Quelle: Januar 1890 - August 1895


       zurück

       #509#
       -----
       Einleitung [zu Karl Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich
       1848 bis 1850" (1895)] [433]
       
       Die hiermit  neu herausgegebene  Arbeit war Marx' erster Versuch,
       ein Stück  Zeitgeschichte  vermittelst  seiner  materialistischen
       Auffassungsweise aus der gegebenen ökonomischen Lage zu erklären.
       Im "Kommunistischen  Manifest" war die Theorie in großen Umrissen
       auf die  ganze neuere  Geschichte angewandt,  in Marx' und meinen
       Artikeln der  "Neuen Rheinischen Zeitung" war sie fortwährend be-
       nutzt worden  zur Deutung  gleichzeitiger politischer Ereignisse.
       Hier dagegen  handelte es sich darum, im Verlauf einer mehrjähri-
       gen, für  ganz Europa sowohl kritischen wie typischen Entwicklung
       den inneren  Kausalzusammenhang nachzuweisen,  also, im  Sinn des
       Verfassers, die politischen Begebenheiten zurückzuführen auf Wir-
       kungen von in letzter Instanz ökonomischen Ursachen.
       Bei der  Beurteilung von  Ereignissen und  Ereignisreihen aus der
       Tagesgeschichte  wird   man  nie   imstande  sein,  bis  auf  die
       l e t z t e n   ökonomischen Ursachen  zurückzugehn. Selbst heute
       noch, wo  die einschlägige  Fachpresse so  reichlichen Stoff lie-
       fert, wird  es sogar  in England  unmöglich bleiben, den Gang der
       Industrie und  des Handels  auf dem Weltmarkt und die in den Pro-
       duktionsmethoden eintretenden  Änderungen Teig  für Tag derart zu
       verfolgen, daß  man für jeden beliebigen Zeitpunkt das allgemeine
       Fazit aus  diesen mannigfach  verwickelten und  stets wechselnden
       Faktoren ziehen  kann, Faktoren,  von denen die wichtigsten oben-
       drein meist lange Zeit im verborgenen wirken, bevor sie plötzlich
       gewaltsam an  der Oberfläche sich geltend machen. Der klare Über-
       blick über die ökonomische Geschichte einer gegebenen Periode ist
       nie gleichzeitig,  ist nur  nachträglich, nach erfolgter Sammlung
       und Sichtung  des Stoffes,  zu gewinnen.  Die Statistik  ist hier
       notwendiges Hülfsmittel,  und sie  hinkt immer nach. Für die lau-
       fende Zeitgeschichte  wird man  daher nur  zu oft  genötigt sein,
       diesen den  entscheidendsten Faktor  als konstant,  die am Anfang
       der betreffenden Periode
       
       #510# Einleitung zu Marx' "Klastenkämpfe in Frankreich"
       -----
       vorgefundene ökonomische  Lage als  für die ganze Periode gegeben
       und unveränderlich  zu behandeln  oder nur  solche  Veränderungen
       dieser Lage  zu berücksichtigen,  die aus  den offen vorliegenden
       Ereignissen selbst  entspringen und  daher ebenfalls offen zutage
       liegen. Die  materialistische Methode wird sich daher hier nur zu
       oft darauf  beschränken müssen, die politischen Konflikte auf In-
       teressenkämpfe der  durch die  ökonomische Entwicklung gegebenen,
       vorgefundenen Gesellschaftsklassen  und Klassenfraktionen zurück-
       zuführen und  die einzelnen politischen Parteien nachzuweisen als
       den mehr  oder weniger adäquaten politischen Ausdruck dieser sel-
       ben Klassen und Klassenfraktionen.
       Es ist  selbstredend, daß  diese unvermeidliche  Vernachlässigung
       der gleichzeitigen  Veränderungen der  ökonomischen Lage, der ei-
       gentlichen Basis  aller zu  untersuchenden Vorgänge, eine Fehler-
       quelle sein  muß. Aber  alle Bedingungen  einer zusammenfassenden
       Darstellung der  Tagesgeschichte schließen  unvermeidlich Fehler-
       quellen in  sich; was  aber niemanden  abhält, Tagesgeschichte zu
       schreiben.
       Als Marx  diese Arbeit  unternahm, war  die erwähnte Fehlerquelle
       noch viel  unvermeidlicher. Während  der Revolutionszeit  1848/49
       die sich  gleichzeitig vollziehenden  ökonomischen Wandlungen  zu
       verfolgen oder  gar den  Überblick über sie zu behalten, war rein
       unmöglich. Ebenso  während der ersten Monate des Exils in London,
       Herbst und  Winter 1849/50. Das war aber gerade die Zeit, wo Marx
       die Arbeit  begann. Und  trotz dieser  Ungunst der Umstände befä-
       higte ihn  seine genaue  Kenntnis, sowohl  der ökonomischen  Lage
       Frankreichs vor wie der politischen Geschichte dieses Landes seit
       der Februarrevolution,  eine Darstellung der Ereignisse zu geben,
       die deren inneren Zusammenhang in einer auch seitdem unerreichten
       Weise aufdeckt und die später von Marx selbst angestellte zweifa-
       che Probe glänzend bestanden hat.
       Die erste  Probe erfolgte  dadurch, daß  seit Frühjahr  1850 Marx
       wieder Muße  gewann für ökonomische Studien und zunächst die öko-
       nomische Geschichte der letzten zehn Jahre vornahm. Dadurch wurde
       ihm aus  den Tatsachen selbst vollständig klar, was er bisher aus
       lückenhaftem Material halb aprioristisch gefolgert hatte: daß die
       Welthandelskrise von 1847 die eigentliche Mutter der Februar- und
       Märzrevolutionen gewesen  und daß  die seit Mitte 1848 allmählich
       wieder eingetretene, 1849 und 1850 zur vollen Blüte gekommene in-
       dustrielle Prosperität  die belebende Kraft der neuerstarkten eu-
       ropäischen Reaktion  war. Das  war entscheidend.  Während in  den
       drei ersten  Artikeln (erschienen  im Januar-, Februar- und März-
       heft der  "N[euen] Rh[einischen] Z[eitung]. Politisch-ökonomische
       Revue", Hamburg 1850)
       
       #511# Einleitung zu Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich"
       -----
       noch die  Erwartung eines  baldigen neuen Aufschwunges revolutio-
       närer Energie durchgeht, bricht die von Marx und mir verfaßte ge-
       schichtliche Übersicht des letzten, Herbst 1850 erschienenen Dop-
       pelheftes (Mai  bis Oktober)  ein für allemal mit diesen Illusio-
       nen: "Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen
       Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese." 14341 Das war
       aber auch  die einzige wesentliche Änderung, die vorzunehmen war.
       An der  in den  früheren Abschnitten gegebenen Deutung der Ereig-
       nisse, an den darin hergestellten ursächlichen Zusammenhängen war
       absolut nichts zu ändern, wie die in derselben Übersicht gegebene
       Fortführung der Erzählung vom 10. März bis in den Herbst 1850 be-
       weist. Ich  habe diese  Fortsetzung daher  als vierten Artikel in
       gegenwärtigen Neudruck mit aufgenommen.
       Die zweite  Probe war  noch härter.  Gleich nach Louis Bonapartes
       Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 bearbeitete Marx aufs neue die
       Geschichte Frankreichs  vom Februar 1848 bis auf dies die Revolu-
       tionsperiode einstweilen  abschließende Ereignis.  ("Der 18. Bru-
       maire des  Louis Bonaparte",  dritte  Auflage,  Hamburg,  Meißner
       1885. 1*))  In dieser  Broschüre ist  die in unserer Schrift dar-
       gestellte Periode,  wenn auch  kürzer, wieder behandelt. Man ver-
       gleiche diese  zweite, im  Licht des  über ein  Jahr später  fal-
       lenden, entscheidenden  Ereignisses geschriebene  Darstellung mit
       der unseren,  und man  wird finden,  daß der  Verfasser nur  sehr
       wenig zu ändern hatte.
       Was unserer  Schrift noch eine ganz besondere Bedeutung gibt, ist
       der Umstand, daß sie zuerst die Formel ausspricht, in welcher die
       allgemeine Einstimmung der Arbeiterparteien aller Länder der Welt
       ihre Forderung  der ökonomischen Neugestaltung kurz zusammenfaßt:
       die Aneignung  der Produktionsmittel  durch die  Gesellschaft. Im
       zweiten Kapitel,  gelegentlich des  "Rechts auf  Arbeit", das be-
       zeichnet wird als "erste unbeholfene Formel, worin sich die revo-
       lutionären Ansprüche  des Proletariats zusammenfassen", heißt es:
       "...aber hinter  dem Recht  auf Arbeit  steht die Gewalt über das
       Kapital, hinter  der Gewalt  über das  Kapital  d i e  A n e i g-
       n u n g   d e r   P r o d u k t i o n s m i t t e l,  ihre Unter-
       werfung unter  die assoziierte Arbeiterklasse, also die Aufhebung
       der Lohnarbeit  wie des Kapitals und ihres Wechselverhältnisses."
       2*) Hier  ist also  - zum  erstenmal - der Satz formuliert, durch
       den der  moderne Arbeitersozialismus  sich  scharf  unterscheidet
       ebensowohl von  allen verschiedenen  Schattierungen des feudalen,
       bürgerlichen, kleinbürgerlichen etc. Sozialismus wie auch von der
       konfusen Gütergemeinschaft  des utopischen wie des naturwüchsigen
       Arbeiterkommunismus. Wenn später
       -----
       1*) Siehe Band  8 unserer Ausgabe - 2*) siehe Band 7 unserer Aus-
       gabe, S. 41/42
       
