Quelle: Januar 1890 - August 1895
zurück
#483#
-----
Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland [428]
#484#
-----
Geschrieben zwischen 15. und 22. November 1894.
Nach: "Die Neue Zeit". Nr. 10. 13. Jahrgang,
1. Band, 1894-1895.
#485#
-----
Die bürgerlichen und reaktionären Parteien wundern sich ungemein,
daß jetzt plötzlich und überall bei den Sozialisten die Bauern-
frage auf die Tagesordnung kommt. Sie sollten sich, von Rechts
wegen, wundern, daß dies nicht längst geschehn. Von Irland bis
Sizilien, von Andalusien bis Rußland und Bulgarien ist der Bauer
ein sehr wesentlicher Faktor der Bevölkerung, der Produktion und
der politischen Macht. Nur zwei westeuropäische Gebiete bilden
eine Ausnahme. Im eigentlichen Großbritannien hat Großgrundbesitz
und große Agrikultur den selbstwirtschaftenden Bauer total ver-
drängt; im ostelbischen Preußen ist derselbe Prozeß seit Jahrhun-
derten im Gang, und auch hier wird der Bauer mehr und mehr ent-
weder "gelegt" oder doch ökonomisch und politisch in den Hinter-
grund gedrängt.
Als politischer Machtfaktor bewährt sich der Bauer bisher meist
nur durch seine in der Isolierung des Landlebens begründete Apa-
thie. Diese Apathie der großen Masse der Bevölkerung ist die
stärkste Stütze nicht nur der parlamentarischen Korruption in Pa-
ris und Rom, sondern auch des russischen Despotismus. Aber sie
ist durchaus nicht unüberwindlich. Seit dem Entstehen der Arbei-
terbewegung ist es in Westeuropa, besonders da, wo das bäuerliche
Parzelleneigentum vorherrscht, den Bourgeois nicht eben schwer
geworden, der Bauernphantasie die sozialistischen Arbeiter als
partageux, als "Teiler" verdächtig und verhaßt zu machen, als
faule, gierige Städter, die auf das Bauerneigentum spekulieren.
Die unklaren sozialistischen Aspirationen der Februarrevolution
1848 wurden durch die reaktionären Stimmzettel der französischen
Bauern rasch aus dem Weg geschafft; der Bauer, der seine Ruh' ha-
ben wollte, holte nun noch aus dem Schatz seiner Erinnerungen die
Legende vom Bauernkaiser Napoleon hervor und schuf das Zweite
Kaiserreich. Wir alle wissen, was diese eine
#486# Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland
-----
Bauerntat dem französischen Volk gekostet hat; an ihren Folgen
laboriert es noch heut.
Seit jener Zeit aber hat sich manches geändert. Die Entwicklung
der kapitalistischen Produktionsform hat dem Kleinbetrieb in der
Landwirtschaft den Lebensnerv abgeschnitten; er verfällt und ver-
kommt unrettbar. Die Konkurrenz Nord- und Südamerikas und Indiens
hat den europäischen Markt mit wohlfeilem Getreide überschwemmt,
so wohlfeil, daß kein einheimischer Produzent damit konkurrieren
kann. Großgrundbesitzer und Kleinbauer sehn beide gleichmäßig den
Untergang vor Augen. Und da sie beide Grundbesitzer und Landleute
sind, wirft sich der Großgrundbesitzer zum Vorkämpfer der Inter-
essen des Kleinbauern auf, und der Kleinbauer - im ganzen und
großen - akzeptiert diesen Vorkämpfer.
Inzwischen aber ist im Westen eine mächtige sozialistische
Arbeiterpartei herangewachsen. Die dunklen Ahnungen und Gefühle
aus der Zeit der Februarrevolution haben sich geklärt, ausgewei-
tet, vertieft zu einem allen wissenschaftlichen Ansprüchen genü-
genden Programm mit bestimmten handgreiflichen Forderungen; diese
Forderungen werden vertreten im deutschen, im französischen, im
belgischen Parlament von einer stets wachsenden Zahl sozialisti-
scher Abgeordneten. Die Eroberung der politischen Macht durch die
sozialistische Partei ist in absehbare Nähe gerückt. Um aber die
politische Macht zu erobern, muß diese Partei vorher von der
Stadt aufs Land gehn, muß eine Macht werden auf dem Land. Sie,
die vor allen andern Parteien voraus hat die klare Einsicht in
den Zusammenhang der ökonomischen Ursachen mit den politischen
Folgen, die also auch die Wolfsgestalt unter dem Schafspelz des
großgrundherrlichen zudringlichen Bauernfreunds längst erspäht
hat - darf sie den dem Untergang geweihten Bauern ruhig in den
Händen seiner falschen Beschützer lassen, bis er aus einem passi-
ven in einen aktiven Gegner der industriellen Arbeiter verwandelt
wird? Und damit sind wir inmitten der Bauernfrage.
#487#
-----
I
Die Landbevölkerung, an die wir uns wenden können, besteht aus
sehr verschiednen Bestandteilen, die je nach den einzelnen Gegen-
den wieder sehr verschiedner Art sind.
Im Westen Deutschlands, wie in Frankreich und Belgien, herrscht
die kleine Kultur von Parzellenbauern vor, die in der Mehrzahl
Eigentümer, in der Minderzahl Pächter ihrer Landstücke sind.
Im Nordwesten - Niedersachsen und Schleswig-Holstein - gibt es
vorwiegend große und Mittelbauern, die ohne Knechte und Mägde und
selbst Taglöhner nicht fertig werden. Ebenso in einem Teil von
Bayern.
Im ostelbischen Preußen und Mecklenburg haben wir das Gebiet des
großen Grundbesitzes und der großen Kultur mit Hofgesinde, Inst-
leuten und Taglöhnern, dazwischen Klein- und Mittelbauern in re-
lativ schwacher und stets abnehmender Proportion.
In Mitteldeutschland finden sich alle diese Betriebs- und Besitz-
formen je nach der Lokalität in verschiedenen Verhältnissen ge-
mischt, ohne bestimmtes Vorherrschen der einen oder andern auf
einer größeren Fläche.
Außerdem gibt es Gegenden von verschiedner Ausdehnung, wo das
eigne oder gepachtete Ackerland zur Ernährung der Familie nicht
ausreicht, sondern nur als Grundlage dient für den Betrieb einer
Hausindustrie und dieser letzteren die sonst unbegreiflichen,
niedrigen Löhne sicherstellt, welche den Produkten, gegenüber al-
ler fremden Konkurrenz, stetigen Absatz verschaffen.
Welche von diesen Unterabteilungen der Landbevölkerung können für
die sozialdemokratische Partei gewonnen werden? Wir untersuchen
diese Frage selbstredend nur in ihren großen Zügen; wir nehmen
nur die scharf ausgeprägten Formen heraus; zur Berücksichtigung
der Mittelstufen und gemischten Landbevölkerungen fehlt uns der
Raum.
Fangen wir an mit dem Kleinbauer. Er ist nicht nur für Westeuropa
im
#488# Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland
-----
allgemeinen von allen Bauern der wichtigste, sondern er liefert
uns auch den für die ganze Frage kritischen Fall. Sind wir uns
über unsre Stellung zum Kleinbauern klar, so haben wir alle An-
haltspunkte zur Bestimmung unsrer Haltung gegenüber den andern
Bestandteilen des Landvolks.
