Quelle: Engels: Schriften 1839 bis 1844
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Tagebuch eines Hospitanten [220]
I
[Marheineke]
["Rheinische Zeitung" Nr. 130 vom 10. Mai 1842]
In einer Stadt wie Berlin würde der Fremde ein wahres Verbrechen
gegen sich selbst und den guten Geschmack begehen, wenn er nicht
alle Merkwürdigkeiten in Augenschein nehmen würde. Und doch ge-
schieht es nur zu häufig, daß das Allerbedeutendste in Berlin,
das, wodurch die preußische Hauptstadt sich so sehr vor allen an-
dern auszeichnet, von Fremden unbeachtet bleibt; ich meine die
Universität. Nicht die imposante Fassade am Opernplatz, nicht das
anatomische und mineralogische Museum mein ich, sondern die
soundso vielen Hörsäle mit geistreichen und pedantischen Profes-
soren, mit jungen und alten, lustigen und ernsthaften Studenten,
mit Füchsen und bemoosten Häuptern, Hörsäle, in denen Worte ge-
sprochen sind und noch täglich gesprochen werden, denen mit der
Grenze Preußens, ja des deutschen Sprachgebietes kein Ziel der
Verbreitung gesetzt ist. Es ist der Ruhm der Berliner Universi-
tät, daß keine so sehr wie sie in der Gedankenbewegung der Zeit
steht und sich so zur Arena der geistigen Kämpfe gemacht hat. Wie
viele andere Universitäten, Bonn, Jena, Gießen, Greifswald, ja
selbst Leipzig, Breslau und Heidelberg, haben sich diesen Kämpfen
entzogen und sind in jene gelehrte Apathie versunken, die von je-
her das Unglück der deutschen Wissenschaft war! Berlin dagegen
zählt Vertreter aller Richtungen unter seinen akademischen Leh-
rern und macht dadurch eine lebendige Polemik möglich, die dem
Studierenden eine leichte, klare Übersicht über die Tendenzen der
Gegenwart verschafft. Unter solchen Umständen trieb es mich, von
dem jetzt allgemein gewordenen Rechte des Hospitierens Gebrauch
zu machen, und so ging ich eines Morgens, als gerade das Sommer-
semester begann, hinein. Mehre hatten schon angefangen zu lesen,
die meisten begannen gerade heute. Das
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Interessanteste, das sich mir darbot, war die Eröffnung der Vor-
lesungen von Marheineke über die Einführung der Hegelschen Philo-
sophie in die Theologie. Überhaupt hatten die ersten Vorlesungen
der hiesigen Hegelianer in diesem Semester ein ganz besonderes
Interesse, weil manche schon im voraus auf direkte Polemik gegen
die Schellingsche Offenbarungsphilosophie rechnen ließen, von den
andern aber erwartet wurde, daß sie mit einer Ehrenrettung der
gekränkten Manen Hegels nicht zurückhalten würden. Marheinekes
Kolleg war zu augenscheinlich gegen Schelling gerichtet, um nicht
eine besondere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das Auditorium
war schon lange vor seiner Ankunft gefüllt, junge und alte Män-
ner, Studenten, Offiziere und wer weiß was sonst noch, saßen und
standen dicht aneinandergedrängt. Endlich tritt er ein; das Spre-
chen und Summen verstummt auf der Stehe, die Hüte fliegen wie auf
Kommando ab. Eine feste, kräftige Gestalt, ein ernstes, entschie-
denes Denkerantlitz, die hohe Stirn umkränzt von Haaren, die in
der sauren Arbeit der Gedanken ergraut sind; beim Vortrage selbst
ein nobler Anstand, nichts von dem Gelehrten, der seine Nase in
dem Heft vergräbt, aus dem er liest, nichts von theatralisch-ge-
künstelter Gestikulation; jugendlich aufrechte Haltung, das Auge
fest auf der Hörermenge ruhend; der Vortrag selbst ruhig, würdig,
langsam, aber stets fließend, schmucklos, aber unerschöpflich an
schlagenden Gedanken, von denen einer den andern drängt und immer
noch schärfer trifft als der vorhergehende. Marheineke imponiert
auf dem Katheder durch die Sicherheit, die unerschütterliche Fe-
stigkeit und Würde, zugleich aber durch den freien Sinn, der aus
seinem ganzen Wesen hervorleuchtet. Heute aber trat er in einer
ganz eigenen Stimmung aufs Katheder, imponierte seinen Zuhörern
auf eine noch weit mächtigere Weise als sonst. Hatte er ein gan-
zes Semester lang die unwürdigen Äußerungen Schellings über den
toten Hegel und seine Philosophie geduldig ertragen; hatte er die
Vorträge Schellings bis zu Ende ruhig angehört - und das ist für
einen Mann wie Marheineke wahrlich keine Kleinigkeit -, so war
nun der Moment gekommen, wo er den Angriff erwidern, wo er gegen
stolze Worte stolze Gedanken ins Feld führen konnte. Er begann
mit allgemeinen Bemerkungen, in denen er die heutige Stellung der
Philosophie zur Theologie in meisterhaften Zügen schilderte, er-
wähnte Schleiermachers anerkennend, von dessen Schülern er sagte,
sie seien durch sein zum Denken anregendes Denken zur Philosophie
geführt worden, und diejenigen, die einen andern Weg eingeschla-
gen, hätten es selbst zu büßen. Allmählich ging er zur Hegelschen
Philosophie über und trat bald in eine leicht bemerkbare Bezie-
hung zu Schelling.
