Quelle: Januar 1890 - August 1895


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       Ein neuentdeckter Fall von Gruppenehe
       
       Gegenüber der  neuerdings bei  gewissen rationalistischen  E t h-
       n o g r a p h e n   Mode gewordnen  Ableugnung der Gruppenehe ist
       der unten  folgende  Bericht  von  Interesse,  den  ich  aus  den
       "Russkija Vjedomosti" (Russische Zeitung) von Moskau, 14. Oktober
       1892 alten  Stils, übersetze. Nicht nur wird hier die Gruppenehe,
       d.h. das  Recht des  gegenseitigen geschlechtlichen Verkehrs zwi-
       schen einer  Reihe von  Männern und  einer Reihe von Frauen, aus-
       drücklich als  in voller  Giltigkeit stehend konstatiert, sondern
       auch eine  Form derselben, die sich eng an die Punaluaehe der Ha-
       waiier anschließt,  also an  die entwickeltste  und  klassischste
       Phase der  Gruppenehe. Während  der Typus  der Punaluafamilie aus
       einer Reihe  von Brüdern  (leiblichen und  entfernteren) besteht,
       die mit  einer Reihe  von leiblichen  und entfernteren Schwestern
       verheiratet sind, finden wir hier auf der Insel Sachalin, daß ein
       Mann mit  allen Frauen  seiner Brüder und allen Schwestern seiner
       Frau verheiratet ist, was, von der weiblichen Seite angesehn, be-
       deutet, daß  seine Frau  mit den Brüdern ihres Mannes und mit den
       Männern ihrer Schwestern frei geschlechtlich zu verkehren berech-
       tigt ist.  Der Unterschied  von der typischen Form der Punaluaehe
       ist also  nur der,  daß die  Brüder des Mannes und die Männer der
       Schwestern nicht notwendig dieselben Leute sind.
       Es ist  ferner zu bemerken, daß auch hier bestätigt wird, was ich
       im "Ursprung  der Familie",  4. Aufl.,  S. 28-29,  sagte: Daß die
       Gruppenehe keineswegs  so aussieht,  wie die Bordellphantasie un-
       sers Spießbürgers  sie sich  vorstellt; daß  die  Gruppeneheleute
       nicht etwa  dasselbe lüsterne  Leben öffentlich betreiben, das er
       im geheimen  praktiziert, sondern  daß" diese Eheform, wenigstens
       in den uns heute noch vorkommenden Beispielen, sich in der Praxis
       von einer  lockern Paarungsehe oder auch Vielweiberei nur dadurch
       unterscheidet, daß eine Reihe von Fällen geschlechtlichen
       
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       Verkehrs durch  die Sitte erlaubt sind, die sonst strenger Strafe
       verfallen. 1*)  Daß die praktische Ausübung dieser Rechte allmäh-
       lich ausstirbt,  beweist nur,  daß diese  Eheform selbst  auf den
       Aussterbeetat gesetzt  ist, was auch durch ihr seltenes Vorkommen
       bestätigt wird.
       Im übrigen ist die ganze Schilderung interessant dadurch, daß sie
       wieder beweist,  wie ähnlich, ja in den Grundzügen identisch, die
       gesellschaftlichen Einrichtungen  solcher auf  ziemlich  gleicher
       Entwicklungsstufe stehenden  Urvölker sind. Das meiste von diesen
       Mongoloiden von  Sachalin Gesagte paßt auf drawidische Stämme In-
       diens, auf  Südseeinsulaner zur Zeit ihrer Entdeckung, auf ameri-
       kanische Rothäute. Der Bericht lautet:
       