       #512# Einleitung zu Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich"
       -----
       Marx die Formel ausdehnte auf Aneignung auch der Austauschmittel,
       so   sprach    diese   Erweiterung,   die   übrigens   nach   dem
       "Kommunistischen Manifest"  sich von selbst verstand, nur ein Ko-
       rollar des  Hauptsatzes aus.  Einige weise Leute in England haben
       dann neuerdings  noch hinzugefügt,  daß auch die "Mittel der Ver-
       teilung" der Gesellschaft überwiesen werden sollen. Es würde die-
       sen Herren  schwer werden,  zu sagen, welches denn diese, von den
       Produktions-  und  Austauschmitteln  verschiedenen,  ökonomischen
       Verteilungsmittel sind;  es seien denn  p o l i t i s c h e  Ver-
       teilungsmittel gemeint,  Steuern, Armenunterstützung, einschließ-
       lich der  Sachsenwald- [435]  und andern  Dotationen. Aber  diese
       sind erstens  ja schon  jetzt  Verteilungsmittel  im  Besitz  der
       Gesamtheit, des  Staates oder  der Gemeinde,  und zweitens wollen
       wir sie ja gerade abschaffen.
                                    ---
       Als die  Februarrevolution ausbrach, standen wir alle, was unsere
       Vorstellungen von  den Bedingungen und dem Verlauf revolutionärer
       Bewegungen betraf,  unter dem Bann der bisherigen geschichtlichen
       Erfahrung, namentlich  derjenigen Frankreichs. Diese letztere war
       es ja  gerade, die die ganze europäische Geschichte seit 1789 be-
       herrscht hatte,  von der  auch jetzt wieder das Signal zur allge-
       meinen Umwälzung  ausgegangen war. So war es selbstredend und un-
       vermeidlich, daß  unsere Vorstellungen von der Natur und dem Gang
       der in  Paris, im  Februar 1848, proklamierten "sozialen" Revolu-
       tion, der  Revolution des Proletariats, stark gefärbt waren durch
       die Erinnerungen  der Vorbilder  von 1789-1830. Und vollends, als
       die Pariser  Erhebung ihr Echo fand in den siegreichen Aufständen
       von Wien,  Mailand, Berlin,  als ganz Europa bis an die russische
       Grenze in  die Bewegung  hineingerissen war;  als dann im Juni in
       Paris die  erste große Schlacht um die Herrschaft zwischen Prole-
       tariat und  Bourgeoisie geschlagen wurde; als selbst der Sieg ih-
       rer Klasse  die Bourgeoisie aller Länder so erschütterte, daß sie
       wieder in  die Arme der eben erst gestürzten monarchisch-feudalen
       Reaktion zurückfloh - da konnte unter damaligen Umständen für uns
       kein Zweifel  sein, daß  der große Entscheidungskampf angebrochen
       sei, daß  er ausgefochten  werden müsse  in einer einzigen langen
       und wechselvollen Revolutionsperiode, daß er aber nur enden könne
       mit dem endgültigen Sieg des Proletariats.
       Wir teilten nach den Niederlagen von 1849 keineswegs die Illusio-
       nen der  um die  provisorischen Zukunftsregierungen  in  partibus
       [436] gruppierten Vulgärdemokratie. Diese rechnete auf einen bal-
       digen, ein für allemal entscheidenden
       
       #513# Einleitung zu Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich"
       -----
       Sieg des "Volkes" über die "Dränger"; wir auf einen langen Kampf,
       nach Beseitigung  der "Dränger",  unter den in eben diesem "Volk"
       sich verbergenden gegensätzlichen Elementen. Die Vulgärdemokratie
       erwartete den erneuten Losbruch von heute auf morgen; wir erklär-
       ten schon  Herbst 1850,  daß wenigstens der  e r s t e  Abschnitt
       der revolutionären  Periode abgeschlossen  und nichts zu erwarten
       sei bis zum Ausbruch einer neuen ökonomischen Weltkrise. Weswegen
       wir auch  in Acht und Bann getan wurden als Verräter an der Revo-
       lution, von  denselben Leuten, die nachher fast ohne Ausnahme ih-
       ren Frieden  mit Bismarck gemacht haben - soweit Bismarck sie der
       Mühe wert fand.
       Die Geschichte  hat aber auch uns unrecht gegeben, hat unsere da-
       malige Ansicht  als eine  Illusion enthüllt.  Sie ist noch weiter
       gegangen: Sie  hat nicht  nur unseren  damaligen Irrtum zerstört,
       sie hat  auch die  Bedingungen total  umgewälzt, unter  denen das
       Proletariat zu kämpfen hat. Die Kampf-weise von 1848 ist heute in
       jeder Beziehung  veraltet, und  das ist ein Punkt, der bei dieser
       Gelegenheit näher untersucht zu werden verdient.
       Alle bisherigen  Revolutionen liefen  hinaus auf  die Verdrängung
       einer bestimmten Klassenherrschaft durch eine andere; alle bishe-
       rigen herrschenden  Klassen waren aber nur kleine Minoritäten ge-
       genüber der  beherrschten Volksmasse.  Eine herrschende Minorität
       wurde so  gestürzt, eine andere Minorität ergriff an ihrer Stelle
       das Staatsruder  und modelte  die Staatseinrichtungen  nach ihren
       Interessen um.  Es war dies jedesmal die durch den Stand der öko-
       nomischen Entwicklung zur Herrschaft befähigte und berufene Mino-
       ritätsgruppe, und  gerade deshalb und nur deshalb geschah es, daß
       die beherrschte  Majorität sich bei der Umwälzung entweder zugun-
       sten jener beteiligte oder sich doch die Umwälzung ruhig gefallen
       ließ. Aber  wenn wir  vom jedesmaligen  konkreten Inhalt absehen,
       war die  gemeinsame Form  aller dieser  Revolutionen die, daß sie
       Minoritätsrevolutionen waren. Selbst wenn die Majorität dazu mit-
       tat, geschah  es -  wissentlich oder  nicht - nur im Dienst einer
       Minorität; diese  aber erhielt dadurch, oder auch schon durch die
       passive widerstandslose  Haltung der Majorität, den Anschein, als
       sei sie Vertreterin des ganzen Volkes.
       Nach dem  ersten großen  Erfolg spaltete  sich in  der Regel  die
       siegreiche Minorität;  die eine  Hälfte war mit dem Erlangten zu-
       frieden, die  andere wollte noch weiter gehn, stellte neue Forde-
       rungen, die  wenigstens teilweise auch im wirklichen oder schein-
       baren Interesse  der großen  Volksmenge waren.  Diese radikaleren
       Forderungen wurden  auch in einzelnen Fällen durchgesetzt; häufig
       aber nur für den Augenblick, die gemäßigtere Partei erlangte wie-
       der die Oberhand, das zuletzt Gewonnene ging ganz oder teilweise
       
