       gutbezahlten Arbeiter;  es wurden  Maschinen erfunden,  mit denen
       Maschinen
       
       #256# Friedrich Engels
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       hergestellt wurden, und zwar in einem solchen Ausmaß, daß das An-
       gebot maschinell  hergestellter Waren  die  Nachfrage  nicht  nur
       deckte, sondern  sogar überstieg. Als durch den allgemeinen Frie-
       den im  Jahre 1815  der regelmäßige  Handelsverkehr  wiederherge-
       stellt wurde,  nahmen die Zehnjahreszyklen von Prosperität, Über-
       produktion und  Krise ihren Anfang. Alle Vorteile, welche die Ar-
       beiter aus  früheren Prosperitätsperioden gerettet und vielleicht
       während der Periode stürmischer Überproduktion sogar noch vergrö-
       ßert hatten,  wurden ihnen  jetzt, in der Zeit des schlechten Ge-
       schäftsgangs und der Krise, wieder entrissen; und bald war die in
       den Fabriken  arbeitende Bevölkerung Englands dem allgemeinen Ge-
       setz unterworfen,  nach dem der Lohn der unorganisierten Arbeiter
       ständig dem absoluten Minimum zustrebt.
       Inzwischen jedoch  waren auch die 1824 legalisierten Trade-Unions
       auf den  Plan getreten, und das war die höchste Zeit. Die Kapita-
       listen sind immer organisiert. In den meisten Fällen brauchen sie
       keinen formellen  Verband, keine Statuten, keine Funktionäre etc.
       Ihre im Vergleich zu den Arbeitern geringe Zahl, der Umstand, daß
       sie eine  besondere Klasse  bilden, ihr ständiger gesellschaftli-
       cher und  geschäftlicher Verkehr  untereinander machen  das alles
       überflüssig; erst später, wenn ein Industriezweig in einem Gebiet
       vorherrschend  geworden  ist,  wie  zum  Beispiel  die  Baumwoll-
       industrie in Lancashire, wird eine formelle Trade-Union der Kapi-
       talisten notwendig.  Die Arbeiter dagegen können von allem Anfang
       an nicht ohne starke Organisation mit genau festgelegten Statuten
       auskommen, die  ihren Einfluß durch Funktionäre und Komitees aus-
       übt. Durch das Gesetz von 1824 wurden diese Organisationen legal.
       Seit jenem  Tage ist die Arbeiterschaft in England eine Macht ge-
       worden. Die  Masse war  jetzt nicht  länger hilflos  und in  sich
       selbst gespalten wie früher. Zu der Stärke, die ihr Koalition und
       gemeinsames Handeln  verliehen, kam  bald die  Kraft einer  wohl-
       gefüllten Kasse  - des  "Widerstandsgeldes", wie der bezeichnende
       Ausdruck unserer  französischen Brüder lautet. Die ganze Sachlage
       änderte sich  jetzt. Für  den Kapitalisten wurde es eine riskante
       Sache, den Lohn zu senken oder die Arbeitszeit zu verlängern.
       Daher die  Wutausbrüche der  Kapitalistenklasse jener  Zeit gegen
       die Trade-Unions.  Diese Klasse hatte ihre langgeübte Praxis, die
       Arbeiterklasse zu schinden, stets als gesetzlich verbrieftes Vor-
       recht betrachtet.  Dem sollte  nun Einhalt  geboten werden.  Kein
       Wunder, daß  die Kapitalisten in heftiges Geschrei ausbrachen und
       sich in  ihren Rechten  und in ihrem Besitz mindestens ebensosehr
       beeinträchtigt fühlten  wie die  irischen Landlords  unserer Tage
       [165].
       