#251# I - Marheinke
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"Hegel", sagte er, "wollte vor allem, daß man sich in der Philo-
sophie über seine e i g e n e E i t e l k e i t erhebe und
sich nicht etwa vorstelle, als habe man etwas Besonderes gedacht,
bei dem es nun sein Bewenden haben könne; und namentlich war er
der Mann nicht, d e r m i t g r o ß e n V e r s p r e-
c h u n g e n u n d b l e n d e n d e n W o r t e n auftrat,
sondern er überließ es ruhig der philosophischen T a t, für ihn
zu sprechen. Er ist nie der miles gloriosus 1*) in der Philoso-
phie gewesen, der von sich selbst viel Rühmens machte. - - Jetzt
freilich hält sich keiner für zu unwissend und zu beschränkt, um
über ihn und seine Philosophie absprechen zu können, und wer eine
gründliche Widerlegung derselben in der Tasche hätte, würde
unfehlbar sein Glück machen; denn wie sehr man sich mit einer
solchen insinuieren würde, sieht man an denen, welche nur ver-
sprechen, sie zu widerlegen, u n d e s h i n t e n n a c h
n i c h t h a l t e n."
Bei diesen letzten Worten brach der Beifall des Auditoriums, der
sich bisher schon in einzelnen Zeichen kundgetan, in eine stürmi-
sche Akklamation aus, die, in einer theologischen Vorlesung neu,
den Dozenten sehr frappierte und in ihrer frischen Ursprünglich-
keit merkwürdige Vergleiche zuließ mit dem durch Subskription
mühsam aufgebrachten, dürren Vivat am Schlüsse der von Marheineke
bekämpften Vorlesungen. Er beschwichtigte den Zuruf durch Handbe-
wegung und fuhr fort:
"Diese erwünschte Widerlegung ist indes noch nicht da und wird
auch nicht kommen, solange noch G e r e i z t h e i t, V e r-
s t i m m u n g, N e i d, überhaupt Leidenschaft an der Stelle
der ruhigen, wissenschaftlichen Prüfung gegen sie aufgewandt
werden; solange man G n o s t i k und P h a n t a s t i k für
hinreichend hält, um den philosophischen Gedanken vom Throne zu
stürzen. Die erste Bedingung dieser Widerlegung ist freilich die,
den Gegner richtig zu verstehen, und da gleichen freilich manche
der Feinde Hegels dem Zwerge, der gegen den Riesen kämpfte, und
dem noch bekannteren Ritter 2*), der sich mit Windmühlen
herumschlug."
Dies ist der Hauptinhalt der ersten Marheinekeschen Vorlesung,
soweit er das größere Publikum interessieren dürfte. Marheineke
hat wiederum gezeigt, wie mutig und unverdrossen er immer auf dem
Kampfplatze ist, wenn es gilt, die Freiheit der Wissenschaft zu
verteidigen. Er steht vermöge seines Charakters und Scharfsinns
weit mehr als Nachfolger Hegels da als Gabler, dem man gewöhnlich
diesen Titel gibt. Der große, freie Blick, mit dem Hegel das
ganze Gebiet des Denkens überschaute und die Erscheinungen des
Lebens auffaßte, ist auch Marheinekes Erbteil. Wer will ihn ver-
dammen, daß er seine langjährige Überzeugung, seine mühsame Er-
rungenschaft nicht einem Fortschritte opfern will, der erst seit
fünf Jahren ins Leben getreten ist? Marheineke ist lange genug
mit der Zeit fortgeschritten, um zu einem wissenschaftlichen Ab-
schluß berechtigt zu sein. Es ist eine große
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1*) prahlende Aufschneider, Maulheld - 2*) Don Quijote
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Eigenschaft an ihm, daß er sich selbst mit den äußersten Extremen
der Philosophie auf gleichem Boden weiß und ihre Sache zur seini-
gen macht, wie er dies alle Tage seit Leos "Hegelingen" bis zu
Bruno Bauers Entsetzung [221] getan hat.