Unter Kleinbauer verstehen wir hier den Eigentümer oder Pächter -
namentlich den ersteren - eines Stückchens Land, nicht größer,
als er mit seiner eignen Familie in der Regel bebauen kann, und
nicht kleiner, als was die Familie ernährt. Dieser Kleinbauer,
wie der kleine Handwerker, ist also ein Arbeiter, der sich vom
modernen Proletarier dadurch unterscheidet, daß er noch im Besitz
seiner Arbeitsmittel ist; also ein Überbleibsel einer vergangnen
Produktionsweise. Von seinem Vorfahren, dem leibeignen, hörigen
oder sehr ausnahmsweise auch freien zins- und fronpflichtigen
Bauern, unterscheidet er sich dreifach. Erstens dadurch, daß die
französische Revolution ihn von den feudalen Lasten und Diensten,
die er dem Grundherrn schuldete, befreit und in der Mehrzahl der
Fälle, wenigstens auf dem linken Rheinufer, ihm sein Bauerngut
als freies Eigen überantwortet hat. - Zweitens dadurch, daß er
den Schutz und die Beteiligung an der selbstverwaltenden Markge-
nossenschaft und damit seinen Anteil an den Nutzungen der frühe-
ren gemeinen Mark verloren hat. Die gemeine Mark ist teils vom
ehemaligen Feudalherrn, teils durch aufgeklärt-römischrechtlich-
bürokratische Gesetzgebung wegeskamotiert und dem modernen Klein-
bauern damit die Möglichkeit entzogen, sein Arbeitsvieh ohne gek-
auftes Futter zu ernähren. Ökonomisch wiegt aber der Verlust der
Marknutzungen den Wegfall der Feudallasten überreichlich auf; die
Zahl der Bauern, die kein eignes Arbeitsvieh halten können,
wächst fortwährend. - Drittens unterscheidet der heutige Bauer
sich durch den Verlust der Hälfte seiner früheren produktiven Tä-
tigkeit. Früher erzeugte er mit seiner Familie aus selbsterzeug-
tem Rohstoff den größten Teil der Industrieprodukte, deren er be-
durfte; was sonst noch nötig, besorgten Dorfnachbarn, die Hand-
werk neben dem Landbau betrieben und meist in Tauschartikeln oder
Gegendiensten bezahlt wurden. Die Familie und noch mehr das Dorf
genügte sich selbst, produzierte fast alles, was es brauchte. Es
war fast reine Naturalwirtschaft, Geld wurde fast gar nicht benö-
tigt. Die kapitalistische Produktion hat dem ein Ende gemacht
vermittelst der Geldwirtschaft und der großen Industrie. War aber
die Marknutzung die eine Grundbedingung seiner Existenz, so war
der industrielle Nebenbetrieb die andere. Und so sinkt der Bauer
immer tiefer. Steuern, Mißwachs, Erbteilungen, Prozesse treiben
einen Bauer nach dem andern zum Wucherer, die Verschuldung wird
immer allgemeiner und für jeden einzelnen immer
#489# Kapitel I
-----
tiefer - kurz, unser Kleinbauer ist wie jeder Überrest einer ver-
gangnen Produktionsweise unrettbar dem Untergang verfallen. Er
ist ein zukünftiger Proletarier.
Als solcher sollte er der sozialistischen Propaganda offne Ohren
leihen. Daran aber verhindert ihn einstweilen noch sein einge-
fleischter Eigentumssinn. Je schwerer ihm der Kampf wird um sein
gefährdetes Fetzchen Land, mit desto gewaltsamerer Verzweiflung
klammert er sich daran fest, um so mehr sieht er im Sozialdemo-
kraten, der von Überweisung des Grundeigentums an die Gesamtheit
spricht, einen ebenso gefährlichen Feind wie im Wucherer und Ad-
vokaten. Wie soll die Sozialdemokratie dies Vorurteil überwinden?
Was kann sie dem untergehenden Kleinbauer bieten, ohne sich
selbst untreu zu werden?
Hier finden wir einen praktischen Anhaltspunkt im Agrarprogramm
der französischen Sozialisten marxistischer Richtung, das um so
beachtenswerter ist, weil es aus dem klassischen Land der Klein-
bauernwirtschaft kommt.
Auf dem Marseiller Kongreß 1892 wurde das erste Agrarprogramm der
Partei angenommen. [429] Es verlangt für die besitzlosen ländli-
chen A r b e i t e r (also Taglöhner und Hofgesinde): Minimal-
lohn, durch Fachvereine und Gemeinderäte festgesetzt; ländliche
Gewerbegerichte, zur Hälfte aus Arbeitern bestehend; Verbot des
Verkaufs von Gemeindeland und Verpachtung der Staatsdomänen an
die Gemeinden, die dies sämtliche eigne und gepachtete Land an
Assoziationen besitzloser Landarbeiterfamilien zur gemeinsamen
Bebauung, unter Verbot der Anwendung von Lohnarbeitern und unter
Kontrolle der Gemeinde, vermieten sollen; Alters- und Invalidi-
tätspensionen, bestritten durch eine besondre Steuer auf das
Großgrundeigentum.
Für die K l e i n b a u e r n, worunter hier noch die Pächter
speziell berücksichtigt werden, wird gefordert: Anschaffung von
landwirtschaftlichen Maschinen durch die Gemeinde, zur Vermietung
zum Kostpreis an die Bauern; Bildung bäuerlicher Genossenschaften
zum Ankauf von Dünger, Drainröhren, Aussaat etc. und zum Verkauf
der Produkte; Aufhebung der Steuer auf den Eigentumswechsel von
Grundbesitz, wenn der Wert nicht über 5000 frs. beträgt; schieds-
richterliche Kommissionen nach irischem Muster zur Herabsetzung
übermäßiger Pachtpreise und zur Entschädigung der abtretenden
Pächter und Teilpächter (métayers) für durch sie erwirkte Wert-
steigerung des Grundstücks; Abschaffung des Art. 2102 des Code
civil, der dem Grundeigentümer ein Pfandrecht auf die Ernte gibt,
und Abschaffung des Rechts der Gläubiger, die wachsende Ernte zu
pfänden;
#490# Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland
-----
Feststellung eines unpfändbaren Bestands von Ackergerät, Ernte,
Aussaat, Dünger, Arbeitsvieh, kurz von allem, was dem Bauern zum
Betrieb seines Geschäfts unumgänglich ist; Revision des längst
veralteten allgemeinen Landeskatasters und bis dahin lokale Revi-
sion in jeder Gemeinde; endlich unentgeltlichen landwirtschaftli-
chen Fortbildungsunterricht und landwirtschaftliche Versuchssta-
tionen.
Man sieht, die Forderungen im Interesse der Bauern - die zugun-
sten der Arbeiter gehn uns hier einstweilen nichts an - sind
nicht sehr weitgehend. Ein Teil davon ist anderwärts schon durch-
geführt. Die Pächter-Schiedsgerichte berufen sich ausdrücklich
auf irisches Vorbild. Die bäuerlichen Genossenschaften bestehn
schon in den Rheinlanden. Die Katasterrevision ist in ganz West-
europa ein stehender frommer Wunsch aller Liberalen und selbst
Bürokraten. Auch die übrigen Punkte könnten durchgeführt werden,
ohne der bestehenden kapitalistischen Ordnung wesentlichen Scha-
den zu tun. Dies einfach zur Charakterisierung des Programms; ein
Vorwurf liegt nicht darin, im Gegenteil.
Mit diesem Programm machte die Partei bei den Bauern der ver-
schiedensten Gegenden Frankreichs so gute Geschäfte, daß - der
Appetit kommt ja mit dem Essen - man sich gedrungen fühlte, es
noch weiter dem Geschmack der Bauern anzupassen. Man fühlte al-
lerdings, daß man sich da auf gefährlichen Boden begab. Wie
sollte man dem Bauer helfen können, dem Bauer nicht als zukünfti-
gem Proletarier, sondern als gegenwärtigem besitzenden Bauer,
ohne die Grundprinzipien des allgemeinen sozialistischen Pro-
gramms zu verletzen? Um diesem Einwand zu begegnen, leitete man
die neuen praktischen Vorschläge ein mit einer theoretischen Mo-
tivierung, welche nachzuweisen sucht, daß es im Prinzip des So-
zialismus liegt, das kleinbäuerliche Eigentum gegen den Untergang
durch die kapitalistische Produktionsweise zu schützen, obwohl
man selbst vollkommen einsieht, daß dieser Untergang unvermeid-
lich ist. Diese Motivierung wie die Forderungen selbst, die im
September d.J. auf dem Kongreß von Nantes angenommen wurden, wol-
len wir uns jetzt näher ansehn.