       "In der  Sitzung des 10. Oktober" (alten Stils; 22. Oktober neuen
       Stils) "der  anthropologischen  Abteilung  der  Gesellschaft  der
       Freunde der  Naturwissenschaft in  Moskau verlas  N.A.  Jantschuk
       eine interessante  Mitteilung des Herrn Sternberg über die Gilja-
       ken [316],  einen wenig erforschten Stamm der Insel Sachalin, der
       auf der Kulturstufe der Wildheit steht. Die Giljaken kennen weder
       den Ackerbau  noch die  Töpferkunst, sie ernähren sich hauptsäch-
       lich durch  Jagd und  Fischfang, sie erwärmen Wasser in hölzernen
       Trögen durch  Hineinwerfen glühender Steine usw. Besonders inter-
       essant sind ihre Institutionen in bezug auf Familie und Gens. Der
       Giljak nennt  Vater nicht  bloß seinen  leiblichen Vater, sondern
       auch alle  Brüder seines  Vaters; die Frauen dieser Brüder ebenso
       wie die  Schwestern seiner Mutter nennt er allesamt seine Mütter;
       die Kinder  aller dieser  'Väter' und 'Mütter' 2*) nennt er seine
       Brüder und  Schwestern. Diese Benennungsweise besteht bekanntlich
       auch bei den Irokesen [317] und andern Indianerstämmen Nordameri-
       kas, wie auch bei einigen Stämmen in Indien. Während sie aber bei
       diesen schon  seit langer Zeit nicht mehr den wirklichen Verhält-
       nissen entspricht,  dient sie  bei den  Giljaken zur  Bezeichnung
       e i n e s   n o c h   h e u t e   g i l t i g e n    Z u s t a n-
       d e s.   Noch heute   h a t  j e d e r  G i l j a k  G a t t e n-
       a n r e c h t   a u f   d i e   F r a u e n   s e i n e r  B r ü-
       d e r   u n d   a u f   d i e   S c h w e s t e r n   s e i n e r
       F r a u;   wenigstens wird  die Ausübung solcher Rechte nicht als
       etwas Unerlaubtes angesehn. Diese Überbleibsel der Gruppenehe auf
       Grund der  Gens erinnern  an die bekannte Punaluaehe, die auf den
       Sandwichinseln noch  in der  ersten  Hälfte  unsres  Jahrhunderts
       bestand. Diese  Form der  Familien- und Gentilverhältnisse bildet
       die Grundlage  der ganzen  Gentilordnung und Gesellschaftsverfas-
       sung der Giljaken.
       Die Gens  eines Giljaken besteht aus allen - näheren und entfern-
       teren, wirklichen und nominellen - Brüdern seines Vaters 3*), aus
       deren Vätern  und Müttern  (?), aus den Kindern seiner Brüder und
       seinen eignen  Kindern. Es ist begreiflich, daß eine so konstitu-
       ierte Gens eine ungeheure Menge Menschen umfassen kann. Das Leben
       in der  Gens verläuft nun nach folgenden Grundsätzen. Die Ehe in-
       nerhalb der Gens ist
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       1*) Siehe Band  21 unserer  Ausgabe, S.  50-51 - 2*) in "Russkije
       Wedomosti": aller  aufgezählten Verwandten - 3*) in "Russkije We-
       domosti": allen Brüdern seines Vaters (aller Grade) (statt: allen
       - näheren  und entfernteren,  wirklichen und nominellen - Brüdern
       seines Vaters)
       
       #353# Ein neuentdeckter Fall von Gruppenehe
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       unbedingt verboten.  Die Frau  eines  verstorbnen  Giljaken  geht
       durch Entscheidung  der Gens auf einen seiner leiblichen oder no-
       minellen Brüder  1*) über. Die Gens sorgt für den Unterhalt aller
       ihrer arbeitsunfähigen  Genossen. 'Bei  uns gibt's  keine  Arme',
       sagte dem  Referenten ein Giljak, 'wer bedürftig ist, den füttert
       die Chal  (Gens).' Die Gentilgenossen sind ferner vereinigt durch
       gemeinsame Opferfeiern  und Feste,  einen gemeinsamen  Begräbnis-
       platz usw.
       Die Gens  garantiert jedem  ihrer Mitglieder Leben und Sicherheit
       vor Angriffen von Nichtgentilgenossen; als Repressionsmittel gilt
       die Blutrache,  deren Ausübung  jedoch unter der russischen Herr-
       schaft sehr in Abnahme gekommen ist. Die Frauen sind von der Gen-
       tilblutrache gänzlich  ausgenommen. - In einzelnen, übrigens sehr
       seltenen Fällen adoptiert die Gens auch Angehörige andrer Gentes.
       Als allgemeine  Regel gilt,  daß das  Vermögen eines  Verstorbnen
       nicht aus  der Gens herausgehn darf; in dieser Beziehung herrscht
       bei den  Giljaken buchstäblich  die bekannte Vorschrift der zwölf
       Tafeln: Si  suos heredes  non habet,  gentiles familiam habento -
       wenn er  keine eignen Erben hat, so sollen die Gentilgenossen er-
       ben [318].  Kein wichtiges  Ereignis im  Leben des Giljaken voll-
       zieht sich  ohne Teilnahme  der Gens.  Vor noch nicht sehr langer
       Zeit, vor einer oder zwei Generationen, war der älteste Gentilge-
       nosse der  Vorsteher der  Gemeinschaft, der  'Starost' der  Gens;
       heutzutage beschränkt sich die Rolle des Gentil-ältesten fast nur
       noch auf  die Leitung  religiöser Zeremonien. Die Gentes sind oft
       zerstreut über  weit voneinander  entlegne Orte, aber auch in der
       Trennung fahren  die Genossen  fort, sich aneinander zu erinnern,
       beieinander zu Gast zu gehn, sich gegenseitig Hilfe und Schutz zu
       gewähren usw.  Ohne die äußerste Not verläßt der Giljak nie seine
       Gentilgenossen oder  die Gräber  seiner Gens. Das Gentilwesen hat
       dem ganzen  Geistesleben, dem Charakter, den Sitten, den Institu-
       tionen der  Giljaken einen  sehr bestimmten  Stempel aufgedrückt.
       Die Gewohnheit, alles gemeinschaftlich zu verhandeln, die Notwen-
       digkeit,  fortwährend   in  die   Interessen  der  Gentilgenossen
       einzugreifen, die  Solidarität bei  der Blutrache,  der Zwang und
       die Gewohnheit  des Zusammenwohnens  mit zehn  oder mehr von sei-
       nesgleichen in großen Jurtenzelten, kurz, gewissermaßen stets un-
       term Volk  zu sein,  alles das hat dem Giljaken einen geselligen,
       redseligen Charakter gegeben. Der Giljak ist außerordendich gast-
       frei, er  liebt es,  Gäste zu bewirten und selbst wieder als Gast
       zu kommen. Die schöne Sitte der Gastfreiheit zeigt sich besonders
       hervorstechend bei  bösen Zeiten.  Im Unglücksjahr,  wenn's  beim
       Giljaken nichts  zu beißen  gibt, weder  für ihn  noch für  seine
       Hunde, streckt er nicht die Hand aus nach Almosen, er geht unver-
       zagt zu Gaste und wird da ernährt, oft auf ziemlich lange Zeit.
       Bei den  sachalinischen Giljaken  kommen Verbrechen aus Eigennutz
       so gut  wie gar nicht vor. Seine Kostbarkeiten bewahrt der Giljak
       in einem  Vorratshaus, das  nie verschlossen wird. Der Giljak ist
       so empfindlich  gegen Schande, daß, sobald er einer schimpflichen
       Handlung überführt  ist, er  in den  Wald geht  und sich erhängt.
       Totschlag ist sehr selten und kommt fast nur im Zorn vor; in kei-
       nem Fall aber aus gewinnsüchtiger
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       1*) In "Russkije  Wedomosti": Brüder  (beliebigen Grades) (statt:
       leiblichen oder nominellen Brüder)
       
