Quelle: MEW 26.2 Theorien über den Mehrwert - Zweiter Teil


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       #235#
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       [ELFTES KAPITEL]
       Ric[ardo]s Renttheorie
       
       [1. Historische Bedingungen für die Entwicklung der Rententheorie
       durch Andersen and Ricardo]
       
       Die Hauptsache  bei Rod[bertus]  abgemacht. Hier  nur noch einige
       gleanings 1*).
       Zunächst ist historisch zu bemerken:
       Ric[ardo] hat  zunächst vor sich die Periode, die er selbst ziem-
       lich miterlebt  hat, von 1770-1815, wo die Preise des Weizens be-
       ständig stiegen,  Andersen das  18. Jahrhundert, an dessen Schluß
       er schrieb,  wo von Anfang des Jahrhunderts bis in die Mitte Fal-
       len und  von der  Mitte bis  zu Ende Steigen stattfand. Daher bei
       Anderson durchaus  keine Verbindung des von ihm entdeckten Geset-
       zes mit  einer abnehmenden  productivity of  agriculture 2*) oder
       normalen {bei  Anderson 3*)  einer unnatürlichen}  Verteurung des
       Produkts. Bei Ric[ardo] wohl. Anderson glaubte, daß die Aufhebung
       der Korngesetze  (damals Exportprämien) das Steigen der Preise in
       der  zweiten   Hälfte  des   18.  Jahrhunderts  verursacht  habe.
       Ric[ardo] wußte,  daß die  Einführung von Korngesetzen (1815) das
       Fallen der  Preise verhindern sollte, und to a certain degree 4*)
       verhindern mußte.  Bei dem  letztren also  hervorzuheben, daß das
       sich selbst  überlaßne Gesetz der Grundrente -  i n n e r h a l b
       e i n e s   b e s t i m m t e n   T e r r i t o r i u m s   - die
       Zuflucht zu unfruchtbarerm Boden, also Verteurung der Agrikultur-
       produkte, Wachsen  der Rente  auf Kosten  der Industrie  und  der
       Masse der  Bevölkerung herbeiführen  müsse. Und  Ric[ardo]  hatte
       hier praktisch  und historisch  recht.  Anderson  umgekehrt,  daß
       Korngesetze (er  ist auch  für duty on imports 5*)) die gleichmä-
       ßige   Entwicklung    der   Agrikultur   innerhalb      e i n e s
       b e s t i m m t e n  T e r r i t o r i u m s  fördern müssen,
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       1*) Nachlesen - 2*) Produktivität der Landwirtschaft - 3*) in der
       Handschrift: Ric[ardo]  -  4*) bis  zu  einem  gewissen  Grade  -
       5*) Einfuhrzölle
       