Die Motivierung beginnt:
"In Erwägung, daß nach dem Wortlaut des allgemeinen Programms der
Partei die Produzenten frei sein können nur soweit sie sich im
Besitz der Produktionsmittel befinden;
in Erwägung, daß zwar auf dem Gebiet der Industrie diese Produk-
tionsmittel bereits bis zu dem Grad kapitalistisch zentralisiert
sind, daß sie den Produzenten nur in gemeinschaftlicher oder ge-
sellschaftlicher Form zurückgegeben werden können; da+ dies aber
- wenigstens im heutigen Frankreich - auf dem Gebiet des Landbaus
keineswegs
#491# Kapitel I
-----
der Fall ist, das Produktionsmittel, nämlich der Boden, vielmehr
noch in sehr vielen Orten sich als Einzelbesitz in den Händen der
einzelnen Produzenten befindet;
in Erwägung, daß, wenn dieser durch das Parzelleneigentum charak-
terisierte Zustand unrettbar dem Untergang geweiht ist (est fata-
lement appelé à disparaître), dennoch der Sozialismus diesen Un-
tergang nicht zu beschleunigen hat, da ja seine Aufgabe nicht
darin besteht, das Eigentum von der Arbeit zu scheiden, sondern
im Gegenteil in denselben Händen diese beiden Faktoren aller Pro-
duktion zu vereinigen, Faktoren, deren Trennung die Knechtschaft
und das Elend der zu Proletariern herabgedrückten Arbeiter zur
Folge hat;
in Erwägung, daß, wenn es einerseits die Pflicht des Sozialismus
ist, die Ackerbauproletarier wieder in den Besitz - in gemein-
schaftlicher oder gesellschaftlicher Form - der großen Domänen zu
setzen, nach Enteignung der jetzigen müßigen Eigentümer dersel-
ben, es andrerseits seine nicht weniger gebieterische Pflicht
ist, die selbstarbeitenden Bauern im Besitz ihrer Landstückchen
zu erhalten gegenüber dem Fiskus, dem Wucher und den Eingriffen
der neuerstandnen großen Grundherren;
in Erwägung, daß es angemessen ist, diesen Schutz auszudehnen auf
die Produzenten, die unter dem Namen Pächter oder Teilpächter
(métayers) fremdes Land bebauen und die, wenn sie Taglöhner aus-
beuten, dazu gewissermaßen gezwungen sind durch die an ihnen
selbst verübte Ausbeutung -
hat die Arbeiterpartei - die, im Gegensatz zu den Anarchisten,
für die Umgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung nicht auf die
Steigerung und Ausbreitung des Elends rechnet, sondern die Be-
freiung der Arbeit und der Gesellschaft überhaupt nur erwartet
von der Organisation und den gemeinsamen Anstrengungen der Arbei-
ter sowohl des Landes wie der Städte, von ihrer Besitzergreifung
der Regierung und der Gesetzgebung - das folgende Agrarprogramm
angenommen, um dadurch alle Elemente der ländlichen Produktion,
alle Tätigkeiten, die unter verschiedenen Rechtstiteln den natio-
nalen Grund und Boden verwerten, zusammenzubringen in demselben
Kampf gegen den gemeinsamen Feind: die Feudalität des Grundbesit-
zes." [430]
Sehen wir uns nun diese "Erwägungen" etwas näher an.
Zunächst muß der Satz des französischen Programms, daß die Frei-
heit der Produzenten den Besitz der Produktionsmittel voraus-
setzt, ergänzt werden durch die gleich darauf folgenden: daß der
Besitz der Produktionsmittel nur in zwei Formen möglich ist: ent-
weder als Einzelbesitz, welche Form nie und nirgends allgemein
für die Produzenten bestanden hat und täglich mehr durch den in-
dustriellen Fortschritt unmöglich gemacht wird; oder aber als Ge-
meinbesitz, eine Form, deren materielle und intellektuelle Vor-
aussetzungen schon durch die Entwicklung der kapitalistischen
Gesellschaft selbst hergestellt worden sind; daß also die
g e m e i n s c h a f t l i c h e Besitzergreifung der Produkti-
onsmittel zu erkämpfen ist mit allen dem Proletariat zur Verfü-
gung stehenden Mitteln.
#492# Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland
-----
Der Gemeinbesitz der Produktionsmittel wird also hier als einzi-
ges zu erstrebendes Hauptziel aufgestellt. Nicht nur für die In-
dustrie, wo der Boden schon vorbereitet ist, sondern allgemein,
also auch für die Agrikultur. Der Einzelbesitz hat nach dem Pro-
gramm nie und nirgends allgemein für alle Produzenten gegolten;
ebendeshalb, und weil der industrielle Fortschritt ihn ohnehin
beseitigt, hat der Sozialismus kein Interesse an seiner Auf-
rechterhaltung, wohl aber an seiner Beseitigung; denn da, wo und
soweit er besteht, macht er den Gemeinbesitz unmöglich. Wenn wir
uns einmal auf das Programm berufen, dann auch auf das ganze Pro-
gramm, das den in Nantes zitierten Satz sehr bedeutend modifi-
ziert, indem es die darin ausgesprochene allgemeingeschichtliche
Wahrheit erst in die Bedingungen faßt, unter denen allein sie
heute in Westeuropa und Nordamerika eine Wahrheit bleiben kann.
Der Besitz der Produktionsmittel durch die einzelnen Produzenten
verleiht heutzutage diesen Produzenten keine wirkliche Freiheit
mehr. Das Handwerk in den Städten ist schon ruiniert, in Groß-
städten wie London ist es sogar schon total verschwunden, ersetzt
durch Großindustrie, Schwitzsystem 1*) und elende Pfuscher, die
vom Bankerott leben. Der selbstwirtschaftende Kleinbauer ist we-
der im sichern Besitz seines Stückchens Land, noch ist er frei.
Er wie sein Haus, sein Hof, seine paar Felder gehören dem Wuche-
rer; seine Existenz ist unsicherer als die des Proletariers, der
wenigstens dann und wann ruhige Tage erlebt, was dem gepeinigten
Schuldsklaven nie vorkommt. Streicht den Artikel 2102 des Bürger-
lichen Gesetzbuchs, sichert dem Bauern durchs Gesetz einen un-
pfändbaren Bestand an Ackergerät, Vieh etc.; gegen eine Zwangs-
lage, worin er sein Vieh "freiwillig" selbst verkaufen, wo er
sich mit Leib und Seele dem Wucherer verschreiben muß und froh
ist, sich eine Galgenfrist zu erkaufen, könnt ihr ihn nicht si-
chern. Euer Versuch, den Kleinbauern in seinem Eigentum zu schüt-
zen, schützt nicht seine Freiheit, sondern nur die besondere Form
seiner Knechtschaft; sie verlängert eine Lage, worin er weder le-
ben noch sterben kann; die Berufung auf den ersten Absatz eures
Programms ist also hier keineswegs am Platz.