       #514# Einleitung zu Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich"
       -----
       wieder verloren;  die Besiegten  schrieen dann  über Verrat  oder
       schoben die  Niederlage auf  den Zufall. In Wirklichkeit aber lag
       die Sache meist so: Die Errungenschaften des ersten Sieges wurden
       erst sichergestellt  durch den  zweiten Sieg der radikaleren Par-
       tei; war  dies und  damit das  augenblicklich Nötige erreicht, so
       verschwanden die  Radikalen und  ihre Erfolge  wieder vom  Schau-
       platz.
       Alle Revolutionen  der neueren  Zeit, angefangen  von der  großen
       englischen des  siebzehnten Jahrhunderts, zeigten diese Züge, die
       untrennbar schienen  von jedem revolutionären Kampf. Sie schienen
       anwendbar auch auf die Kämpfe des Proletariats um seine Emanzipa-
       tion; anwendbar  um so  mehr, als gerade 1848 die Leute zu zählen
       waren, die  auch nur einigermaßen verstanden, in welcher Richtung
       diese Emanzipation  zu  suchen  war.  Die  proletarischen  Massen
       selbst waren  sogar in Paris noch nach dem Sieg absolut im unkla-
       ren über  den einzuschlagenden Weg. Und doch war die Bewegung da,
       instinktiv, spontan,  ununterdrückbar. War  das nicht  gerade die
       Lage, worin eine Revolution gelingen mußte, geleitet zwar von ei-
       ner Minorität,  aber diesmal  nicht im  Interesse der  Minorität,
       sondern im eigentlichsten Interesse der Majorität? Waren in allen
       längeren revolutionären Perioden die großen Volksmassen so leicht
       durch bloße  plausible Vorspiegelungen der vorwärtsdrängenden Mi-
       noritäten zu  gewinnen, wie  sollten sie  weniger zugänglich sein
       für Ideen,  die der  eigenste Reflex ihrer ökonomischen Lage, die
       nichts anderes waren als der klare, verstandesgemäße Ausdruck ih-
       rer von ihnen selbst noch unverstandenen, nur erst unbestimmt ge-
       fühlten Bedürfnisse?  Allerdings hatte  diese revolutionäre Stim-
       mung der  Massen fast immer, und meist sehr bald, einer Ermattung
       oder gar  einem Umschlag  ins Gegenteil Platz gemacht, sobald die
       Illusion verraucht,  die Enttäuschung  eingetreten war. Aber hier
       handelte es  sich nicht um Vorspiegelungen, sondern um die Durch-
       führung der eigentlichsten Interessen der großen Mehrheit selbst,
       Interessen, die  zwar damals  dieser großen  Mehrheit  keineswegs
       klar waren,  die ihr aber bald genug klar werden mußten, im Laufe
       der praktischen  Durchführung,  durch  den  überzeugenden  Augen-
       schein. Und wenn nun gar, wie im dritten Artikel von Marx nachge-
       wiesen, im  Frühjahr 1850  die Entwicklung der aus der "sozialen"
       Revolution von 1848 erstandenen bürgerlichen Republik die wirkli-
       che Herrschaft  in den  Händen der - obendrein monarchistisch ge-
       sinnten -  großen Bourgeoisie  konzentriert, dagegen alle anderen
       Gesellschaftsklassen, Bauern  wie Kleinbürger, um das Proletariat
       gruppiert hatte,  derart, daß  bei und  nach dem gemeinsamen Sieg
       nicht sie, sondern das durch Erfahrung gewitzigte Proletariat der
       entscheidende Faktor  werden mußte  - war  da nicht alle Aussicht
       vorhanden für
       
       #515# Einleitung zu Marx "Klassenkämpfe in Frankreich'
       -----
       den Umschlag  der Revolution  der Minorität in die Revolution der
       Majorität?
       Die Geschichte  hat uns  und allen,  die ähnlich dachten, unrecht
       gegeben. Sie hat klargemacht, daß der Stand der ökonomischen Ent-
       wicklung auf  dem Kontinent damals noch bei weitem nicht reif war
       für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion; sie hat dies
       bewiesen durch die ökonomische Revolution, die seit 1848 den gan-
       zen Kontinent  ergriffen und  die große  Industrie in Frankreich,
       Österreich, Ungarn,  Polen und  neuerdings Rußland  erst wirklich
       eingebürgert, aus Deutschland aber geradezu ein Industrieland er-
       sten Ranges  gemacht hat  - alles  auf kapitalistischer, im Jahre
       1848 also  noch sehr  ausdehnungsfähiger Grundlage.  Gerade diese
       industrielle Revolution  aber ist  es, die  überall erst Klarheit
       geschaffen hat  in den  Klassenverhältnissen, die  eine Menge von
       aus der  Manufakturperiode und im östlichen Europa selbst aus dem
       Zunfthandwerk her überkommenen Zwischenexistenzen beseitigt, eine
       wirkliche Bourgeoisie und ein wirkliches großindustrielles Prole-
       tariat erzeugt und in den Vordergrund der gesellschaftlichen Ent-
       wicklung gedrängt  hat. Dadurch  aber ist der Kampf dieser beiden
       großen Klassen,  der 1848  außerhalb Englands  nur in  Paris  und
       höchstens in  einigen großen  Industriezentren bestand, erst über
       ganz Europa  verbreitet worden  und hat  eine Intensität erlangt,
       wie sie  1848 noch undenkbar war. Damals die vielen unklaren Sek-
       tenevangelien mit  ihren Panazeen, heute die erne allgemein aner-
       kannte, durchsichtig klare, die letzten Zwecke des Kampfes scharf
       formulierende Theorie von Marx; damals die nach Lokalität und Na-
       tionalität geschiedenen  und verschiedenen,  nur durch das Gefühl
       gemeinsamer  Leiden  verknüpften,  unentwickelten,  zwischen  Be-
       geisterung und Verzweiflung ratlos hin und her geworfenen Massen,
       heute die eine große internationale Armee von Sozialisten, unauf-
       haltsam vorschreitend,  täglich wachsend  an Zahl,  Organisation,
       Disziplin, Einsicht  und Siegesgewißheit.  Wenn sogar diese mäch-
       tige Armee  des Proletariats  noch immer  nicht das Ziel erreicht
       hat, wenn  sie, weit  entfernt, den  Sieg mit   e i n e m  großen
       Schlag zu  erringen, in hartem, zähem Kampf von Position zu Posi-
       tion langsam vordringen muß, so beweist dies ein für allemal, wie
       unmöglich es  1848 war,  die soziale  Umgestaltung durch einfache
       Überrumpelung zu erobern.
       Eine in zwei dynastisch-monarchische Sektionen gespaltene Bourge-
       oisie [168],  die aber  vor allen  Dingen Ruhe und Sicherheit für
       ihre Geldgeschäfte  verlangte, ihr  gegenüber ein zwar besiegtes,
       aber immer  noch drohendes  Proletariat, um  das sich Kleinbürger
       und Bauern  mehr und  mehr gruppierten  - die stete Drohung eines
       gewaltsamen Ausbruchs, der bei alle
       