       #236# Elftes Kapitel
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       daß die  Garantie für diese gleichmäßige Entwicklung für dieselbe
       nötig sei,  daß also   d i e s e    f o r t s c h r e i t e n d e
       E n t w i c k l u n g   a n   s i c h  s e l b s t  durch das von
       ihm aufgefundne Gesetz der Grundrente, Vermehrung der Produktivi-
       tät der  Agrikultur 1*)  und dadurch Fallen der average prices of
       agricultural produce 2*) herbeiführen müsse.
       Beide aber gehn von der auf dem Kontinent so wunderlich scheinen-
       den Ansicht aus, daß 1. kein Grundeigentum als Fessel für die be-
       liebige Kapitalanlage  auf Grund  und Boden existiere; 2. daß vom
       beßren zum schlechtren Boden fortgegangen wird (bei Ric[ardo] ist
       dies, die Unterbrechungen durch Reaktion der Wissenschaft und In-
       dustrie abgerechnet,  absolut;  bei  Anderson  wird  der  letztre
       schlechtre Boden  wieder in  beßren verwandelt,  relativ); 3. daß
       immer das  Kapital vorhanden, gehörige Kapitalmasse, um auf Agri-
       kultur angewandt zu werden.
       Was nun  1. und 2. angeht, so muß das den Kontinentalen sehr son-
       derbar erscheinen,  daß in  dem Land, wo in ihrer Vorstellung das
       feudale Grundeigentum sich am stursten erhalten hat, die Ökonomen
       von der  Vorstellung ausgehn,  daß   k e i n   Grundeigentum exi-
       stiere, Anderson sowohl wie Ricardo. Es erklärt sich dies:
       e r s t e n s:   Aus der  Eigentümlichkeit des englischen "law of
       enclosures" 3*),  das durchaus  keine Analogie hat mit den konti-
       nentalen Gemeinheitsteilungen;
       z w e i t e n s:   Nirgendwo in  der Welt hat die kapitalistische
       Produktion seit  Henry VII.  so rücksichtslos  geschaltet mit den
       t r a d i t i o n e l l e n  Verhältnissen des Ackerbaus und sich
       ihre Bedingungen  so adäquat gemacht und unterworfen. England ist
       in dieser Hinsicht das revolutionärste Land der Welt. Alle histo-
       risch überlieferten  Verhältnisse, nicht  nur die  Lage der Dorf-
       schaften, sondern  die Dorfschaften  selbst, nicht  nur die Wohn-
       plätze der  agricultural  population,  sondern  diese  Population
       selbst, nicht nur die ursprünglichen Zentren der Bewirtschaftung,
       sondern diese  Bewirtschaftung selbst,  sind rücksichtslos wegge-
       fegt worden,  wo sie den Bedingungen der kapitalistischen Produk-
       tion auf dem Land widersprachen oder nicht entsprachen. Der Deut-
       sche z.B. findet die wirtschaftlichen Verhältnisse bestimmt durch
       traditionelle Verhältnisse  von Feldmarken, Lage der Wirtschafts-
       zentren, bestimmte  Konglomerationen der Bevölkerung. Der Englän-
       der findet  die historischen Bedingungen der Agrikultur vom Kapi-
       tal progressiv   g e s c h a f f e n   vor  seit dem Ende des 15.
       Jahrhunderts. Der in dem
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       1*) In der  Handschrift: Industrie  - 2*) Durchschnittspreise der
       Agrikulturprodukte -  3*) "Gesetzes über Einhegung [des Gemeinde-
       landes]"
       
       #237# Ricardos Renttheorie
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       United Kingdom [übliche] technische Ausdruck des "c l e a r i n g
       o f   e s t a t e s"   1*) findet  sich auf  keinem kontinentalen
       Land. Was  heißt aber  dies "clearing  of estates"? Daß ohne alle
       Rücksicht auf ansässige Bevölkerung, die weggejagt wird, existie-
       rende Dorfschaften,  die rasiert, Wirtschaftsgebäude, die nieder-
       gerissen, Spezies des Ackerbaues, die auf einen coup umgewandelt,
       z.B. aus Ackerbau in Viehweide verwandelt wird, alle Produktions-
       bedingungen nicht  akzeptiert werden,  wie sie traditionell sind,
       sondern historisch  so   g e m a c h t  werden, wie sie unter den
       Umständen für die vorteilhaftste Anlage des Kapitals sein müssen.
       So far  2*) existiert  also   k e i n  G r u n d e i g e n t u m;
       es läßt  das Kapital  - den farmer - frei wirtschaften, da es ihm
       bloß um  das Geldeinkommen zu tun ist. Ein pommerscher Gutsbesit-
       zer, mit  seinen angestammten  Feldflurmarken, Wirtschaftszentren
       und Landwirtschaftskollegium  etc. im  Kopf, mag  daher die Hände
       über dem  Kopf zusammenschlagen über die "unhistorische" Ansicht,
       die Ricardo  von der  ¦¦561¦ Entwicklung der Ackerbauverhältnisse
       hat. Er zeigt damit nur, daß er pommersche und englische Verhält-
       nisse naiv  verwechselt. Es  kann aber  nicht gesagt  werden, daß
       Ric[ardo], der  hier von englischen Verhältnissen ausgeht, ebenso
       borniert sei  als der pommersche Gutsbesitzer, der innerhalb pom-
       merscher Verhältnisse denkt. Die englischen Verhältnisse sind die
       einzigen, worin  sich das   m o d e r n e    G r u n d e i g e n-
       t u m,   d.h. das  durch die kapitalistische Produktion  m o d i-
       f i z i e r t e  Grundeigentum adäquat entwickelt hat. Die engli-
       sche Anschauung  ist hier  - für die moderne, die kapitalistische
       Produktionsweise -  die klassische.  Die pommersche dagegen beur-
       teilt das  entwickelte Verhältnis  nach einer historisch niedrig-
       ren, noch nicht adäquaten Form.
       Ja, die  meisten der kontinentalen Beurteiler Ric[ardos] gehn so-
       gar von  Verhältnissen aus, wo überhaupt die kapitalistische Pro-
       duktionsweise, adäquat  oder inadäquat, noch gar nicht existiert.
       Es ist  dasselbe, als  wollte ein Zunftmeister die Gesetze des A.
       Smith, die  die freie  Konkurrenz voraussetzen, mit Haut und Haar
       auf seine Zunftwirtschaft anwenden.
       Die Voraussetzung des Fortgangs von beßrem zu schlechtrem Boden -
       relativ für den jedesmaligen Stand der Entwicklung der Produktiv-
       kraft der  Arbeit, wie  es bei  And[erson] ist, nicht absolut wie
       bei Ric[ardo] - konnte nur in einem Land wie England entspringen,
       wo innerhalb  eines relativ sehr kleinen Territoriums das Kapital
       so rücksichtslos  gewirtschaftet und alle traditionellen Verhält-
       nisse der  Agrikultur sich  erbarmungslos seit  Jahrhunderten ad-
       äquat zu machen versucht hatte. Also nur, wo die kapitalistische
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       1*) "Lichtens der Güter" - 2*) Insofern
       