Die Motivierung sagt, im heutigen Frankreich befinde sich das
Produktionsmittel, nämlich der Boden, noch an sehr vielen Orten
als Einzelbesitz in den Händen der einzelnen Produzenten; die
Aufgabe des Sozialismus aber sei nicht, das Eigentum von der Ar-
beit zu scheiden, sondern im
-----
1*) Siehe Band 23 unserer Ausgabe, S. 576/577
#493# Kapitel I
-----
Gegenteil, diese beiden Faktoren aller Produktion in denselben
Händen zu vereinigen. - Wie bereits angedeutet, ist letzteres in
dieser Allgemeinheit keineswegs die Aufgabe des Sozialismus;
seine Aufgabe ist vielmehr nur die Übertragung der Produktions-
mittel an die Produzenten als G e m e i n b e s i t z. Sobald
wir dies aus den Augen lassen, führt uns obiger Satz direkt in
die Irre, nämlich dahin, daß der Sozialismus berufen sei, das
jetzige Scheineigentum des kleinen Bauern an seinen Feldern in
wirkliches zu verwandeln, also den kleinen Pächter in einen Ei-
gentümer und den verschuldeten in einen schuldenfreien Eigentü-
mer. Der Sozialismus hat allerdings ein Interesse daran, daß die-
ser falsche Schein des bäuerlichen Eigentums verschwinde; aber
nicht auf diese Art.
Jedenfalls sind wir nun so weit, daß die Motivierung es schlank-
weg für die Pflicht des Sozialismus erklären kann, und zwar für
seine gebieterische Pflicht,
"die selbstarbeitenden Bauern im Besitz ihrer Landstückchen zu
erhalten gegenüber dem Fiskus, dem Wucher und den Eingriffen der
neuerstandenen großen Grundherren".
Die Motivierung überträgt hiermit dem Sozialismus die gebieteri-
sche Pflicht, etwas durchzuführen, was sie im vorigen Absatz für
unmöglich erklärt hat. Sie gibt ihm auf, das Parzelleneigentum
der Bauern zu "erhalten", trotzdem sie selbst sagt, dies Eigentum
sei "unrettbar dem Untergang geweiht". Der Fiskus, der Wucher und
die neuerstandnen großen Grundherren, was sind sie anders als nur
die Instrumente, durch welche die kapitalistische Produktion die-
sen unvermeidlichen Untergang vollzieht? Mit welchen Mitteln "der
Sozialismus" den Bauer gegen diese Dreieinigkeit schützen soll,
werden wir weiter unten sehn.
Aber nicht nur der Kleinbauer soll in seinem Eigentum geschützt
werden. Es ist ebenfalls
"angemessen, diesen Schutz auszudehnen auf die Produzenten, die
unter dem Namen Pächter oder Teilpächter (métayers) fremdes Land
bebauen und die, wenn sie Taglöhner ausbeuten, dazu gewissermaßen
gezwungen sind durch die an ihnen selbst verübte Ausbeutung".
Hier kommen wir schon auf ein ganz absonderliches Gebiet. Der
Sozialismus richtet sich ganz speziell gegen die Ausbeutung der
Lohnarbeit. Und hier wird es für die gebieterische Pflicht des
Sozialismus erklärt, die französischen Pächter dabei zu schützen,
wenn sie "Taglöhner a u s b e u t e n" - so heißt es wörtlich!
Und zwar, weil sie gewissermaßen dazu gezwungen werden "durch die
an ihnen selbst verübte Ausbeutung"!
#494# Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland
-----
Wie leicht und angenehm es sich doch abwärtsrutscht, ist man erst
einmal auf der schiefen Ebene! Wenn nun der Groß- und Mittelbauer
Deutschlands kommt und bittet die französischen Sozialisten, sich
beim deutschen Parteivorstand zu verwenden, daß die deutsche so-
zialdemokratische Partei ihn schütze in der Ausbeutung seiner
Knechte und Mägde, und sich dabei beruft auf die durch Wucherer,
Steuereinnehmer, Getreidespekulanten und Viehhändler "an ihm
selbst verübte Ausbeutung" - was werden sie antworten? Und wer
steht ihnen dafür, daß nicht auch unsre agrarischen Großgrundbe-
sitzer ihnen den Grafen Kanitz schicken (der ja auch einen dem
ihrigen ähnlichen Antrag auf Verstaatlichung der Getreideeinfuhr
gestellt) und ebenfalls um sozialistischen Schutz bitten für ihre
Ausbeutung der Landarbeiter, unter Berufung auf die "an ihnen
selbst verübte Ausbeutung" durch Börse, Zins- und Getreidewuche-
rer?
Sagen wir hier gleich, daß unsre französischen Freunde es lange
nicht so böse meinen, wie es den Anschein hat. Der obige Absatz
soll nämlich nur einen ganz speziellen Fall treffen, nämlich die-
sen: Im Norden Frankreichs, wie in unsern Zuckerrübengebieten,
wird den Bauern Land mit der Verpflichtung zum Rübenbau unter äu-
ßerst lästigen Bedingungen vermietet; sie müssen die Rüben an die
bestimmte Fabrik zu dem von dieser festgesetzten Preis verkaufen,
müssen bestimmten Samen kaufen, ein festgesetztes Quantum vorge-
schriebner Düngung verwenden und werden obendrein noch bei der
Ablieferung schmählich geprellt. Das alles kennen wir in Deutsch-
land ja auch. Wollte man aber einmal diese Sorte Bauern unter
seinen Schutz nehmen, so mußte man dies direkt und ausdrücklich
sagen. Wie der Satz dasteht, in seiner unbegrenzten Allgemein-
heit, ist er eine direkte Verletzung nicht nur des französischen
Programms, sondern des Grundprinzips des Sozialismus überhaupt,
und seine Verfasser werden sich nicht beklagen können, wenn diese
nachlässige Redaktion von den verschiedensten Seiten gegen ihre
Absicht ausgebeutet wird.
Derselben Mißdeutung fähig sind die Schlußworte der Motivierung,
wonach die sozialistische Arbeiterpartei die Aufgabe hat,
"alle Elemente der ländlichen Produktion, alle Tätigkeiten, die
unter verschiednen Rechtstiteln den nationalen Grund und Boden
verwerten, zusammenzubringen in demselben Kampf gegen den gemein-
samen Feind: die Feudalität des Grundbesitzes".
Ich leugne gradezu, daß die sozialistische Arbeiterpartei irgend-
eines Landes die Aufgabe hat, außer den Landproletariern und
Kleinbauern auch die Mittel- und Großbauern, oder gar die Pächter
großer Güter, die kapitalistischen Viehzüchter und die andern ka-
pitalistischen Verwerter des
#495# Kapitel I
-----
nationalen Grund und Bodens in ihren Schoß aufzunehmen. Ihnen al-
len mag die Feudalität des Grundbesitzes als gemeinsamer Feind
erscheinen. Wir mögen in gewissen Fragen mit ihnen zusammengehn,
für bestimmte Zwecke eine Zeitlang an ihrer Seite kämpfen können.
Aber in unsrer Partei können wir zwar Individuen aus jeder Ge-
sellschaftsklasse, aber durchaus keine kapitalistischen, keine
mittelbürgerlichen oder mittelbäuerlichen Interessengruppen ge-
brauchen. Auch hier ist es nicht so schlimm gemeint, wie es aus-
sieht; an alles das haben die Verfasser offenbar gar nicht ge-
dacht; leider aber ist der Generalisationsdrang mit ihnen durch-
gegangen, und es darf sie nicht wundern, wenn man sie eben beim
Wort nimmt.
Nach der Motivierung kommen nun die neubeschlossenen Zusätze zum
Programm selbst. Sie verraten dieselbe Flüchtigkeit der Redaktion
wie jene.
