Quelle: Engels: Schriften 1839 bis 1844


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       #399# Engels an Friedrich Graeber - nach dem 27 Juli 1839
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       Engels an Friedrich Graeber
       in Berlin
       
       [Bremen, 15. Juni 1839]
       Fritz Graeber.  Meine Herren,  hier sehen  Sie moderne Charaktere
       und Zustände.
       Den 15.  Juni. Heute  kommen Eure  Briefe an. Ich dekretiere, daß
       Wurm nie mehr die Briefe wegschicken soll. Zur Hauptsache. Was Du
       mir über  Josephs Stammbäume sagst, so habe ich dies der Hauptsa-
       che nach schon gewußt und dagegen einzuwenden:
       1. Wo ist  in der  Bibel in einem  G e s c h l e c h t s r e g i-
       s t e r der Schwiegersohn auch unter ähnlichen
       
       #400# Engels an Friedrich Graeber - nach dem 27 Juli 1839
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       Umständen   S o h n   genannt worden?  Ohne solch ein Beispiel zu
       nennen, kann  ich dies  nur als eine gezwungene, unnatürliche Er-
       klärung ansehen.
       2. Warum sagt  Lukas, der  für Griechen  griechisch schrieb,  für
       Griechen, die  diese jüdische  Sitte nicht  kennen konnten, nicht
       ausdrücklich, daß dem so sei, wie Du sagst?
       3. Was soll  überhaupt ein  Geschlechtsregister Josephs, das ganz
       überflüssig ist,  da alle  3 synoptischen Evangelien ausdrücklich
       sagen, Joseph sei nicht Jesu Vater?
       [4.] Warum nimmt  ein Mann  wie Lavater  nicht seine  Zuflucht zu
       dieser Erklärung und läßt lieber den Widerspruch stehen? Endlich,
       warum sagt selbst Neander [336], der doch gelehrter ist sogar als
       Strauß, daß  das ein unlösbarer Widerspruch sei, der dem griechi-
       schen Bearbeiter des hebräischen Matthäus zur Last zu legen sei?
       Ferner lasse  ich mich  mit meinen übrigen Sachen, die Du "elende
       Wortklaubereien" nennst,  nicht so leicht abweisen. Die wörtliche
       Inspiration wird  von den  Wuppertalern in dem Grade gelehrt, daß
       Gott sogar in jedes Wort einen besonders tiefen Sinn gelegt haben
       soll, was ich oft genug von der Kanzel gehört habe. Daß Hengsten-
       berg diese  Ansicht nicht  hat, glaube  ich wohl,  denn  aus  der
       "K[irchen-]Z[eitung]" geht  hervor, daß  er gar  keine klaren An-
       sichten hat, sondern bald hier etwas einem Orthodoxen zugibt, was
       er bald darauf einem Rationalisten wieder als Verbrechen vorhält.
       Aber wie  weit geht denn die Inspiration der Bibel? Doch wahrlich
       nicht so  weit, daß  der eine  Christum sagen läßt: "das ist mein
       Blut", und  der andre:  "das ist  das Neue  Testament  in  meinem
       Blut"? Denn warum ist dann Gott, der den Streit zwischen Lutheri-
       schen und  Reformierten doch  vorhersah, diesem  unseligen Streit
       nicht durch  eine so  unendlich  geringfügige  Einwirkung  zuvor-
       gekommen? Ist  einmal Inspiration  da, so  gelten hier  nur  zwei
       Fälle: entweder Gott hat es absichtlich getan, um den Streit her-
       vorzurufen, was  ich Gott  nicht aufbürden  mag, oder Gott hat es
       übersehen, was  ditto unstatthaft  ist. Daß  dieser Streit  etwas
       Gutes hervorgerufen habe, läßt sich auch nicht behaupten, und daß
       er, nachdem er 300 Jahre die christliche Barche zerrissen, in Zu-
       kunft noch  Gutes wirken solle, wäre eine Annahme, die ohne allen
       Grund und  aller  Wahrscheinlichkeit  zuwider  ist.  Grade  diese
       Stelle beim Abendmahl ist wichtig. Und ist ein Widerspruch da, so
       ist der ganze Bibelglaube zerstört.
       Ich will  Dir nur grade heraussagen, daß ich jetzt dahin gekommen
       bin, nur  die Lehre  für göttlich zu halten, die vor der Vernunft
       bestehen kann.
       