       #257# Die Trade-Unions
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       Sechzig Jahre  Kampferfahrung haben  sie etwas  einsichtiger  ge-
       macht. Die  Trade-Unions sind  jetzt eine  anerkannte Einrichtung
       geworden, und  ihre Funktion als mitbestimmender Faktor bei Lohn-
       regelungen ist  in demselben  Maße anerkannt wie die Funktion der
       Fabrikgesetze [166] als bestimmende Faktoren bei der Regelung der
       Arbeitszeit. Ja,  die Baumwollfabrikanten in Lancashire sind neu-
       erdings sogar  bei den  Arbeitern in die Schule gegangen und ver-
       stehen es  jetzt, einen Streik zu organisieren, wenn das in ihrem
       Interesse liegt,  und zwar  ebensogut oder besser als jede Trade-
       Union.
       So ist es also eine Folge des Wirkens der Trade-Unions, daß gegen
       den Widerstand  der Unternehmer das Lohngesetz durchgesetzt wird,
       daß die  Arbeiter jedes  gut organisierten  Gewerbezweigs in  der
       Lage sind,  wenigstens annähernd,  den vollen Wert ihrer Arbeits-
       kraft zu erhalten, die sie dem Unternehmer vermieten, und daß mit
       Hilfe von  Staatsgesetzen die Arbeitszeit wenigstens nicht allzu-
       sehr jene Höchstdauer überschreitet, über die hinaus die Arbeits-
       kraft vorzeitig  erschöpft wird.  Das ist aber auch das Höchstmaß
       dessen, was für die Trade-Unions, wie sie gegenwärtig organisiert
       sind, überhaupt  erreichbar ist, und auch das nur unter ständigen
       Kämpfen, mit  ungeheurem Verschleiß  an Kraft  und Geld; und dann
       machen die  Konjunkturschwankungen, alle  zehn  Jahre  mindestens
       einmal, das  Errungene im  Handumdrehen wieder  zunichte, und der
       Kampf muß  von neuem  durchgefochten werden. Das ist ein verhäng-
       nisvoller Kreislauf,  aus dem  es kein Entrinnen gibt. Die Arbei-
       terklasse bleibt,  was sie  war und als was unsere chartistischen
       Vorväter sie  rundheraus bezeichneten - eine Klasse von Lohnskla-
       ven. Soll  dies das  Endergebnis von  soviel  Arbeit,  Selbstauf-
       opferung und  Leiden sein?  Soll dies  für immer das höchste Ziel
       der englischen  Arbeiter bleiben?  Oder soll  die  Arbeiterklasse
       hierzulande  nicht  endlich  versuchen,  diesen  verhängnisvollen
       Kreis zu durchbrechen und einen Ausweg aus ihm zu finden in einer
       Bewegung für  die   A b s c h a f f u n g   d e s    L o h n s y-
       s t e m s  ü b e r h a u p t?
       Nächste Woche  werden wir  die Rolle  untersuchen, die die Trade-
       Unions als Organisatoren der Arbeiterklasse spielen.
       
       II
       
       ["The Labour Standard" Nr. 5 vom 4. Juni 1881, Leitartikel]
       Wir haben bisher die Funktionen der Trade-Unions nur insoweit be-
       trachtet, als sie zur Regelung der Lohnhöhe beitragen und dem Ar-
       beiter in
       