       #516# Einleitung zu Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich"
       -----
       dem keine  Aussicht auf  endgültige Lösung bot -, das war die Si-
       tuation, wie  geschaffen für  den Staatsstreich  des dritten, des
       pseudo-demokratischen Prätendenten  Louis Bonaparte.  Vermittelst
       der Armee machte dieser am 2. Dezember 1851 der gespannten Situa-
       tion ein  Ende und  sicherte Europa  die innere Ruhe, um es dafür
       mit einer  neuen Ära  der Kriege  [437] zu beglücken. Die Periode
       der Revolutionen von unten war einstweilen geschlossen; es folgte
       eine Periode der Revolutionen von oben.
       Der imperialistische  Rückschlag von  1851 gab einen neuen Beweis
       von der  Unreife der proletarischen Aspirationen jener Zeit. Aber
       er selbst sollte die Bedingungen schaffen, unter denen sie reifen
       mußten. Die  innere Ruhe sicherte die volle Entwicklung des neuen
       industriellen Aufschwungs,  die Notwendigkeit,  die Armee  zu be-
       schäftigen und  die revolutionären Strömungen nach außen abzulen-
       ken, erzeugte die Kriege, worin Bonaparte, unter dem Vorwand, das
       "Nationalitätsprinzip" [16]  zur Geltung  zu bringen,  Annexionen
       für Frankreich zu ergattern suchte. Sein Nachahmer Bismarck adop-
       tierte dieselbe  Politik für  Preußen; er  machte seinen  Staats-
       streich, seine  Revolution von  oben 1866 gegenüber dem Deutschen
       Bund und  Österreich und  nicht minder  gegenüber der preußischen
       Konfliktskammer. Aber  Europa war  zu klein  für zwei Bonapartes,
       und so  wollte es die geschichtliche Ironie, daß Bismarck den Bo-
       naparte stürzte  und daß  der König Wilhelm von Preußen nicht nur
       das kleindeutsche  Kaisertum herstellte, sondern auch die franzö-
       sische Republik.  Das allgemeine Ergebnis aber war, daß in Europa
       die Selbständigkeit  und innere Einigung der großen Nationen, mit
       Ausnahme Polens,  eine Tatsache  geworden war. Freilich innerhalb
       relativ bescheidener  Grenzen -  aber immerhin  so weit,  daß der
       Entwicklungsprozeß der  Arbeiterklasse nicht  mehr an  nationalen
       Verwicklungen ein  wesentliches Hemmnis fand. Die Totengräber der
       Revolution von  1848 waren  ihre Testamentsvollstrecker geworden.
       Und neben  ihnen erhob  sich schon drohend der Erbe von 1848, das
       Proletariat, in der  I n t e r n a t i o n a l e.
       Nach dem  Kriege von  1870/71 verschwindet  Bonaparte vom  Schau-
       platz, und  Bismarcks Mission ist vollendet, so daß er nun wieder
       zum ordinären  Junker herabsinken  kann. Den Abschluß der Periode
       aber bildet die Kommune von Paris. Ein heimtückischer Versuch von
       Thiers, der Pariser Nationalgarde ihre Geschütze zu stehlen, rief
       einen siegreichen  Aufstand hervor. Es zeigte sich wieder, daß in
       Paris keine  andere Revolution mehr möglich ist als eine proleta-
       rische. Die Herrschaft fiel der Arbeiterklasse nach dem Sieg ganz
       von selbst,  ganz unbestritten  in den Schoß. Und wiederum zeigte
       sich, wie  unmöglich auch  damals noch, zwanzig Jahre nach der in
       unserer Schrift  geschilderten Zeit,  diese Herrschaft der Arbei-
       terklasse war.
       
       #517# Einleitung zu Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich"
       -----
       Einerseits ließ  Frankreich Paris  im Stich, sah zu, wie es unter
       den Kugeln Mac-Mahons verblutete; andererseits verzehrte sich die
       Kommune im  unfruchtbaren Streit  der beiden  sie spaltenden Par-
       teien,  der   Blanquisten  (Majorität)   und  der   Proudhonisten
       (Minorität), die  beide nicht  wußten, was zu tun war. Ebenso un-
       fruchtbar wie  1848 die  Überrumpelung, blieb 1871 der geschenkte
       Sieg.
       Mit der  Pariser Kommune  glaubte man  das streitbare Proletariat
       endgültig begraben.  Aber ganz  im Gegenteil, von der Kommune und
       vom Deutsch-Französischen  Krieg datiert  sein gewaltigster  Auf-
       schwung. Die totale Umwälzung des gesamten Kriegswesens durch die
       Einrangierung der  ganzen waffenfähigen  Bevölkerung in  die  nur
       noch nach  Millionen zu  berechnenden Armeen,  durch Feuerwaffen,
       Geschosse und  Explosivstoffe von bisher unerhörter Wirkungskraft
       machte einerseits  der bonapartistischen  Kriegsperiode ein jähes
       Ende und sicherte die friedliche industrielle Entwickelung, indem
       sie jeden  anderen Krieg unmöglich machte als einen Weltkrieg von
       unerhörter Greuelhaftigkeit  und von absolut unberechenbarem Aus-
       gang. Andrerseits  trieb sie  durch die in geometrischer Progres-
       sion steigenden  Heereskosten die  Steuern  zu  unerschwinglicher
       Höhe und damit die ärmeren Volksklassen in die Arme des Sozialis-
       mus. Die  Annexion von  Elsaß-Lothringen, die nächste Ursache der
       tollen Konkurrenz in Kriegsrüstungen, mochte die französische und
       deutsche Bourgeoisie  gegeneinander chauvinistisch verhetzen; für
       die Arbeiter beider Länder wurde sie ein neues Band der Einigung.
       Und der  Jahrestag der  Kommune von  Paris wurde der erste allge-
       meine Festtag des gesamten Proletariats.
       Der Krieg  von 1870/71 und die Niederlage der Kommune hatten, wie
       Marx vorhergesagt, den Schwerpunkt der europäischen Arbeiterbewe-
       gung einstweilen  von Frankreich  nach  Deutschland  verlegt.  In
       Frankreich brauchte es selbstverständlich Jahre, bis man sich von
       dem Aderlaß des Mai 1871 erholt hatte. In Deutschland dagegen, wo
       die obendrein von dem französischen Milliardensegen [438] gerade-
       zu treibhausmäßig  geförderte Industrie sich immer rascher entwi-
       ckelte, wuchs  noch weit rascher und nachhaltiger die Sozialdemo-
       kratie. Dank  dem Verständnis,  womit die  deutschen Arbeiter das
       1866  eingeführte  allgemeine  Stimmrecht  benutzten,  liegt  das
       staunenerregende Wachstum  der Partei  in unbestreitbaren  Zahlen
       offen vor aller Welt. 1871: 102 000, 1874: 352 000, 1877: 493 000
       sozialdemokratische Stimmen. Dann kam die hohe obrigkeitliche An-
       erkennung dieser Fortschritte in Gestalt des Sozialistengesetzes;
       die Partei war momentan zersprengt, die Stimmenzahl sank 1881 auf
       312 000.  Aber das war rasch überwunden, und nun, unter dem Druck
       des Ausnahmegesetzes, ohne Presse,
       