Der Artikel, wonach die Gemeinden landwirtschaftliche Maschinen
anschaffen und sie zu den Selbstkosten an die Bauern vermieten
sollen, wird geändert dahin, daß die Gemeinden erstens Staatszu-
schüsse für diesen Zweck erhalten und zweitens die Maschinen den
Kleinbauern gratis zur Verfügung stellen sollen. Diese weitere
Konzession wird den Kleinbauern, deren Felder und Betriebsweise
nur wenig Maschinengebrauch zulassen, sicher auf keinen besonders
grünen Zweig helfen.
Ferner:
"Ersatz aller bestehenden indirekten und direkten Steuern durch
eine einzige progressive Steuer auf alle Einkommen von mehr als
3000 Franken."
Eine ähnliche Forderung findet sich seit Jahren in fast jedem
sozialdemokratischen Programm. Daß sie aber speziell im Interesse
der Kleinbauern aufgestellt wird, ist neu und beweist nur, wie
wenig man ihre Tragweite berechnet hat. Nehmen wir England. Dort
beträgt das Staatsbudget 90 Millionen Pfund Sterling. Davon wer-
den aufgebracht durch die Einkommensteuer 13 1/2 bis 14 Millio-
nen, die übrigen 76 Millionen zum kleineren Teil durch Besteue-
rung von Geschäften (Post, Telegraphen, Stempel), zum weitaus
größten Teil aber durch Auflagen auf die Massenkonsumtion, durch
stets wiederholtes Abzwacken, in kleinen, unmerklichen, aber sich
zu vielen Millionen aufsummierenden Beträgen, vom Einkommen aller
Einwohner, vornehmlich aber der ärmeren. Und es ist in der heuti-
gen Gesellschaft kaum möglich, die Staatsausgaben auf andere
Weise zu decken. Gesetzt, man legte in England alle 90 Millionen
den Einkommen von 120 Pfd. St. = 3000 frs. und darüber in pro-
gressiver direkter Steuer auf. Die durchschnittliche jährliche
Akkumulation, die jährliche Vermehrung des gesamten nationalen
Reichtums, betrug 1865-1875 nach Giffen
#496# Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland
-----
240 Mill. Pfd. St. Sagen wir, sie sei jetzt gleich 300 Mill,
jährlich; eine Steuerlast von 90 Mill, würde fast ein Drittel der
gesamten Akkumulation verzehren. Mit anderen Worten, keine Regie-
rung kann so etwas unternehmen außer einer sozialistischen; wenn
die Sozialisten am Ruder sind, werden sie Dinge durchzuführen ha-
ben, bei denen jene Steuerreform nur als eine momentane, ganz un-
bedeutende Abschlagszahlung figuriert und wobei den Kleinbauern
ganz andre Perspektiven eröffnet werden.
Man scheint auch einzusehn, daß die Bauern auf diese Steuerreform
etwas lange warten müßten, und stellt ihnen daher "einstweilen"
(en attendant) in Aussicht:
"Abschaffung der Grundsteuer für alle selbstarbeitenden Bauern
und Verminderung dieser Steuer für alle mit Hypotheken belasteten
Grundstücke."
Die letzte Hälfte dieser Forderung kann sich nur auf g r ö ß e-
r e Bauerngüter beziehen, als die die Familie selbst bewirt-
schaften kann, sie ist also wiederum eine Begünstigung derjenigen
Bauern, welche "Taglöhner ausbeuten".
Ferner:
"Freiheit der Jagd und des Fischfangs ohne andre Beschränkungen
als bedingt sind durch die Schonung des Wild- und Fischstandes
und der wachsenden Ernten."
Dies klingt sehr populär, aber der Nachsatz hebt den Vordersatz
auf. Wieviel Hasen, Rebhühner, Hechte und Karpfen kommen denn
schon jetzt in der gesamten Dorfflur auf jede Bauernfamilie? Etwa
mehr, als daß man jedem Bauern e i n e n Jagdtag und Fischtag
im Jahr freigeben könnte?
"Herabsetzung des gesetzlichen und konventionellen Zinsfußes" -
also erneuerte Wuchergesetze, erneuerter Versuch, eine Polizei-
maßregel durchzuführen, die seit zweitausend Jahren stets und
überall gescheitert ist. Kommt der Kleinbauer in die Lage, wo es
für ihn das kleinere Übel ist, zum Wucherer zu gehn, so findet
der Wucherer immer die Mittel, ihn auszusaugen, ohne dem Wucher-
gesetz zu verfallen. Diese Maßregel könnte höchstens zur Be-
schwichtigung des Kleinbauern dienen, Vorteil bringt sie ihm
nicht; im Gegenteil, sie erschwert ihm den Kredit grade dann,
wenn er ihn am nötigsten hat.
"Kostenfreie ärztliche Behandlung und Lieferung der Arzneien zum
Kostenpreis" -
dies ist jedenfalls keine spezielle Bauernschutzmaßregel; das
deutsche Programm geht weiter und verlangt auch kostenfreie Arz-
nei.
#497# Kapitel I
-----
"Entschädigung der Familien einberufener Reservisten während der
Dienstzeit" -
besteht bereits, wenn auch in höchst unzureichender Gestalt, in
Deutschland und Österreich und ist ebenfalls keine spezielle Bau-
ernforderung.
"Herabsetzung der Transporttarife für Dünger und landwirtschaft-
liche Maschinen und Produkte" -
ist in Deutschland im wesentlichen durchgeführt, und zwar haupt-
sächlich im Interesse der - Großgrundbesitzer.
"Sofortige Vorbereitungsarbeiten zu einem Plan für öffentliche
Arbeiten zur Verbesserung des Bodens und Hebung der landwirt-
schaftlichen Produktion" -
läßt alles im weiten Feld der Unbestimmtheit und der schönen
Versprechungen und liegt ebenfalls im Interesse vor allem des
Großgrundbesitzes.
Kurz, nach all dem gewaltigen theoretischen Anlauf der Motivie-
rung geben uns die praktischen Vorschläge des neuen Agrarpro-
gramms erst recht keinen Aufschluß, wie die französische Arbei-
terpartei es fertigbringen will, die Kleinbauern im Besitz eines
Parzelleneigentums zu erhalten, das nach ihrer eignen Aussage un-
rettbar dem Untergang geweiht ist.
#498#
-----
II
In einem Punkt haben unsre französischen Genossen unbedingt
recht: g e g e n den Kleinbauer ist in Frankreich keine dau-
ernde Umwälzung möglich. Nur scheint mir, daß, um dem Bauern bei-
zukommen, sie den Hebel nicht am richtigen Punkt angesetzt haben.
Sie gehn, wie es scheint, darauf aus, den Kleinbauer von heute
auf morgen, womöglich schon für die nächste allgemeine Wahl zu
gewinnen. Das können sie nur zu erreichen hoffen durch sehr ge-
wagte allgemeine Zusicherungen, zu deren Verteidigung sie genö-
tigt sind, noch weit gewagtere theoretische Erwägungen vom Stapel
zu lassen. Sieht man dann näher zu, so findet man, daß die allge-
meinen Zusicherungen sich selbst widersprechen (Zusage, einen Zu-
stand erhalten zu wollen, den man selbst für unrettbar dem Unter-
gang geweiht erklärt) und daß die einzelnen Maßregeln entweder
ganz wirkungslos sind (Wuchergesetze) oder aber allgemeine Arbei-
terforderungen oder solche, die auch dem Großgrundbesitz zugute
kommen, oder endlich solche, deren Tragweite im Interesse des
Kleinbauern keineswegs sehr bedeutend ist; so daß der direkt
praktische Teil des Programms von selbst den ersten verfehlten
Anlauf berichtigt und die gefährlich aussehenden großen Worte der
Motivierung auf ein tatsächlich unschuldiges Maß reduziert.