Marheineke wird übrigens diese Vorlesungen nach dem Schlüsse der-
selben drucken lassen [222].
F. O.
II
[von Henning]
["Rheinische Zeitung" Nr. 144 vom 24. Mai 1842]
In einem geräumigen Hörsaal saßen ein paar Studenten zerstreut
und erwarteten den Dozenten. Der Anschlag an der Türe zeigte an,
daß Professor von Henning um diese Stunde einen öffentlichen Vor-
trag über p r e u ß i s c h e F i n a n z v e r f a s s u n g
beginnen werde. Der durch Bülow-Cummerow an die Tagesordnung ge-
brachte Gegenstand [223] sowie der Name des Dozenten, eines der
älteren Schüler Hegels, zog mich an, und es wunderte mich, daß
sich nicht mehr Teilnahme zu finden schien. Henning trat ein, ein
schlanker Mann in seinen "besten Jahren", mit dünnem blondem
Haar, und begann in rasch fließender, vielleicht etwas zu aus-
führlicher Rede seinen Gegenstand darzustellen.
"Preußen", sagte er, "zeichne sich vor allen Staaten dadurch aus,
daß seine Finanzverfassung durchaus auf dem Grunde der neueren
nationalökonomischen Wissenschaft erbaut sei, daß es den bis
jetzt einzigen Mut gehabt habe, die theoretischen Resultate eines
Adam Smith und seiner Nachfolger praktisch durchzuführen. England
z.B., von dem doch die neueren Theorien ausgegangen, stecke noch
bis über die Ohren im alten Monopol- und Prohibitivsystem,
Frankreich fast noch mehr, und weder Huskisson in jenem noch
Duchâtel in diesem Lande habe mit seinen vernünftigeren Ansichten
die Privatinteressen überwinden können - von Österreich und Ruß-
land gar nicht zu reden; während Preußen das Prinzip des freien
Handels und der Gewerbefreiheit entschieden anerkannt und alle
Monopole und Prohibitivzölle abgeschafft habe. So stelle uns
diese Seite unserer Verfassung hoch über Staaten, die in anderer
Beziehung, in Entwicklung der politischen Freiheit uns weit vor-
ausgeeilt seien. Wenn nun unsere Regierung in finanzieller Hin-
sicht so Außerordentliches geleistet habe, so sei auf der andern
Seite auch anzuerkennen, daß sie ganz besonders günstige Verhält-
nisse zu einer solchen Reform vorgefunden. Der Schlag von 1806
habe reines Feld geschaffen, worauf das neue Gebäude aufgeführt
werden konnte; eine Repräsentatiwerfassung, in der sich die be-
sondern
#253# II - von Henning
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Interessen hätten geltend gemacht, habe ihr die Hände nicht ge-
bunden. Leider aber fänden sich immer noch alte Herren, die in
ihrer Beschränktheit und Grämlichkeit das Neue bekrittelten und
ihm den Vorwurf machten, daß es unhistorisch, aus der abstrakten
Theorie heraus, unpraktisch, gewaltsam konstruiert sei; als ob
seit 1806 die Geschichte aufgehört habe und es ein Vorwurf für
die Praxis sei, mit der Theorie, der Wissenschaft übereinzustim-
men; als ob das Wesen der Geschichte der Stillstand, das Drehen
im Kreise, nicht aber der Fortschritt sei, als ob es überhaupt
eine von aller Theorie bare Praxis gebe!"