       #518# Einleitung zu Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich"
       -----
       ohne äußere  Organisation, ohne  Vereins- und  Versammlungsrecht,
       nun fing  die rasche  Ausbreitung erst  recht an:  1884: 550 000,
       1887: 763 000,  1890: 1 427 000 Stimmen. Da erlahmte die Hand des
       Staates. Das  Sozialistengesetz  verschwand,  die  sozialistische
       Stimmenzahl stieg  auf 1  787000, über ein Viertel der sämtlichen
       abgegebnen Stimmen.  Die Regierung  und die  herrschenden Klassen
       hatten alle ihre Mittel erschöpft - nutzlos, zwecklos, erfolglos.
       Die handgreiflichen Beweise ihrer Ohnmacht, die die Behörden, vom
       Nachtwächter bis  zum Reichskanzler, hatten einstecken müssen-und
       das von  den verachteten Arbeitern! -, diese Beweise zählten nach
       Millionen. Der  Staat war  am Ende  seines Lateins,  die Arbeiter
       erst am Anfang des ihrigen.
       Die deutschen  Arbeiter hatten  aber zudem ihrer Sache noch einen
       zweiten großen  Dienst erwiesen  neben dem  ersten, der mit ihrer
       bloßen Existenz  als die  stärkste, die disziplinierteste, die am
       raschesten anschwellende  sozialistische Partei  gegeben war. Sie
       hatten ihren Genossen aller Länder eine neue, eine der schärfsten
       Waffen geliefert, indem sie ihnen zeigten, wie man das allgemeine
       Stimmrecht gebraucht.
       Das allgemeine Stimmrecht hatte schon lange in Frankreich bestan-
       den, war aber in Verruf gekommen durch den Mißbrauch, den die bo-
       napartistische Regierung  damit getrieben.  Nach der  Kommune war
       keine Arbeiterpartei  vorhanden, es  zu benutzen. Auch in Spanien
       bestand es seit der Republik [439], aber in Spanien war die Wahl-
       enthaltung aller ernstlichen Oppositionsparteien von jeher Regel.
       Auch die Schweizer Erfahrungen mit dem allgemeinen Stimmrecht wa-
       ren alles, nur nicht aufmunternd für eine Arbeiterpartei. Die re-
       volutionären Arbeiter  der romanischen  Länder hatten  sich ange-
       wöhnt, das  Stimmrecht als  einen Fallstrick,  als ein Instrument
       der Regierungsprellerei  anzusehn. In Deutschland war das anders.
       Schon das "Kommunistische Manifest" hatte die Erkämpfung des all-
       gemeinen Wahlrechts,  der Demokratie,  als eine  der  ersten  und
       wichtigsten Aufgaben  des streitbaren  Proletariats  proklamiert,
       und Lassalle  hatte diesen Punkt wieder aufgenommen. Als nun Bis-
       marck sich  genötigt sah, dies Wahlrecht einzuführen als einziges
       Mittel, die  Volksmassen für  seine Pläne  zu  interessieren,  da
       machten unsere Arbeiter sofort Ernst damit und sandten August Be-
       bel in den ersten konstituierenden Reichstag. Und von dem Tage an
       haben sie  das Wahlrecht  benutzt in  einer Weise, die sich ihnen
       tausendfach gelohnt  und die  den Arbeitern aller Länder als Vor-
       bild gedient  hat. Sie  haben das  Wahlrecht, in  den Worten  des
       französischen marxistischen  Programms, transformé,  de moyen  de
       duperie qu'il  a été jusqu'ici, en instrument d'émancipation - es
       verwandelt aus einem Mittel der Prellerei, was es bisher
       
       #519# Einleitung zu Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich"
       -----
       war, in ein Werkzeug der Befreiung [440]. Und wenn das allgemeine
       Wahlrecht keinen anderen Gewinn geboten hätte, als daß es uns er-
       laubte, uns  alle drei Jahre zu zählen; daß es durch die regelmä-
       ßig konstatierte, unerwartet rasche Steigerung der Stimmenzahl in
       gleichem Maße  die Siegesgewißheit der Arbeiter wie den Schrecken
       der Gegner  steigerte und so unser bestes Propagandamittel wurde;
       daß es uns genau unterrichtete über unsere eigene Starke wie über
       die aller gegnerischen Parteien und uns dadurch einen Maßstab für
       die Proportionierung unserer Aktion lieferte, wie es keinen zwei-
       ten gibt  - uns  vor unzeitiger Zaghaftigkeit ebensosehr bewahrte
       wie vor  unzeitiger Tollkühnheit  -, wenn  das der einzige Gewinn
       wäre, den  wir vom  Stimmrecht haben, dann wäre es schon über und
       übergenug. Aber es hat noch viel mehr getan. In der Wahlagitation
       lieferte es  uns ein Mittel, wie es kein zweites gibt, um mit den
       Volksmassen da,  wo sie  uns noch  ferne stehen,  in Berührung zu
       kommen, alle  Parteien zu  zwingen, ihre Ansichten und Handlungen
       unseren Angriffen  gegenüber vor  allem Volk  zu verteidigen; und
       dazu eröffnete  es unseren  Vertretern im Reichstag eine Tribüne,
       von der  herab sie mit ganz anderer Autorität und Freiheit zu ih-
       ren Gegnern im Parlament wie zu den Massen draußen sprechen konn-
       ten als  in der  Presse und in Versammlungen. Was half der Regie-
       rung und der Bourgeoisie ihr Sozialistengesetz, wenn die Wahlagi-
       tation und  die sozialistischen  Reichstagsreden  es  fortwährend
       durchbrachen?
       Mit dieser  erfolgreichen Benutzung  des allgemeinen  Stimmrechts
       war aber  eine ganz  neue Kampfweise des Proletariats in Wirksam-
       keit getreten, und diese bildete sich rasch weiter aus. Man fand,
       daß die  Staatseinrichtungen, in  denen die  Herrschaft der Bour-
       geoisie sich  organisiert, noch weitere Handhaben bieten, vermit-
       telst deren  die Arbeiterklasse  diese selben Staatseinrichtungen
       bekämpfen kann. Man beteiligte sich an den Wahlen für Einzelland-
       tage, Gemeinderäte,  Gewerbegerichte, man  machte der Bourgeoisie
       jeden Posten  streitig, bei  dessen Besetzung ein genügender Teil
       des Proletariats  mitsprach. Und  so geschah  es, daß Bourgeoisie
       und Regierung dahin kamen, sich weit mehr zu fürchten vor der ge-
       setzlichen als  vor der ungesetzlichen Aktion der Arbeiterpartei,
       vor den Erfolgen der Wahl als vor denen der Rebellion.
       Denn auch hier hatten sich die Bedingungen des Kampfes wesentlich
       verändert. Die Rebellion alten Stils, der Straßenkampf mit Barri-
       kaden, der  bis 1848 überall die letzte Entscheidung gab, war be-
       deutend veraltet.
       Machen wir  uns keine  Illusion darüber:  Ein wirklicher Sieg des
       Aufstandes über  das Militär  im Straßenkampf,  ein Sieg wie zwi-
       schen zwei  Armeen, gehört  zu den  größten Seltenheiten.  Darauf
       hatten aber die Insurgenten
       
       #520# Einleitung zu Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich"
       -----
       es auch  ebenso selten  angelegt. Es  handelte sich  für sie  nur
       darum, die  Truppen mürbe  zu machen  durch moralische Einflüsse,
       die beim  Kampf zwischen  den Armeen zweier kriegführender Länder
       gar nicht oder doch in weit geringerem Grad ins Spiel kommen. Ge-
       lingt das,  so versagt die Truppe oder die Befehlshaber verlieren
       den Kopf,  und der  Aufstand siegt. Gelingt das nicht, so bewährt
       sich, selbst  bei einer  Minderzahl auf  seiten des Militärs, die
       Überlegenheit der  besseren Ausrüstung und Schulung, der einheit-
       lichen Leitung,  der planmäßigen  Verwendung der Streitkräfte und
       der Disziplin.  Das Höchste, wozu es die Insurrektion in wirklich
       taktischer Aktion  bringen kann, ist die kunstgerechte Anlage und
       Verteidigung einer  einzelnen Barrikade.  Gegenseitige Unterstüt-
       zung, Aufstellung  resp. Verwendung von Reserven, kurz, das schon
       zur Verteidigung  eines  Stadtbezirks,  geschweige  einer  ganzen
       großen Stadt, unentbehrliche Zusammenwirken und Ineinandergreifen
       der einzelnen  Abteilungen wird  nur höchst mangelhaft, meist gar
       nicht zu erreichen sein; Konzentration der Streitkräfte auf einen
       entscheidenden Punkt  fällt da von selbst weg. Damit ist die pas-
       sive Verteidigung  die vorwiegende  Kampfform; der  Angriff  wird
       sich hier  und da, aber auch nur ausnahmsweise, zu gelegentlichen
       Vorstößen und  Flankenanfällen aufraffen,  in der Regel aber sich
       nur auf  Besetzung der  von der zurückgehenden Truppe verlassenen
       Stellungen beschränken. Wozu noch auf Seite des Militärs die Ver-
       fügung über  Geschütz und vollständig ausgerüstete und geübte Ge-
       nietruppen kommt, Streitmittel, die den Insurgenten in fast allen
       Fällen gänzlich  abgehn. Kein Wunder also, daß selbst die mit dem
       größten Heldenmut  geführten Barrikadenkämpfe  - Paris Juni 1848,
       Wien Oktober 1848, Dresden Mai 1849 - mit der Niederlage des Auf-
       standes endigten, sobald die angreifenden Führer, ungehemmt durch
       politische Rücksichten,  nach rein  militärischen Gesichtspunkten
       handelten und ihre Soldaten zuverlässig blieben.
       Die zahlreichen  Erfolge der  Insurgenten bis 1848 sind sehr man-
       nigfachen Ursachen  geschuldet. In  Paris Juli  1830 und  Februar
       1848, wie  in den  meisten spanischen  Straßenkämpfen, stand zwi-
       schen den Insurgenten und dem Militär eine Bürgerwehr, die entwe-
       der direkt  auf Seite  des Aufstandes  trat oder aber durch laue,
       unentschiedene  Haltung   die  Truppen  ebenfalls  ins  Schwanken
       brachte und  dem Aufstand obendrein Waffen lieferte. Da, wo diese
       Bürgerwehr von  vornherein gegen  den Aufstand  auftrat, wie Juni
       1848 in  Paris, wurde  dieser auch besiegt. In Berlin 1848 siegte
       das Volk  teils durch  den bedeutenden Zuwachs neuer Streitkräfte
       während der  Nacht und  des Morgens  am 19. [März], teils infolge
       der Erschöpfung  und schlechten  Verpflegung der  Truppen,  teils
       endlich infolge der erlahmenden
       