Sagen wir es grade heraus: Bei den aus seiner ganzen ökonomischen
Lage, seiner Erziehung, seiner isolierten Lebensweise entsprin-
genden und durch die bürgerliche Presse und die Großgrundbesitzer
genährten Vorurteilen können wir die Masse der Kleinbauern von
heute auf morgen nur gewinnen, wenn wir ihnen etwas versprechen,
wovon wir selbst wissen, daß wir es nicht halten können. Wir müs-
sen ihnen eben versprechen, ihren Besitz nicht nur gegen alle an-
stürmenden ökonomischen Mächte unter allen Umständen zu schützen,
sondern auch ihn von den ihn schon jetzt bedrückenden Lasten zu
befreien: den Pächter in einen freien Eigentümer
#499# Kapitel II
-----
zu verwandeln, dem der Hypothek erliegenden Eigentümer seine
Schulden zu bezahlen. Könnten wir das, so wären wir wieder da,
von wo aus der heutige Zustand sich mit Notwendigkeit von neuem
entwickelt. Wir hätten den Bauern nicht befreit, wir hätten ihm
eine Galgenfrist verschafft.
Es ist aber nicht unser Interesse, den Bauer von heute auf morgen
zu gewinnen, damit er uns, wenn wir das Versprechen nicht halten
können, von morgen auf übermorgen wieder abfällt. Wir können den
Bauer, der uns zumutet, ihm sein Parzelleneigentum zu verewigen,
nicht als Parteigenossen brauchen, ebensowenig wie den kleinen
Handwerksmeister, der sich als Meister verewigen will. Diese
Leute gehören zu den Antisemiten. Mögen sie zu diesen gehn, sich
von diesen die Rettung ihres kleinen Betriebs versprechen lassen;
haben sie dort erfahren, was es mit diesen glänzenden Phrasen auf
sich hat und welche Melodien die Geigen spielen, von denen der
antisemitische Himmel voll hängt, dann werden sie in stets wach-
sendem Maß einsehn, daß wir, die wir weniger versprechen und die
Rettung in einer ganz andern Richtung suchen, daß wir doch die
sicherern Leute sind. Hätten die Franzosen, wie wir, eine lär-
mende antisemitische Demagogie, sie hätten den Fehler von Nantes
schwerlich gemacht.
Was ist denn unsre Stellung zur Kleinbauernschaft? Und wie werden
wir mit ihr verfahren müssen am Tag, wo uns die Staatsmacht zu-
fällt?
Erstens ist der Satz des französischen Programms unbedingt rich-
tig: daß wir den unvermeidlichen Untergang des Kleinbauern vor-
aussehn, aber keineswegs berufen sind, ihn durch Eingriffe uns-
rerseits zu beschleunigen.
Und zweitens ist es ebenso handgreiflich, daß, wenn wir im Besitz
der Staatsmacht sind, wir nicht daran denken können, die Klein-
bauern gewaltsam zu expropriieren (einerlei, ob mit oder ohne
Entschädigung), wie wir dies mit den Großgrundbesitzern zu tun
genötigt sind. Unsre Aufgabe gegenüber dem Kleinbauer besteht
zunächst darin, seinen Privatbetrieb und Privatbesitz in einen
genossenschaftlichen überzuleiten, nicht mit Gewalt, sondern
durch Beispiel und Darbietung von gesellschaftlicher Hilfe zu
diesem Zweck. Und da haben wir allerdings Mittel genug, um dem
Kleinbauer Vorteile in Aussicht zu stellen, die ihm schon jetzt
einleuchten müssen.
Schon vor fast zwanzig Jahren haben die dänischen Sozialisten,
die in ihrem Land nur eine eigentliche Stadt - Kopenhagen - be-
sitzen, also außerhalb dieser fast nur auf Bauernpropaganda ange-
wiesen sind, derartige Pläne entworfen. Die Bauern eines Dorfs
oder Kirchspiels - es gibt in Dänemark viel große Einzelhöfe -
sollten ihr Land zu einem großen Gut zusammenwerfen, es für ge-
meinsame Rechnung bebauen und den Ertrag
#500# Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland
-----
nach Verhältnis der eingeschlossenen Bodenstücke, Geldvorschüsse
und Arbeitsleistungen teilen. In Dänemark spielt der Kleinbesitz
nur eine Nebenrolle. Wenden wir aber die Idee auf ein Parzellen-
gebiet an, so werden wir finden, daß beim Zusammenwerfen der Par-
zellen und Großkultur ihrer Gesamtfläche ein Teil der bisher be-
schäftigten Arbeitskräfte überflüssig wird; in dieser Arbeitser-
sparnis liegt ja gerade einer der Hauptvorteile der Großkultur.
Für diese Arbeitskräfte kann Beschäftigung gefunden werden auf
zwei Wegen. Entweder man stellt der Bauerngenossenschaftweitere
Landstrecken zur Verfügung aus benachbarten großen Gütern; oder
aber man verschafft ihnen die Mittel und Gelegenheit zu industri-
eller Nebenarbeit, möglichst und vorwiegend für eigenen Gebrauch.
In beiden Fällen stellt man sie in eine ökonomisch bessere Lage
und sichert gleichzeitig der allgemein-gesellschaftlichen Leitung
den nötigen Einfluß, um die Bauerngenossenschaft allmählich in
eine höhere Form überzuführen und die Rechte und Pflichten sowohl
der Genossenschaft im ganzen wie ihrer einzelnen Mitglieder mit
denen der übrigen Zweige der großen Gemeinschaft auszugleichen.
Wie das im einzelnen in jedem Spezialfall auszuführen, wird von
den Umständen des Falls und von den Umständen abhängen, unter
denen wir Besitz von der öffentlichen Gewalt ergreifen. So werden
wir möglicherweise imstande sein, diesen Genossenschaften noch
weitere Vorteile zu bieten: Übernahme ihrer Gesamthypotheken-
schuld durch die Nationalbank unter starker Zinsherabsetzung,
Vorschüsse aus öffentlichen Mitteln zur Einrichtung des Großbe-
triebs (Vorschüsse nicht notwendig oder vorzugsweise in Geld,
sondern in den nötigen Produkten selbst: Maschinen, Kunstdünger
etc.) und noch andere Vorteile.
Die Hauptsache bei alledem ist und bleibt die, den Bauern be-
greiflich zu machen, daß wir ihnen ihren Haus- und Feldbesitz nur
retten, nur erhalten können durch Verwandlung in genossenschaft-
lichen Besitz und Betrieb. Es ist ja grade die durch den Einzel-
besitz bedingte Einzelwirtschaft, die die Bauern dem Untergang
zutreibt. Beharren sie auf dem Einzelbetrieb, so werden sie un-
vermeidlich von Haus und Hof verjagt, ihre veraltete Produktions-
weise durch den kapitalistischen Großbetrieb verdrängt. So liegt
die Sache; und da kommen wir und bieten den Bauern die Möglich-
keit, den Großbetrieb selbst einzuführen, nicht für kapitalisti-
sche, sondern für ihre eigne gemeinsame Rechnung. Daß dies in ih-
rem eignen Interesse, daß es ihr einziges Rettungsmittel ist, das
sollte den Bauern nicht begreiflich zu machen sein?