       #258# Friedrich Engels
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       seinem Kampf  gegen das Kapital wenigstens einige Mittel sichern,
       mit denen  er sich zur Wehr setzen kann. Mit diesem Gesichtspunkt
       jedoch ist unser Thema nicht erschöpft.
       Wir sprachen  vom Kampf  des Arbeiters  gegen das Kapital. Dieser
       Kampf existiert, was immer die Apologeten des Kapitals auch dage-
       gen sagen mögen. Er wird existieren, solange eine Lohnsenkung das
       sicherste und bequemste Mittel zur Steigerung des Profits bleibt,
       ja darüber  hinaus, solange  das Lohnsystem  überhaupt existieren
       wird. Das bloße Vorhandensein von Trade-Unions beweist diese Tat-
       sache zur  Genüge; wenn  sie nicht zum Kampf gegen die Übergriffe
       des Kapitals  geschaffen worden sind, wozu sind sie dann geschaf-
       fen? Es hat keinen Zweck, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Durch
       keine noch  so schönen  Worte kann die häßliche Tatsache verdeckt
       werden, daß die gegenwärtige Gesellschaft im wesentlichen in zwei
       große, antagonistische  Klassen gespalten  ist -  auf  der  einen
       Seite die Kapitalisten, denen alle Produktionsmittel gehören, auf
       der anderen  Seite die  Arbeiter, die nichts besitzen als die ei-
       gene Arbeitskraft.  Das Arbeitsprodukt  der letztgenannten Klasse
       muß zwischen  beiden Klassen  geteilt werden, und gerade um diese
       Teilung tobt ununterbrochen der Kampf. Jede Klasse versucht einen
       möglichst großen Anteil zu erlangen; und das seltsamste an diesem
       Kampfe ist,  daß die  Arbeiterklasse, obwohl sie nur um einen An-
       teil an ihrem eigenen Produkt kämpft, oft genug beschuldigt wird,
       sie beraube eigentlich den Kapitalisten!
       Ein Kampf  zwischen zwei  großen Gesellschaftsklassen wird jedoch
       unvermeidlich zu  einem politischen Kampf. So war es mit dem lan-
       gen Kampf  zwischen der  Mittel- oder  Kapitalistenklasse und der
       Grundbesitzeraristokratie; so  ist es auch mit dem Kampf zwischen
       der Arbeiterklasse  und eben  diesen Kapitalisten. In jedem Kampf
       von Klasse  gegen Klasse  ist das  unmittelbare Ziel,  um das ge-
       kämpft wird, die politische Macht; die herrschende Klasse vertei-
       digt ihre  politische Vorherrschaft, das heißt ihre sichere Mehr-
       heit in  den gesetzgebenden  Körperschaften;  die  untere  Klasse
       kämpft zuerst  um einen  Anteil an  dieser Macht,  später um  die
       ganze Macht,  um in  die Lage  zu kommen, die bestehenden Gesetze
       entsprechend ihren eigenen Interessen und Bedürfnissen zu ändern.
       So kämpfte  die Arbeiterklasse  Großbritanniens jahrelang leiden-
       schaftlich und  sogar unter  Anwendung von  Gewalt für die Volks-
       Charte [167] die ihr diese politische Macht geben sollte; sie er-
       litt eine  Niederlage, aber  der Kampf  hatte auf  die siegreiche
       Mittelklasse einen  solchen Eindruck  gemacht, daß  diese seitdem
       schon froh  war, um  den Preis  immer neuer Zugeständnisse an das
       werktätige Volk, einen längeren Waffenstillstand zu erkaufen.
       
       #259# Die Trade-Unions
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       Nun ist  in einem  politischen Kampf  von Klasse gegen Klasse die
       Organisation die wichtigste Waffe. Und in demselben Maße, wie die
       bloß politische,  die chartistische Organisation zerfiel, in dem-
       selben Maße  wurde die  Organisation der Trade-Unions immer stär-
       ker, bis  sie jetzt eine solche Stärke erreicht hat, daß sich mit
       ihr keine ausländische Arbeiterorganisation vergleichen kann. Ei-
       nige wenige  große Trade-Unions,  ein bis zwei Millionen Arbeiter
       umfassend und  von den  kleineren oder  lokalen Verbänden  unter-
       stützt, stellen  eine Macht dar, mit der jede Regierung der herr-
       schenden Klasse, gleichviel ob Whig oder Tory, rechnen muß.
       Entsprechend den  Traditionen ihrer  Entstehung  und  Entwicklung
       hierzulande haben sich diese mächtigen Organisationen bisher fast
       ausschließlich auf die Funktion beschränkt, bei der Lohn- und Ar-
       beitszeitregelung mitzuwirken und die Abschaffung offen arbeiter-
       feindlicher Gesetze  zu erzwingen.  Wie bereits gesagt, taten sie
       dies mit geradesoviel Erfolg, wie sie mit Recht erwarten durften.
       Sie erreichten  aber noch  mehr: Die  herrschende Klasse, die die
       Stärke der Trade-Unions besser kennt als diese selbst, machte ih-
       nen aus  freien Stücken  Zugeständnisse, die noch darüber hinaus-
       gingen. Die  Ausdehnung des  Wahlrechts  auf  alle  Haushaltungs-
       vorstände 11681  durch Disraeli  gab mindestens dem größeren Teil
       der organisierten  Arbeiterklasse das  Stimmrecht. Hätte  er  das
       vorgeschlagen, wenn  er nicht  angenommen hätte,  daß diese neuen
       Wähler einen  eigenen Willen  äußern - daß sie künftig nicht mehr
       liberalen Politikern  der Mittelklasse  ihre  Führung  überlassen
       würden? Wäre  er imstande  gewesen, das  durchzusetzen, wenn  das
       werktätige Volk bei der Leitung seiner riesigen Gewerkschaftsver-
       bände nicht  die Fähigkeit zu administrativer und politischer Ar-
       beit bewiesen hätte?
       Gerade  diese   Maßnahme  eröffnete  neue  Perspektiven  für  die
       Arbeiterklasse. Sie  verschaffte ihr in London und in allen Indu-
       striestädten die  Mehrheit und setzte sie damit in den Stand, den
       Kampf gegen  das Kapital  mit neuen  Waffen zu  führen, indem sie
       Männer ihrer  eigenen Klasse  ins Parlament  entsandte. Aber  wir
       müssen leider  sagen, daß  die Trade-Unions hier ihre Pflicht als
       Vorhut der  Arbeiterklasse vergessen haben. Die neue Waffe befin-
       det sich  jetzt seit  mehr als  zehn Jahren in ihren Händen, aber
       sie haben  sie kaum  jemals aus  der Scheide gezogen. Sie sollten
       nicht vergessen,  daß sie  die Stellung, die sie heute innehaben,
       nicht auf die Dauer halten können, wenn sie nicht wirklich an der
       Spitze der  Arbeiterklasse marschieren.  Es ist geradezu widerna-
       türlich, daß  die englische  Arbeiterklasse, obwohl sie die Kraft
       besitzt, vierzig oder fünfzig Arbeiter ins Parlament zu schicken,
       sich für  ewig damit zufriedengeben sollte, sich von Kapitalisten
       oder
       