       #521# Einleitung zu Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich"
       -----
       Befehlsgebung. In allen Fällen aber wurde der Sieg erkämpft, weil
       die Truppe  versagte, weil  den Befehlshabern die Entschlußfähig-
       keit ausging oder aber, weil ihnen die Hände gebunden waren.
       Selbst in  der klassischen Zeit der Straßenkämpfe wirkte also die
       Barrikade mehr  moralisch als  materiell. Sie war ein Mittel, die
       Festigkeit des  Militärs zu  erschüttern. Hielt sie vor, bis dies
       gelang, so  war der  Sieg erreicht; wo nicht, war man geschlagen.
       (Es ist dies der Hauptpunkt, der im Auge zu halten ist, auch wenn
       man die Chancen etwaiger künftiger Straßenkämpfe untersucht.) 1*)
       Diese Chancen standen 2*) schon 1849 ziemlich schlecht. Die Bour-
       geoisie hatte sich überall auf die Seite der Regierungen geschla-
       gen, "Bildung und Besitz" begrüßten und bewirteten das gegen Auf-
       stände ausziehende Militär. Die Barrikade hatte ihren Zauber ver-
       loren; der  Soldat sah  hinter ihr nicht mehr "das Volk", sondern
       Rebellen, Wühler,  Plünderer, Teiler,  den  Auswurf  der  Gesell-
       schaft; der  Offizier war  mit der Zeit bewandert geworden in den
       taktischen Formen  des Straßenkampfes,  er marschierte nicht mehr
       geradeaus und ungedeckt auf die improvisierte Brustwehr los, son-
       dern umging  sie durch  Gärten, Höfe  und Häuser.  Und das gelang
       jetzt, bei einigem Geschick, in neun Fällen von zehn.
       Seitdem aber  hat sich noch sehr viel verändert, und alles zugun-
       sten des Militärs. Sind die Großstädte bedeutend größer geworden,
       so noch  mehr die  Armeen. Paris  und Berlin sind seit 1848 nicht
       ums Vierfache  gewachsen, ihre  Garnisonen aber  um mehr als das.
       Diese Garnisonen können vermittelst der Eisenbahnen in 24 Stunden
       sich mehr als verdoppeln, in 48 Stunden zu Riesenarmeen anschwel-
       len. Die  Bewaffnung dieser enorm verstärkten Truppenzahl ist un-
       vergleichlich wirksamer  geworden. 1848  der glatte  Perkussions-
       Vorderlader, heute  der kleinkalibrige  Magazin-Hinterlader,  der
       viermal so  weit, zehnmal  so genau  und zehnmal so rasch schießt
       wie jener.  Damals die  relativ schwach  wirkenden Vollkugeln und
       Kartätschen der  Artillerie, heute die Perkussionsgranaten, deren
       eine hinreicht,  die beste  Barrikade zu  zertrümmern. Damals die
       Spitzhacke des  Pioniers zum  Durchbrechen von Brandmauern, heute
       die Dynamitpatrone.
       Auf seiten des Insurgenten dagegen sind alle Bedingungen schlech-
       ter geworden. Ein Aufstand, mit dem alle Volksschichten sympathi-
       sieren, kommt schwerlich wieder; im Klassenkampf werden sich wohl
       nie alle  Mittelschichten so ausschließlich ums Proletariat grup-
       pieren, daß die um
       -----
       1*) Spitze Klammern  kennzeichnen Textstellen,  die aus Rücksicht
       auf die  "umsturzvorlagenfurchtsamlichen Bedenken"  (Engels)  des
       Berliner Parteivorstandes  gestrichen wurden  -  2*) (2.Fassung:)
       Die Chancen standen übrigens
       
       #522# Einleitung zu Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich"
       -----
       die Bourgeoisie  sich scharende Reaktionspartei dagegen fast ver-
       schwinde. Das  "Volk" wird also immer geteilt erscheinen, und da-
       mit fehlt ein gewaltiger, 1848 so äußerst wirksamer Hebel. Kommen
       1*) auf Seite  der Aufständischen mehr gediente Soldaten, so wird
       ihre Bewaffnung um so schwieriger. Die Jagd- und Luxusflinten der
       Waffenläden -  selbst wenn  nicht vorher  von Polizei wegen durch
       Wegnahme eines  Schloßteiles unbrauchbar  gemacht -  sind auch im
       Nahkampf dem Magazingewehr des Soldaten nicht entfernt gewachsen.
       Bis 1848  konnte man aus Pulver und Blei sich die nötige Munition
       selbst machen, heute ist die Patrone für jedes Gewehr verschieden
       und nur  in dem einen Punkt überall gleich, daß sie ein Kunstpro-
       dukt der  großen Industrie,  also nicht  ex tempore  anzufertigen
       ist, daß also die meisten Gewehre nutzlos sind, solange man nicht
       die speziell  für sie passende Munition hat. Und endlich sind die
       seit 1848  neugebauten Viertel der großen Städte, in langen, gra-
       den, breiten  Straßen angelegt,  wie gemacht  für die Wirkung der
       neuen Geschütze  und Gewehre.  Der  Revolutionär  müßte  verrückt
       sein, der  sich die  neuen Arbeiterdistrikte  im Norden und Osten
       von Berlin zu einem Barrikadenkampf selbst aussuchte.
       (Heißt das,  daß in  Zukunft der  Straßenkampf keine  Rolle  mehr
       spielen wird?  Durchaus nicht.  Es heißt nur, daß die Bedingungen
       seit 1848  weit ungünstiger  für die Zivilkämpfer, weit günstiger
       für das  Militär geworden  sind. Ein  künftiger Straßenkampf kann
       also nur siegen, wenn diese Ungunst der Lage durch andere Momente
       aufgewogen wird.  Er wird  daher seltener  im Anfang einer großen
       Revolution vorkommen  als im  weiteren Verlauf  einer solchen und
       wird mit  größeren Kräften  unternommen werden müssen. Diese aber
       werden dann  wohl, wie in der ganzen großen französischen Revolu-
       tion, am  4. September  und 31.  Oktober 1870 in Paris [441], den
       offenen Angriff der passiven Barrikadentaktik vorziehen.)
       Versteht der Leser nun, weshalb die herrschenden Gewalten 2*) uns
       platterdings dahin  bringen wollen, wo die Flinte schießt und der
       Säbel haut?  Warum man uns heute der Feigheit zeiht, weil wir uns
       nicht ohne weiteres auf die Straße begeben, wo wir der Niederlage
       im voraus  gewiß sind?  Warum man  uns so  inständig anfleht, wir
       möchten doch endlich einmal Kanonenfutter spielen?
       Die Herren verschwenden ihre Bittgesuche wie ihre Herausforderun-
       gen für  nichts und  wieder nichts.  So dumm  sind wir nicht. Sie
       könnten ebensogut von ihrem Feind im nächsten Krieg verlangen, er
       solle sich  ihnen stellen  in der Linienformation des alten Fritz
       oder in den Kolonnen ganzer Divisionen
       -----
       1*) (2. Fassung:) Kämen auch - 2*) (2. Fassung:) Klassen
       