Wir können nun und nimmermehr den Parzellenbauern die Erhaltung
des Einzeleigentums und des Einzelbetriebs gegen die Übermacht
der kapitalistischen
#501# Kapitel II
-----
Produktion versprechen. Wir können ihnen nur versprechen, daß wir
nicht wider ihren Willen gewaltsam in ihre Eigentumsverhältnisse
eingreifen werden. Wir können ferner dafür eintreten, daß der
Kampf der Kapitalisten und Großgrundbesitzer gegen die Kleinbau-
ern schon heute mit möglichst wenig unrechtlichen Mitteln geführt
und direkter Raub oder Prellerei, wie sie nur zu häufig vor-
kommen, möglichst verhindert wird. Das wird nur ausnahmsweise
gelingen. In der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise
weiß kein Mensch, wo die Ehrlichkeit aufhört und die Prellerei
anfängt. Aber es wird immer einen bedeutenden Unterschied machen,
ob die öffentliche Gewalt auf Seite des Prellers oder des
Geprellten steht. Und wir stehn ja entschieden auf Seite des
Kleinbauern; wir werden alles nur irgend Zulässige tun, um sein
Los erträglicher zu machen, um ihm den Übergang zur Genossen-
schaft zu erleichtern, falls er sich dazu entschließt, ja sogar
um ihm, falls er diesen Entschluß noch nicht fassen kann, eine
verlängerte Bedenkzeit auf seiner Parzelle zu ermöglichen. Wir
tun dies nicht nur, weil wir den selbstarbeitenden Kleinbauer als
virtuell zu uns gehörend betrachten, sondern auch aus direktem
Parteiinteresse. Je größer die Anzahl der Bauern ist, denen wir
den wirklichen Absturz ins Proletariat ersparen, die wir schon
als Bauern für uns gewinnen können, desto rascher und leichter
vollzieht sich die gesellschaftliche Umgestaltung. Es kann uns
nicht dienen, wenn wir mit dieser Umgestaltung warten müßten, bis
die kapitalistische Produktion sich überall bis auf ihre letzten
Konsequenzen entwickelt hat, bis auch der letzte Kleinhandwerker
und der letzte Kleinbauer dem kapitalistischen Großbetrieb zum
Opfer gefallen sind. Die materiellen Opfer, die in diesem Sinn im
Interesse der Bauern aus öffentlichen Mitteln zu bringen sind,
können vom Standpunkt der kapitalistischen Ökonomie aus nur als
weggeworfenes Geld erscheinen, aber sie sind trotzdem eine vor-
treffliche Anlage, denn sie ersparen vielleicht den zehnfachen
Betrag bei den Kosten der gesellschaftlichen Reorganisation über-
haupt. In diesem Sinn können wir also sehr liberal mit den Bauern
verfahren. Auf einzelnes einzugehn, bestimmte Vorschläge in die-
ser Richtung zu machen, ist hier nicht der Ort; es kann sich hier
nur um die allgemeinen Grundzüge handeln.
Hiernach also können wir nicht nur der Partei, sondern auch den
Kleinbauern selbst keinen schlimmeren Dienst erweisen als durch
Zusagen, die auch nur den Schein erwecken, wir beabsichtigten die
dauernde Erhaltung des Parzelleneigentums. Das hieße den Bauern
direkt den Weg zu ihrer Befreiung versperren und die Partei her-
abwürdigen auf das Niveau des Radau-Antisemitismus. Im Gegenteil.
Es ist die Pflicht unsrer Partei, den Bauern immer und immer wie-
der die absolute Rettungslosigkeit ihrer Lage,
#502# Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland
-----
solange der Kapitalismus herrscht, klarzumachen, die absolute
Unmöglichkeit, ihnen ihr Parzelleneigentum als solches zu erhal-
ten, die absolute Gewißheit, daß die kapitalistische Großproduk-
tion über ihren machtlosen veralteten Kleinbetrieb hinweggehn
wird wie ein Eisenbahnzug über eine Schubkarre. Tun wir das, so
handeln wir im Sinne der unvermeidlichen ökonomischen Entwick-
lung, und diese wird den Kleinbauern schon offne Köpfe machen für
unsere Worte.
Im übrigen kann ich diesen Gegenstand nicht verlassen, ohne die
Überzeugung auszusprechen, daß auch die Verfasser des Programms
von Nantes im wesentlichen mit mir derselben Ansicht sind. Sie
sind viel zu einsichtig, um nicht zu wissen, daß auch das jetzt
im Parzelleneigentum befindliche Landgebiet bestimmt ist, in Ge-
meinbesitz überzugehn. Sie selbst geben zu, daß das Parzellenei-
gentum berufen ist zu verschwinden. Das von Lafargue verfaßte
Referat des Nationalrats auf dem Kongreß von Nantes bestätigt
denn auch diese Ansicht vollauf. Es ist deutsch veröffentlicht im
Berliner "Sozialdemokrat" vom 18.0ktober d.J. Das Widerspruchs-
volle in der Ausdrucksweise des Programms von Nantes verrät
schon, daß das, was die Verfasser wirklich sagen, nicht das ist,
was sie zu sagen beabsichtigen. Werden sie nicht verstanden und
ihre Aussage gemißbraucht, wie das in der Tat schon geschehen
ist, so ist das allerdings ihre eigne Schuld. Jedenfalls werden
sie ihr Programm näher erklären und wird der nächste französische
Kongreß es gründlich revidieren müssen.
Kommen wir nun zu den größren Bauern. Hier findet sich infolge
hauptsächlich von Erbteilungen, aber auch von Verschuldung und
Zwangsverkäufen von Land, eine ganze Musterkarte von Zwischenstu-
fen vom Parzellenbauer bis zum Großbauer, der seine volle alte
Hufe und selbst darüber besitzt. Wo der Mittelbauer unter Parzel-
lenbauern wohnt, wird er in seinen Interessen und Anschauungen
sich von diesen nicht wesentlich unterscheiden; muß ihm doch die
eigne Erfahrung sagen, wie viele seinesgleichen schon zu Klein-
bauern herabgesunken sind. Wo aber Mittel- und Großbauern vor-
herrschen und der Wirtschaftsbetrieb allgemein die Hilfe von
Knechten und Mägden erfordert, da steht die Sache ganz anders.
Eine Arbeiterpartei hat natürlich in erster Linie für die Lohnar-
beiter einzutreten, also für die Knechte, Mägde und Taglöhner; es
verbietet sich ihr damit von selbst, den Bauern irgendwelche Ver-
sprechungen zu machen, die die Fortdauer der Lohnknechtschaft der
Arbeiter einschließen. Solange aber die Groß- und Mittelbauern
als solche fortbestehn, solange können sie ohne Lohnarbeiter
nicht auskommen. Ist es also von unsrer Seite eine einfache Tor-
heit, den Parzellenbauern ihre dauernde Fortexistenz als
Parzellenbauern
#503# Kapitel II
-----
in Aussicht zu stellen, so grenzte es schon direkt an Verrat,
wollten wir den Groß- und Mittelbauern dasselbe versprechen.
Wir haben hier wieder die Parallele mit den Handwerkern der
Städte. Sie sind zwar schon mehr dem Ruin verfallen als die Bau-
ern, aber es gibt doch auch noch welche, die neben Lehrlingen Ge-
sellen beschäftigen oder bei denen Lehrlinge Gesellenarbeit tun.
Diejenigen dieser Handwerksmeister, die als solche sich verewigen
wollen, mögen zu den Antisemiten gehn, bis sie sich überzeugt ha-
ben, daß ihnen auch dort nicht geholfen wird. Die übrigen, die
die Unvermeidlichkeit des Untergangs ihrer Produktionsweise
eingesehn, kommen zu uns, sind aber auch bereit, in der Zukunft
das Schicksal zu teilen, das allen andern Arbeitern bevorsteht.