Es wird mir erlaubt sein, diese letzten Punkte, mit denen die öf-
fentliche Meinung in Deutschland und namentlich in Preußen sich
gewiß einverstanden erklären wird, näher zu betrachten; es ist
sehr an der Zeit, dem ewigen Gerede einer gewissen Partei von
"historischer, organischer, naturgemäßer Entwickelung" vom
"naturwüchsigen Staat" usw. entschieden entgegenzutreten und vor
dem Volke jene glänzenden Gestalten zu entlarven. Wenn es Staaten
gibt, die allerdings Rücksichten auf die Vergangenheit zu nehmen
haben und zu einem langsameren Fortschritt genötigt sind, so fin-
det dies auf Preußen keine Anwendung. P r e u ß e n k a n n
n i c h t s c h n e l l g e n u g f o r t s c h r e i t e n,
sich nicht rasch genug entwickeln. Unsere Vergangenheit liegt be-
graben unter den Trümmern des vorjenaischen Preußens, ist fortge-
schwemmt von der Flut der napoleonischen Invasion. Was fesselt
uns? Wir haben nicht jene mittelalterlichen Klötze mehr an den
Füßen nachzuschleppen, die so manchen Staat am Gehen hindern; der
Schmutz vergangener Jahrhunderte klebt nicht mehr an unseren Soh-
len. Wie kann man also hier von historischer Entwickelung reden,
ohne eine Zurückfuhrung ins ancien régime im Sinne zu haben?
Einen Rückzug, der der schmählichste sein würde, der jemals dage-
wesen ist, der die glorreichsten Jahre aus der preußischen Ge-
schichte aufs feigste verleugnen würde, der - bewußt oder unbe-
wußt - Verrat am Vaterlande wäre, indem er wieder eine neue Kata-
strophe wie die von 1806 nötig machte [91]. Nein, es ist sonnen-
klar, d a ß P r e u ß e n s H e i l a l l e i n i n d e r
T h e o r i e, d e r W i s s e n s c h a f t, d e r E n t-
w i c k e l u n g a u s d e m G e i s t e l i e g t. Oder,
um es von einer andern Seite zu fassen, Preußen ist kein
"naturwüchsiger", sondern ein durch Politik, durch Zwecktätig-
keit, durch den Geist entstandener Staat. Man hat dies neuerdings
von französischer Seite her als die größte Schwäche unseres
Staats darstellen wollen [224]; im Gegenteil ist dieser Umstand,
wenn er nur recht benutzt wird, unsere Hauptstärke. So hoch der
selbstbewußte Geist über der bewußtlosen Natur steht, so hoch
kann Preußen, wenn es will, sich über die "naturwüchsigen" Staa-
ten stellen. Weil die provinzielle Verschiedenheit in Preußen so
groß ist, so muß, um keinem
#254# Tagebuch eines Hospitanten
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unrecht zu tun, die Verfassung r e i n a u s d e m
G e d a n k e n erwachsen; ein allmähliches Verschmelzen der
verschiedenen Provinzen macht sich dann von selbst, indem die be-
sondern Eigentümlichkeiten sich alle in die höhere Einheit des
freien Staatsbewußtseins auflösen, während sonst ein paar Jahr-
hunderte nicht hinreichen würden, um die innere legislative und
nationale Einheit von Preußen hervorzubringen und der erste er-
schütternde Stoß für den innern Zusammenhalt unseres Staats Fol-
gen haben müßte, für die kein Mensch einstehen kann. Den andern
Staaten ist durch einen bestimmten Nationalcharakter der Weg
vorgezeichnet, den sie zu nehmen haben; wir sind frei von diesem
Zwange; wir können aus uns machen, was wir wollen; Preußen kann
mit Hintansetzung aller Rücksichten rein den Eingebungen der Ver-
nunft folgen, kann, wie kein anderer Staat, von den Erfahrungen
seiner Nachbarn lernen, kann, und das tut ihm keiner nach, als
Musterstaat für Europa dastehen, auf der Höhe seiner Zeit, das
vollständige Staatsbewußtsein seines Jahrhunderts in seinen In-
stitutionen darstellen.
Das ist unser Beruf, dazu ist Preußen geschaffen. Sollen wir
diese Zukunft um ein paar hohle Phrasen einer verlebten Richtung
verschachern? Sollen wir der Geschichte selbst nicht hören, die
uns den Beruf anweist, die Blüte aller Theorie ins Leben hinüber-
zuführen? Preußens Basis, ich sage es noch einmal, sind nicht die
Trümmer vergangener Jahrhunderte, sondern der ewig junge Geist,
der in der Wissenschaft zum Bewußtsein kommt und im Staat seine
Freiheit sich selber schafft. Und wenn wir vom Geist und von sei-
ner Freiheit ließen, so verleugneten wir uns selbst, so verrieten
wir unser heiligstes Gut, so mordeten wir unsere eigene Lebens-
kraft und wären nicht wert, länger in der Reihe der europäischen
Staaten zu stehen. Dann würde die Geschichte mit dem fürchtbaren
Todesurteil über uns kommen: "Du bist gewogen und zu leicht ge-
funden!"
F.O.
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