       #523# Einleitung zu Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich"
       -----
       à la  Wagram und Waterloo [442],und das mit dem Steinschloßgewehr
       in der  Hand. Haben sich die Bedingungen geändert für den Völker-
       krieg, so  nicht minder  für den Klassenkampf. Die Zeit der Über-
       rumpelungen, der  von kleinen  bewußten Minoritäten an der Spitze
       bewußtloser Massen  durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es
       sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Or-
       ganisation handelt,  da müssen  die Massen selbst mit dabei sein,
       selbst schon  begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie
       mit Leib  und Leben eintreten 1*). Das hat uns die Geschichte der
       letzten fünfzig  Jahre gelehrt.  Damit aber die Massen verstehen,
       was zu  tun ist,  dazu bedarf es langer, ausdauernder Arbeit, und
       diese Arbeit  ist es gerade, die wir jetzt betreiben, und das mit
       einem Erfolg, der die Gegner zur Verzweiflung bringt.
       Auch in  den romanischen Ländern sieht man mehr und mehr ein, daß
       die alte  Taktik revidiert  werden muß. Überall hat man das deut-
       sche Beispiel  der Benutzung  des Wahlrechts, der Eroberung aller
       uns zugänglichen  Posten, nachgeahmt  (, überall ist das unvorbe-
       reitete Losschlagen  in den Hintergrund getreten). In Frankreich,
       wo doch  der Boden  seit über hundert Jahren durch Revolution auf
       Revolution unterwühlt  ist, wo  es keine einzige Partei gibt, die
       nicht in  Konspirationen, Aufständen und allen anderen revolutio-
       nären Aktionen  das ihrige geleistet hätte; in Frankreich, wo in-
       folgedessen die  Armee der Regierung keineswegs sicher ist und wo
       überhaupt die  Umstände für  einen insurrektionellen  Handstreich
       weit günstiger  liegen als  in Deutschland - selbst in Frankreich
       sehen die Sozialisten mehr und mehr ein, daß für sie kein dauern-
       der Sieg  möglich ist, es sei denn, sie gewinnen vorher die große
       Masse des Volks, d.h. hier die Bauern. Langsame Arbeit der Propa-
       ganda'und parlamentarische  Tätigkeit sind  auch hier als nächste
       Aufgabe der  Partei erkannt. Die Erfolge blieben nicht aus. Nicht
       nur sind  eine ganze  Reihe von  Gemeinderäten erobert worden; in
       den Kammern  sitzen 50  Sozialisten, und diese haben bereits drei
       Ministerien und  einen Präsidenten der Republik gestürzt. In Bel-
       gien haben sich die Arbeiter voriges Jahr das Wahlrecht erzwungen
       [356] und  in  einem  Viertel  der  Wahlkreise  gesiegt.  In  der
       Schweiz, in  Italien, in Dänemark, ja selbst in Bulgarien und Ru-
       mänien sind  die Sozialisten  in den  Parlamenten  vertreten.  In
       Österreich sind  alle Parteien darüber einig, daß uns der Zutritt
       zum Reichsrat  nicht länger  verwehrt bleiben kann. Hinein kommen
       wir, das  ist gewiß,  man streitet nur noch darüber: durch welche
       Tür. Und  selbst wenn  in Rußland der berühmte Semski Sobor [443]
       zusammentritt, jene
       -----
       1*) (2. Fassung:) für was sie eintreten sollen
       
       #524# Einleitung zu Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich"
       -----
       Nationalversammlung, gegen  die der junge Nikolaus sich so verge-
       bens sperrt,  selbst da  können wir mit Gewißheit darauf rechnen,
       daß wir auch dort vertreten sind.
       Selbstverständlich verzichten unsere ausländischen Genossen nicht
       auf ihr  Recht auf  Revolution. Das  Recht auf  Revolution ist ja
       überhaupt das  einzige  w i r k l i c h  "historische Recht", das
       einzige, worauf  alle modernen  Staaten  ohne  Ausnahme  beruhen,
       Mecklenburg eingeschlossen, dessen Adelsrevolution beendigt wurde
       1755 durch den "Erbvergleich" [444], die noch heute gültige glor-
       reiche Verbriefung  des Feudalismus. Das Recht auf Revolution ist
       so sehr im allgemeinen Bewußtsein unumstößlich anerkannt, daß so-
       gar der  General von Boguslawski aus diesem Volksrecht allein das
       Recht auf den Staatsstreich ableitet, das er seinem Kaiser vindi-
       ziert.
       Was aber  auch in  anderen Ländern  geschehen möge,  die deutsche
       Sozialdemokratie hat eine besondere Stellung und damit wenigstens
       zunächst auch  eine besondere Aufgabe. Die zwei Millionen Wähler,
       die sie  an die  Urnen schickt,  nebst den jungen Männern und den
       Frauen, die  als Nichtwähler  hinter  ihnen  stehen,  bilden  die
       zahlreichste, kompakteste  Masse, den  entscheidenden "Gewalthau-
       fen"  der   internationalen  proletarischen  Armee.  Diese  Masse
       liefert schon  jetzt über ein Viertel der abgegebnen Stimmen; und
       wie die  Einzelwahlen für  den Reichsteig,  die einzelstaatlichen
       Landtagswahlen, die  Gemeinderats- und  Gewerbegerichtswahlen be-
       weisen, nimmt sie unablässig zu. Ihr Wachstum geht so spontan, so
       stetig, so  unaufhaltsam und  gleichzeitig so  ruhig vor sich wie
       ein Naturprozeß.  Alle Regierungseingriffe  haben sich ohnmächtig
       dagegen erwiesen.  Auf 2 1/4  Millionen Wähler  können wir  schon
       heute rechnen.  Geht das  so voran,  so erobern  wir bis Ende des
       Jahrhunderts den  größeren Teil  der Mittelschichten  der Gesell-
       schaft, Kleinbürger  wie Kleinbauern,  und  wachsen  aus  zu  der
       entscheidenden Macht  im Lande,  vor der  alle andern Mächte sich
       beugen müssen,  sie mögen  wollen oder nicht. Dies Wachstum unun-
       terbrochen in Gang zu halten, bis es dem gegenwärtigen 1*) Regie-
       rungssystem von selbst über den Kopf wächst, (diesen sich täglich
       verstärkenden Gewalthaufen nicht in Vorhutkämpfen aufreiben, son-
       dern ihn  intakt zu  erhalten bis  zum Tag der Entscheidung,) das
       ist unsere  Hauptaufgabe. Und  da ist nur ein Mittel, wodurch das
       stetige Anschwellen  der sozialistischen Streitkräfte in Deutsch-
       land momentan  aufgehalten und  selbst für  einige  Zeit  zurück-
       geworfen werden  könnte: ein  Zusammenstoß auf großem Maßstab mit
       dem Militär,  ein Aderlaß  wie 1871 in Paris. Auf die Dauer würde
       das auch überwunden.
       -----
       1*) (2. Fassung:) herrschenden
       