Nicht anders mit den Groß- und Mittelbauern. Ihre Knechte, Mägde
und Tag-löhner interessieren uns selbstredend mehr als sie. Wol-
len diese Bauern die Garantie der Fortdauer ihres Betriebs, so
können wir ihnen das absolut nicht bieten. Ihr Platz ist dann bei
den Antisemiten, Bauernbündlern und dergleichen Parteien, die
sich ein Vergnügen daraus machen, alles zu versprechen und nichts
zu halten. Wir haben die ökonomische Gewißheit, daß auch der
Groß- und Mittelbauer vor der Konkurrenz des kapitalistischen Be-
triebs und der wohlfeilen überseeischen Kornproduktion unfehlbar
erliegen muß, wie die wachsende Verschuldung und der überall
sichtbare Verfall auch dieser Bauern beweist. Wir können gegen
diesen Verfall nichts tun, als auch hier die Zusammenlegung der
Güter zu genossenschaftlichen Betrieben empfehlen, bei denen die
Ausbeutung der Lohnarbeit mehr und mehr beseitigt und die allmäh-
liche Verwandlung in gleichberechtigte und gleichverpflichtete
Zweige der großen nationalen Produktionsgenossenschaft eingelei-
tet werden kann. Sehen diese Bauern die Unvermeidlichkeit des Un-
tergangs ihrer jetzigen Produktionsweise ein, ziehen sie die not-
wendigen Konsequenzen daraus, so kommen sie zu uns, und es wird
unsres Amtes sein, auch ihnen den Übergang in die veränderte Pro-
duktionsweise nach Kräften zu erleichtern. Andernfalls müssen wir
sie ihrem Schicksal überlassen und uns an ihre Lohnarbeiter wen-
den, bei denen wir schon Anklang finden werden. Von einer gewalt-
samen Expropriation werden wir auch hier wahrscheinlich absehen
und im übrigen darauf rechnen können, daß die ökonomische Ent-
wicklung auch diese härteren Schädel der Vernunft zugänglich ma-
chen wird.
Ganz einfach liegt die Sache nur beim Großgrundbesitz. Hier haben
wir unverhüllten kapitalistischen Betrieb, und da gelten keine
Skrupel irgendwelcher Art. Wir haben hier Landproletarier in Mas-
sen vor uns, und unsre Aufgabe ist klar. Sobald unsre Partei im
Besitz der Staatsmacht ist,
#504# Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland
-----
hat sie die Großgrundbesitzer einfach zu expropriieren, ganz wie
die industriellen Fabrikanten. Ob diese Expropriation mit oder
ohne Entschädigung erfolgt, wird großenteils nicht von uns abhän-
gen, sondern von den Umständen, unter denen wir in den Besitz der
Macht kommen, und namentlich auch von der Haltung der Herren
Großgrundbesitzer selbst. Eine Entschädigung sehen wir keineswegs
unter allen Umständen als unzulässig an; Marx hat mir - wie oft!
- als seine Ansicht ausgesprochen, wir kämen am wohlfeilsten weg,
wenn wir die ganze Bande auskaufen könnten. Doch das geht uns
hier nichts an. Die so der Gesamtheit zurückgegebenen großen Gü-
ter hätten wir den sie schon jetzt bebauenden, in Genossenschaf-
ten zu organisierenden Landarbeitern zur Benutzung unter Kon-
trolle der Gesamtheit zu überlassen. Unter welchen Modalitäten,
darüber läßt sich jetzt noch nichts feststellen. Jedenfalls ist
die Verwandlung des kapitalistischen Betriebs in gesellschaftli-
chen hier schon vollständig vorbereitet und kann über Nacht
vollzogen werden, ganz wie z. B. bei Herrn Krupps oder Herrn von
Stumms Fabrik. Und das Beispiel dieser Ackerbaugenossenschaften
würde auch die letzten etwa noch widerstrebenden Parzellenbauern
und wohl auch manche Großbauern von den Vorteilen des genossen-
schaftlichen Großbetriebs überzeugen.
Hier also können wir den Landproletariern eine Aussicht eröffnen,
ebenso glänzend wie die, welche dem Industriearbeiter winkt. Und
hiermit die Landarbeiter des ostelbischen Preußens zu erobern,
kann für uns nur eine Frage der Zeit, und zwar der kürzesten,
sein. Haben wir aber die ostelbischen Landarbeiter, so weht so-
fort in ganz Deutschland ein anderer Wind. Die tatsächliche halbe
Leibeigenschaft der ostelbischen Landarbeiter ist die Hauptgrund-
lage der preußischen Junkerherrschaft und damit der spezifisch
preußischen Oberherrschaft in Deutschland. Es sind die ost-
elbischen, mehr und mehr der Verschuldung, Verarmung, dem Schma-
rotzertum auf Staats- und Privatkosten verfallenden und ebendes-
halb um so gewaltsamer sich an ihre Herrschaft ankrallenden Jun-
ker, die den spezifisch preußischen Charakter der Bürokratie wie
des Offizierskorps der Armee geschaffen haben und erhalten; deren
Hochmut, Beschränktheit und Arroganz das Deutsche Reich preußi-
scher Nation im Inland - bei aller Einsicht in seine augenblick-
liche Unvermeidlichkeit als derzeit einzig erlangbare Form der
nationalen Einheit - so verhaßt und im Ausland, trotz aller glän-
zenden Siege, so wenig respektiert gemacht haben. Die Macht die-
ser Junker beruht darauf, daß sie in dem geschlossenen Gebiet der
sieben altpreußischen Provinzen - also etwa einem Drittel des
ganzen Reichsgebiets - über den Grundbesitz verfügen, der hier
die gesellschaftliche und politische
#505# Kapitel II
-----
Macht mit sich führt, und nicht nur über den Grundbesitz, sondern
vermittelst der Rübenzuckerfabriken und Schnapsbrennereien auch
über die bedeutendsten Industrien dieses Gebiets. Weder die Groß-
grundbesitzer des übrigen Deutschlands noch die Großindustriellen
sind in einer ähnlich günstigen Lage; über ein geschlossenes Kö-
nigreich verfügen weder diese noch jene. Beide sind über weite
Strecken zerstreut und miteinander wie mit andern sie umgebenden
gesellschaftlichen Elementen in Konkurrenz um die ökonomische und
politische Vormacht. Aber diese Machtstellung der preußischen
Junker verliert mehr und mehr ihre ökonomische Unterlage. Die
Verschuldung und Auspowerung greift auch hier trotz aller Staats-
hilfe (und seit Friedrich II. gehört diese in jedes regelrechte
Junkerbudget) unaufhaltsam um sich; nur die durch Gesetzgebung
und Gewohnheit sanktionierte tatsächliche halbe Leibeigenschaft
und hierdurch ermöglichte grenzenlose Ausbeutung der Landarbeiter
hält die versinkende Junkerschaft noch eben über Wasser. Werft
den Samen der Sozialdemokratie unter diese Arbeiter, gebt ihnen
den Mut und den Zusammenhalt, auf ihren Rechten zu bestehen, und
es ist aus mit der Junkerherrlichkeit. Die große reaktionäre
Macht, die für Deutschland dasselbe barbarische, erobernde Ele-
ment repräsentiert wie der russische Zarismus für ganz Europa,
sinkt in sich zusammen wie eine angestochne Blase. Die
"Kernregimenter" der preußischen Armee werden sozialdemokratisch,
und damit vollzieht sich eine Machtverschiebung, die eine ganze
Umwälzung in ihrem Schöße trägt. Darum aber ist die Gewinnung der
ostelbischen Landproletarier von weitaus größerer Wichtigkeit als
die der westdeutschen Kleinbauern oder gar der süddeutschen Mit-
telbauern. Hier, im ostelbischen Preußen, liegt unser entschei-
dendes Schlachtfeld, und deshalb wird Regierung und Junkerschaft
alles aufbieten, uns hier den Zugang zu verschließen. Und wenn es
- wie man uns droht - zu neuen Gewaltmaßregeln kommen sollte zur
Verhinderung der Ausbreitung unserer Partei, so wird dies gesche-
hen vor allem, um das ostelbische Landproletariat vor unserer
Propaganda zu schützen. Uns kann's gleich sein. Wir erobern es
doch.
---
zurück