       #401# Engels an Friedrich Graeber - nach dem 27 Juli 1839
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       Wer gibt  uns das Recht, der Bibel blindlings zu glauben? Nur die
       Autorität derer,  die es  vor uns  getan haben. Ja, der Koran ist
       ein organischeres  Produkt als die Bibel, denn er fordert Glauben
       an seinen  ganzen   f o r t l a u f e n d e n   Inhalt. Die Bibel
       aber besteht aus vielen Stücken vieler Verfasser, von denen viele
       nicht einmal   s e l b s t   A n s p r ü c h e   auf Göttlichkeit
       machen. Und  wir sollen  sie, unsrer  Vernunft zuwider,  glauben,
       bloß weil  unsre Eltern  es uns sagen? Die Bibel lehrt ewige Ver-
       dammnis des  Rationalisten. Kannst  Du dir  denken, daß ein Mann,
       der sein  Leben lang  (Börne, Spinoza, Kant) nach der Vereinigung
       mit Gott  strebte, ja, daß einer wie Gutzkow, dessen höchstes Le-
       bensziel ist,  den Punkt  aufzufinden, wo sich das positive Chri-
       stentum und die Bildung unsrer Zeit verschwistert darstellen, daß
       der nach  seinem Tode  ewig, ewig  von Gott entfernt sein sollte,
       und körperlich und geistig den Zorn Gottes ohne Ende in den grau-
       samsten Qualen  tragen? Wir sollen keine Fliege peinigen, die uns
       Zucker stiehlt, und Gott sollte einen solchen Mann, dessen Irrtü-
       mer ebenso  unbewußt sind,  zehntausendmal so grausam und in alle
       Ewigkeit peinigen?  Ferner, ein  Rationalist, der aufrichtig ist,
       sündigt der durch sein Zweifeln? Nimmermehr. Er müßte ja sein Le-
       ben lang  die schrecklichsten Gewissensbisse haben; das Christen-
       tum müßte, wenn er nach Wahrheit strebt, sich ihm mit unüberwind-
       licher Wahrheit  aufdrängen. Geschieht  das? Ferner,  in  welcher
       zweideutigen Position  steht die Orthodoxie zur modernen Bildung?
       Man beruft sich drauf, daß das Christentum die Bildung überallhin
       mitgebracht habe;  jetzt plötzlich  gebietet die  Orthodoxie, die
       Bildung solle mitten in ihrem Fortschritt stehenbleiben. Was soll
       z.B. alle  Philosophie, wenn wir der Bibel glauben, die die Uner-
       kennbarkeit Gottes  durch die Vernunft lehrt? Und doch findet die
       Orthodoxie ein  wenig, nur  ja  nicht  zuviel,  Philosophie  ganz
       zweckmäßig. Wenn  die Geologie andre Resultate bringt als die mo-
       saische Urgeschichte lehrt, wird sie verschrieen (siehe den elen-
       den Aufsatz der "Evang[elischen] K[irchen]-Z[eitung]": "Die Gren-
       zen der  Naturbetrachtung"), bringt  sie scheinbar  dieselben wie
       die Bibel,  so beruft man sich darauf. Zum Beispiel sagt ein Geo-
       log, die  Erde, die  versteinerten Knochen  bewiesen  eine  große
       Flut, so  beruft man sich darauf; entdeckt aber ein andrer Spuren
       eines verschiedenen  Alters dieser  Dinge und  beweist,  es  habe
       diese Flut  verschiedene Zeiten an verschiedenen Orten gehabt, so
       wird die  Geologie verdammt.  Ist das  aufrichtig? Ferner: da ist
       Strauß' "Leben  Jesu", ein  unwiderlegliches Werk, warum schreibt
       man nicht  eine schlagende  Widerlegung? Warum verschreit man den
       wahrhaftig achtbaren  Mann? Wie  viele sind christlich, wie Nean-
       der, gegen ihn aufgetreten, und der - ist kein
       
       #402# Engels an Friedrich Graeber - nach dem 27 Juli 1839
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       Orthodoxer. Ja,  es gibt wahrhaftig Zweifel, schwere Zweifel, die
       ich nicht widerlegen kann. Ferner die Erlösungslehre: Warum zieht
       man sich  nicht die  Moral draus,  wenn sich einer freiwillig für
       den andern stellt, den zu strafen? Ihr würdet es alle für Unrecht
       halten; was  aber vor Menschen Unrecht ist, das soll vor Gott die
       höchste Gerechtigkeit sein? Ferner: Das Christentum sagt: Ich ma-
       che euch  frei von  der Sünde.  Nun strebt dahin auch die übrige,
       rationalistische Welt;  da tritt  das Christentum  dazwischen und
       verbietet ihnen,  fortzustreben, weil  der Weg  der Rationalisten
       noch weiter  vom Ziel  abführe. Wenn  das Christentum  uns  einen
       zeigte, den  es in diesem Leben so frei gemacht hat, daß er nicht
       mehr sündigte,  dann möchte  es einiges  Recht haben, so zu spre-
       chen, aber  eher wahrlich  nicht. Ferner:  Petrus 1*) spricht von
       vernünftiger, lauterer  Milch des Evangeliums [337]. Ich begreife
       es nicht.  Man sagt  mir: das  ist die  erleuchtete Vernunft. Nun
       zeige man  mir eine  erleuchtete Vernunft,  der das  einleuchtet.
       Bisher ist  mir noch  keine vorgekommen,  sogar den  Engeln ist's
       "ein hohes  Geheimnis". -  Ich hoffe,  Du denkst  zu gut von mir,
       dergleichen einer  frevlerischen Zweifelsucht  und  Renommisterei
       zuzuschreiben; ich  weiß, ich  komme in die größten Unannehmlich-
       keiten dadurch,  aber was  sich mir  überzeugend aufdringt,  kann
       ich, so  gern ich's  möchte, nicht  zurückdrängen. Habe ich durch
       meine heftige  Sprache vielleicht  Deiner Überzeugung wehe getan,
       so bitte  ich Dich  von Herzen um Verzeihung; ich sprach nur, wie
       ich denke und wie es sich mir aufdrängt. Es geht mir wie Gutzkow;
       wo sich  einer  hochmütig  über  das  positive  Christentum  hin-
       wegsetzt, da  verteidige ich diese Lehre, die ja vom tiefsten Be-
       dürfnis der  menschlichen Natur, dem Sehnen nach Erlösung von der
       Sünde durch  die Gnade Gottes ausgeht; wo es aber darauf ankommt,
       die Freiheit  der Vernunft zu verteidigen, da protestiere ich ge-
       gen allen  Zwang. - Ich hoffe, eine radikale Veränderung im reli-
       giösen Bewußtsein der Welt zu erleben; - wäre ich nur erst selbst
       im klaren!  Doch das  soll schon  kommen, wenn ich nur Zeit habe,
       mich ruhig und ungestört zu entwickeln.
       Der Mensch ist frei geboren, ist frei! [338]
       Dein treuer Freund Friedrich Engels
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       1*) In der Handschrift: Paulus

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