       #525# Einleitung zu Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich"
       -----
       wunden. Eine  Partei, die  nach Millionen  zählt,  aus  der  Welt
       schießen, dazu reichen alle Magazingewehre von Europa und Amerika
       nicht hin.  Aber die  normale Entwickelung wäre gehemmt, (der Ge-
       walthaufe wäre  vielleicht im kritischen Moment nicht verfügbar,)
       der Entscheidungskampf  1*) würde  verspätet, verlängert  und mit
       schwereren Opfern verknüpft.
       Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf. Wir, die
       "Revolutionäre", die  "Umstürzler", wir  gedeihen weit besser bei
       den gesetzlichen  Mitteln als  bei den ungesetzlichen und dem Um-
       sturz. Die  Ordnungsparteien, wie sie sich nennen, gehen zugrunde
       an dem  von ihnen  selbst geschaffenen  gesetzlichen Zustand. Sie
       rufen verzweifelt  mit Odilon  Barrot: la  légalité nous tue, die
       Gesetzlichkeit ist unser Tod[214i, während wir bei dieser Gesetz-
       lichkeit pralle Muskeln und rote Backen bekommen und aussehen wie
       das ewige Leben. Und wenn  w i r  nicht so wahnsinnig sind, ihnen
       zu Gefallen  uns in  den Straßenkampf  treiben  zu  lassen,  dann
       bleibt ihnen  zuletzt nichts  anderes, als  selbst diese ihnen so
       fatale Gesetzlichkeit zu durchbrechen.
       Einstweilen machen  sie neue  Gesetze gegen  den Umsturz.  Es ist
       wieder alles  auf den Kopf gestellt. Diese Fanatiker des Anti-Um-
       sturzes von  heute, sind  sie nicht  selbst die Umstürzer von ge-
       stern? Haben  w i r  etwa den Bürgerkrieg von 1866 heraufbeschwo-
       ren? Haben   w i r   den  König von  Hannover, den Kurfürsten von
       Hessen, den  Herzog von  Nassau aus ihren angestammten, legitimen
       Erblanden vertrieben  und diese  Erblande annektiert?  [445]  Und
       diese Umstürzer des Deutschen Bundes und dreier Kronen von Gottes
       Gnaden beklagen sich über Umsturz? Quis tulerit Gracchos de sedi-
       tione querentes?  2*) Wer  könnte den  Bismarckanbetern erlauben,
       auf den Umsturz zu schimpfen?
       Mögen  sie  indes  ihre  Umsturzvorlagen  durchsetzen,  sie  noch
       verschlimmern, das ganze Strafgesetz in Kautschuk verwandeln, sie
       werden nichts  erreichen als  den neuen Beweis ihrer Ohnmacht. Um
       der Sozialdemokratie ernstlich auf den Leib zu rücken, werden sie
       noch ganz andere Maßregeln ergreifen müssen. Dem sozialdemokrati-
       schen Umsturz,  der augenblicklich davon lebt 3*), daß er die Ge-
       setze hält,  können sie nur beikommen durch den ordnungsparteili-
       chen Umsturz,  der nicht  leben kann,  ohne daß  er  die  Gesetze
       bricht. Herr Rößler, der preußische Bürokrat, und Herr von Bogus-
       lawski, der  preußische General, haben ihnen den einzigen Weg ge-
       zeigt, auf  dem man  den Arbeitern,  die sich nun einmal nicht in
       den Straßenkampf
       -----
       1*) (2. Fassung:)  die Entscheidung  - 2*) Wer  wird den Gracchen
       erlauben,  sich   über  einen   Aufruhr  zu  beklagen?  (Juvenal:
       "Satiren", II,  24) - 3*) (2. Fassung:) dem es grade jetzt so gut
       bekommt
       
       #526# Einleitung zu Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich"
       -----
       locken lassen,  vielleicht noch beikommen kann. Bruch der Verfas-
       sung, Diktatur, Rückkehr zum Absolutismus, regis voluntas suprema
       lex! 1*) Also nur Mut, meine Herren, hier hilft kein Maulspitzen,
       hier muß gepfiffen sein!
       Vergessen Sie aber nicht, daß das Deutsche Reich, wie alle Klein-
       staaten und  überhaupt alle  modernen Staaten, ein  P r o d u k t
       d e s   V e r t r a g e s  ist; des Vertrages erstens der Fürsten
       untereinander, zweitens der Fürsten mit dem Volk. Bricht der eine
       Teil den Vertrag, so fällt der ganze Vertrag, der andere Teil ist
       dann auch  nicht mehr  gebunden. (Wie  uns das  Bismarck 1866  so
       schön vorgemacht  hat. Brechen  Sie also die Reichsverfassung, so
       ist die  Sozialdemokratie frei, kann Ihnen gegenüber tun und las-
       sen, was  sie will.  Was sie  aber dann tun wird - das bindet sie
       Ihnen heute schwerlich auf die Nase.)
       Es sind  nun fast aufs Jahr 1600 Jahre, da wirtschaftete im Römi-
       schen Reich  ebenfalls eine gefährliche Umsturzpartei. Sie unter-
       grub die  Religion und  alle Grundlagen des Staates; sie leugnete
       geradezu, daß  des Kaisers  Wille das höchste Gesetz, sie war va-
       terlandslos, international,  sie  breitete  sich  aus  über  alle
       Reichslande von Gallien bis Asien und über die Reichsgrenzen hin-
       aus. Sie  hatte lange  unterirdisch, im  verborgenen gewühlt; sie
       hielt sich  aber schon  seit längerer Zeit stark genug, offen ans
       Licht zu  treten. Diese  Umsturzpartei, die  unter dem  Namen der
       Christen bekannt  war, hatte auch ihre starke Vertretung im Heer;
       ganze Legionen  waren christlich. Wenn sie zu den Opferzeremonien
       der heidnischen Landeskirche kommandiert wurden, um dort die Hon-
       neurs zu  machen, trieben die Umstürzlersoldaten die Frechheit so
       weit, daß  sie zum Protest besondere Abzeichen - Kreuze - an ihre
       Helme steckten.  Selbst die  üblichen  Kasernenschurigeleien  der
       Vorgesetzten waren  fruchtlos. Der Kaiser Diokletian konnte nicht
       länger ruhig  zusehen, wie  Ordnung, Gehorsam und Zucht in seinem
       Heere untergraben  wurden. Er  griff energisch  ein, weil es noch
       Zeit war.  Er erließ  ein Sozialisten-,  wollte sagen Christenge-
       setz. Die  Versammlungen der  Umstürzler  wurden  verboten,  ihre
       Saallokalitäten geschlossen  oder gar niedergerissen, die christ-
       lichen Abzeichen, Kreuze etc., wurden verboten wie in Sachsen die
       roten Schnupftücher.  Die Christen  wurden für  unfähig  erklärt,
       Staatsämter zu  bekleiden, nicht einmal Gefreite sollten sie wer-
       den dürfen. Da man damals noch nicht über so gut auf das "Ansehen
       der Person"  dressierte Richter  verfügte, wie  Herrn von Kollers
       Umsturzvorlage [446]  sie voraussetzt, so verbot man den Christen
       kurzerhand, sich  vor Gericht  ihr Recht zu holen. Auch dies Aus-
       nahmegesetz blieb wirkungslos. Die Christen rissen
       -----
       1*) des Königs Wille ist das oberste Gesetz!
       
       #527# Einleitung zu Marx "Klassenkämpfe in Frankreich"
       -----
       es zum  Hohn von den Mauern herunter, ja sie sollen dem Kaiser in
       Nikomedien den  Palast über  dem Kopf angezündet haben. Da rächte
       sich dieser durch die große Christenverfolgung des Jahres 303 un-
       serer Zeitrechnung.  Sie war die letzte ihrer Art. Und sie war so
       wirksam, daß  siebzehn Jahre  später die  Armee  überwiegend  aus
       Christen bestand,  und der nächstfolgende Selbstherrscher des ge-
       samten Römerreichs,  Konstantin,  von  den  Pfaffen  genannt  der
       Große, das Christentum proklamierte als Staatsreligion.
       London, 6. März 1895
       F. Engels
       Nach den Setzereifahnen der Ausgabe von 1895.

       zurück