       #260# Friedrich Engels
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       ihren Handlangern, wie Rechtsanwälten, Redakteuren etc. vertreten
       zu lassen.
       Überdies sind  eine Menge Anzeichen dafür vorhanden, daß die eng-
       lische Arbeiterklasse  zu dem  Bewußtsein erwacht,  geraume  Zeit
       einen falschen  Weg gegangen zu sein; daß die gegenwärtigen Bewe-
       gungen, ausschließlich  für höhere Löhne und kürzere Arbeitszeit,
       sie in  einen verhängnisvollen Kreis bannen, aus dem es kein Ent-
       rinnen gibt;  daß das  Grundübel nicht  in den  niedrigen  Löhnen
       liegt, sondern  im Lohnsystem selbst. Diese Erkenntnis, einmal in
       der Arbeiterklasse  allgemein verbreitet,  muß die  Stellung  der
       Trade-Unions wesentlich  ändern. Sie werden nicht länger das Vor-
       recht genießen, die einzigen Organisationen der Arbeiterklasse zu
       sein. Neben  den Verbänden in den einzelnen Industriezweigen oder
       über ihnen  muß ein  Gesamtverband, eine  politische Organisation
       der Arbeiterklasse als Ganzes entstehen.
       Demnach  täten   die  Trade-Unions   gut  daran,   zweierlei   zu
       berücksichtigen: Erstens,  daß die  Zeit rasch  herannaht, da die
       Arbeiterklasse hierzulande mit nicht mißzuverstehender Stimme ih-
       ren vollen  Anteil an  der Vertretung  im Parlament fordern wird;
       zweitens, daß  ebenso rasch  die Zeit herannaht, da die Arbeiter-
       klasse begreifen wird, daß der Kampf für hohe Löhne und kurze Ar-
       beitszeit und  die ganze Tätigkeit der Trade-Unions in ihrer jet-
       zigen Form  nicht Selbstzweck,  sondern Mittel ist, ein sehr not-
       wendiges und  wirksames Mittel, aber doch nur eines von verschie-
       denen Mitteln  zu einem höheren Ziel: der Abschaffung des Lohnsy-
       stems überhaupt.
       Für die  vollgültige Vertretung  der Arbeiterschaft  im Parlament
       sowie für die Vorbereitung zur Abschaffung des Lohnsystems werden
       Organisationen, nicht  einzelner Industriezweige, sondern der Ar-
       beiterklasse in  ihrer Gesamtheit notwendig sein. Und je eher sie
       auf den  Plan treten,  desto besser.  Es gibt  keine Macht in der
       Welt, die  der englischen  Arbeiterklasse auch nur einen einzigen
       Tag widerstehen könnte, wenn sie sich in ihrer Gesamtheit organi-
       siert.
       Geschrieben um den 20. Mai 1881.
       
       Aus dem Englischen.

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