       #354# Ein neuentdeckter Fall von Gruppenehe
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       Absicht. Im  Verkehr mit  andern zeigt  der Giljak Rechtschaffen-
       heit, Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit.
       Trotz ihrer  langen Unterwerfung unter die zu Chinesen gewordenen
       Mandschuren, trotz  des verderblichen  Einflusses der  Besiedlung
       1*) des  Amurgebiets haben  die Giljaken  in sittlicher Beziehung
       viele Tugenden  eines primitiven  Stammes sich  bewahrt. Aber das
       Geschick ihrer  gesellschaftlichen Ordnung  ist unabwendbar. Noch
       eine oder zwei Generationen, und die Giljaken des Kontinents sind
       vollständig zu  Russen geworden und eignen sich mit den Wohltaten
       der Kultur  auch ihre  Gebrechen an. Die sachalinischen Giljaken,
       mehr oder weniger entlegen von den Zentren russischer Ansiedlung,
       haben Aussicht,  sich etwas länger unverfälscht zu erhalten. Aber
       auch bei ihnen fängt der Einfluß der russischen Nachbarschaft an,
       sich fühlbar  zu machen. Sie kommen des Handels wegen in die Dör-
       fer, sie gehen nach Nikolajewsk auf Arbeit, und jeder Giljak, der
       von solcher  Arbeit in  seinen heimischen Ort zurückkommt, bringt
       dieselbe Atmosphäre  mit, die  der Arbeiter aus der Stadt in sein
       russisches Dorf  mit sich  zurücknimmt. Und  zudem vernichtet die
       Arbeit in  der Stadt  mit ihren wechselnden Glücksfällen mehr und
       mehr jene ursprüngliche Gleichheit, die einen vorherrschenden Zug
       bildet im kunstlos-einfachen Wirtschaftsleben dieser Völker.
       Der Artikel  des Herrn  Sternberg, der  auch Nachrichten über die
       religiösen Vorstellungen und Gebräuche und ihre Rechtsinstitutio-
       nen enthält,  wird vollständig  in der  'Ethnographischen  Revue'
       ('Etnografitscheskoje obosrenie') [319] erscheinen."
       Nach: "Die Neue Zeit". Nr. 12.
       11. Jahrgang, 1. Band. S. 373-375.
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       1*) In  "Russkije   Wedomosti":  der  umherziehenden  Bevölkerung
       (statt: der Besiedlung)

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