Quelle: März 1875 - Mai 1883
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Friedrich Engels
Eine Arbeiterpartei
["The Labour Standard" Nr. 12 vom 23. Juli 1881, Leitartikel]
Wie oft sind wir nicht schon von Freunden und Sympathisierenden
gewarnt worden: "Haltet euch die Parteipolitik vom Leibe!" Und
sie hatten vollkommen recht, soweit es sich dabei um die gegen-
wärtige englische Parteipolitik handelt. Ein Arbeiterorgan darf
weder für die Whigs noch für die Tories sein, weder für die Kon-
servativen noch für die Liberalen, es darf nicht einmal radikal
im heutigen Parteisinn des Wortes sein. Konservative, Liberale,
Radikale - sie alle vertreten nur die Interessen der herrschenden
Klassen und die verschiedenen Schattierungen der Ansichten, die
unter den Grundbesitzern, Kapitalisten und Kleinhändlern vorherr-
schen. Wenn sie die Arbeiterklasse vertreten, vertreten sie sie
ganz bestimmt falsch und schlecht. Die Arbeiterklasse hat, poli-
tisch wie sozial, ihre eigenen Interessen. Wie sie für das ein-
tritt, was sie als ihre sozialen Interessen betrachtet, das zeigt
die Geschichte der Trade-Unions und der Bewegung für die Ver-
kürzung der Arbeitszeit. Ihre politischen Interessen aber über-
läßt sie fast völlig den Tories, Whigs und Radikalen, Angehörigen
der oberen Klasse; und seit nahezu einem Vierteljahrhundert hat
sich die Arbeiterklasse Englands damit begnügt, sozusagen das An-
hängsel der "Großen Liberalen Partei" zu bilden.
Eine solche politische Haltung ist der am besten organisierten
Arbeiterklasse Europas nicht würdig. In anderen Ländern waren die
Arbeiter weit aktiver. Deutschland hat seit über zehn Jahren eine
Arbeiterpartei (die Sozialdemokraten), die über zehn Sitze im
Reichstag verfügt und Bismarck durch ihr Wachstum derart in
Schrecken versetzt hat, daß er zu jenen berüchtigten Unterdrüc-
kungsmaßnahmen griff, von denen wir an anderer Stelle berichten
1*). Aber trotz Bismarck macht die Arbeiterpartei ständige Fort-
schritte; so eroberte sie erst vorige Woche sechzehn Sitze im
Mannheimer Stadtrat
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1*) Siehe vorl. Band, S. 280-282
#278# Friedrich Engels
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und einen im sächsischen Landtag. In Belgien, Holland und Italien
ist man dem deutschen Beispiel gefolgt; in jedem dieser Länder
gibt es eine Arbeiterpartei, wenngleich der Wahlzensus dort zu
hoch ist, als daß sie derzeit Aussicht auf die Entsendung von Ab-
geordneten in die gesetzgebenden Körperschaften hätten» In
Frankreich ist der Aufbau der Arbeiterpartei gerade jetzt in
vollem Gange; sie hat bei den letzten Wahlen in mehreren Munizi-
palräten die Mehrheit errungen und wird bei den allgemeinen Kam-
merwahlen im nächsten Oktober zweifellos eine Anzahl Sitze er-
obern. Selbst in Amerika, wo der Übergang aus der Arbeiterklasse
in die der Farmer, Kaufleute oder Kapitalisten noch immer ver-
hältnismäßig leicht ist, halten die Arbeiter es für notwendig,
sich zu einer unabhängigen Partei zusammenzuschließen. Überall
kämpft der Arbeiter um die politische Macht, um die direkte Ver-
tretung seiner Klasse in den gesetzgebenden Körperschaften -
überall, nur in Großbritannien nicht.
Und dennoch war in England noch nie so weit wie heute das Bewußt-
sein verbreitet, daß die alten Parteien dem Untergang geweiht,
die alten Schibboleths sinnlos geworden sind, daß die alten Lo-
sungen sich überlebt, die alten Universalmittel ihre Wirkung ver-
loren, haben. Vernünftige Männer aus allen Klassen beginnen ein-
zusehen, daß ein neuer Weg beschritten werden muß, und daß dieser
Weg nur in der Richtung der Demokratie liegen kann. In England
jedoch, wo die industrielle und landwirtschaftliche Arbeiter-
klasse die überwältigende Mehrheit des Volkes bildet, bedeutet
Demokratie nicht mehr und nicht weniger als die Herrschaft der
Arbeiterklasse. Laßt die Arbeiterklasse sich vorbereiten für die
Aufgabe, die ihrer harrt - auf die Herrschaft über das große Bri-
tische Reich; laßt sie die Verantwortung erkennen, die ihr unver-
meidlich, zufallen wird. Und der beste Weg hierzu ist, die Macht,
über die sie bereits verfügt, die faktische Mehrheit, die sie in
jeder großen Stadt des Königreichs besitzt, dazu auszunutzen,
Leute aus ihren eigenen Reihen ins Parlament zu entsenden. Bei
dem gegenwärtigen Wahlrecht der Haushaltungsvorstände könnten be-
quem vierzig oder fünfzig Arbeiter ins Unterhaus geschickt wer-
den, wo eine solche gründliche Blutauffrischung in der Tat höchst
notwendig ist. Schon allein mit dieser Zahl von Arbeitern im Par-
lament wäre es unmöglich, die irische Landbill [165] mehr und
mehr, wie es gegenwärtig der Fall ist, zu einer irischen Landbull
[174], nämlich einem irischen Grundbesitzer-Entschädigungsgesetz
werden zu lassen; wäre es unmöglich, sich dem Verlangen zu wider-
setzen nach Neuverteilung der Sitze, nach wirksamer Bestrafung
der Wahlbestechung, nach Übernahme der Wahlausgaben durch den
Staat, wie das überall außerhalb Englands der Fall ist, etc.
#279# Eine Arbeiterpartei
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Darüber hinaus kann es in England keine wirklich demokratische
Partei geben, die keine Arbeiterpartei ist. Aufgeklärte Männer
anderer Klassen (wo sie übrigens gar nicht so übermäßig zahlreich
sind, wie man uns glauben machen möchte) könnten sich dieser Par-
tei anschließen und sie, nachdem sie Beweise ihrer Aufrichtigkeit
geliefert, sogar im Parlament vertreten. Das ist überall der
Fall. In Deutschland zum Beispiel sind die Arbeitervertreter
nicht in jedem Falle wirkliche Arbeiter. Aber keine demokratische
Partei wird in England oder anderswo wirksamen Erfolg haben, wenn
sie nicht eine Arbeiterpartei mit entschiedenem Klassencharakter'
ist. Geht man davon ab, so bleibt nichts als Sektierertum und
Schwindel.
Das trifft für England sogar noch mehr zu als für das Ausland.
Leider hat es seitens der Radikalen genug Schwindel gegeben seit
dem Zerfall der ersten Arbeiterpartei in der Geschichte - der
Chartistenpartei. Ja, aber die Chartisten sind doch gescheitert
und haben nichts erreicht. Ist dem wirklich so? Von den sechs
Punkten der Volks-Charte sind jetzt zwei - geheime Stimmabgabe
und kein Vermögenszensus t Gesetz im Lande. Ein dritter, das all-
gemeine Wahlrecht, ist in Gestalt des Stimmrechts der
Haushaltungsvorstände wenigstens annähernd erreicht; ein vierter,
die Gleichheit der Wahlbezirke, ist deutlich in Sicht als eine
von der gegenwärtigen Regierung versprochene Reform. Somit hat
der Zusammenbruch der Chartistenbewegung dazu geführt, daß reich-
lich die Hälfte ihres Programms verwirklicht worden ist. Wenn
schon die bloße Erinnerung an eine frühere politische Organisa-
tion der Arbeiterklasse zu diesen politischen und außerdem noch
zu einer Reihe sozialer Reformen führen konnte, welche Wirkung
wird dann erst das tatsächliche Bestehen einer politischen Arbei-
terpartei ausüben, die sich auf vierzig oder fünfzig Vertreter im
Parlament stützt? Wir leben in einer Welt, in der jeder für sich
selbst zu sorgen hat. Die englische Arbeiterklasse jedoch gestat-
tet es den Klassen der Grundbesitzer, Kapitalisten und Kleinhänd-
ler mit ihrem Anhängsel von Advokaten, Zeitungsschreibern etc.,
ihre Interessen wahrzunehmen. Kein Wunder, daß Reformen im Inter-
esse der Arbeiter nur so langsam und nur so erbärmlich tropfen-
weise zustande kommen. Die Arbeiter Englands brauchen nur zu wol-
len, und sie haben die Macht, jede soziale und politische Reform
durchzusetzen, die ihre Lage erfordert. Warum dann diese Anstren-
gung nicht machen?
Geschrieben Mitte Juli 1881.
Aus dem Englischen.
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