       #238# Elftes Kapitel
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       Produktion in  der Agrikultur,  nicht wie  auf dem Kontinent, von
       gestern datiert und mit keiner alten Tradition kämpft.
       Ein  zweiter  Umstand  war  bei  den  Engländern  die  aus  ihren
       K o l o n i e n   geschöpfte Anschauung.  Wir haben  gesehen 1*),
       daß schon  bei Smith sich - mit direkter Verweisung auf die Kolo-
       nien - die Grundlage der ganzen Ric[ardo]schen Anschauung findet.
       In diesen  Kolonien -  nun gar speziell in den Kolonien, die bloß
       Handelsprodukte wie  Tabak, Baumwolle,  Zucker  etc.,  keine  or-
       dinären Lebensmittel  produzierten -, wo von vornherein die Kolo-
       nisten nicht  Subsistenz suchten,  sondern ein Geschäft etablier-
       ten, entschied  natürlich,   d i e   L a g e  g e g e b e n,  die
       Fruchtbarkeit, und  die Fruchtbarkeit  gegeben,   d i e   L a g e
       des Landes.  Sie  verfuhren  nicht  wie  Germanen,  die  sich  in
       Deutschland niederließen,  um dort  ihren Wohnsitz aufzuschlagen,
       sondern wie  Leute, die  durch die  Motive der   b ü r g e r l i-
       c h e n   P r o d u k t i o n   bestimmt,  W a r e n  produzieren
       wollten von  Gesichtspunkten aus,  die von vornherein nicht durch
       das Produkt,  sondern durch  den Verkauf  des  Produkts  bestimmt
       waren. Daß   Ric[ardo]  und andre  englische Schriftsteller diese
       aus Kolonien  - die  von Menschen ausgingen, die selbst schon das
       Produkt der  kapitalistischen Produktionsweise waren - übertrugen
       auf den  Gang der  Weltgeschichte, daß  sie die  k a p i t a l i-
       s t i s c h e   P r o d u k t i o n s w e is e  als prius für die
       Agrikultur überhaupt  voraussetzten, wie  sie  es  für    i h r e
       Kolonisten war,  erklärt sich  daraus, daß sie in diesen Kolonien
       überhaupt nur  in anschaulicher Weise,  o h n e  K a m p f  m i t
       t r a d i t i o n e l l e n     V e r h ä l tn i s s e n,    also
       u n g e t r ü b t,  dieselbe Herrschaft der kapitalistischen Pro-
       duktion in der Agrikultur wiederfanden, die in ihrem eignen Lande
       auf allen  Seiten ins Auge schlägt. Wenn daher ein deutscher Pro-
       fessor oder  Gutsbesitzer -  einem Land angehörig, das sich durch
       seinen absoluten  Mangel an Kolonien von allen andren Völkern un-
       terscheidet -  solche Anschauung "falsch" findet, so ist das sehr
       begreiflich.
       Endlich die  Voraussetzung des  beständigen Flusses  des Kapitals
       aus einem  trade 2*) in den ändern, diese  G r u n d v o r a u s-
       s e t z u n g  b e i  R i c a r d o,  heißt weiter nichts als die
       Voraussetzung der  Herrschaft der  entwickelten  kapitalistischen
       Produktion.  Wo  diese  noch  nicht  etabliert,  existiert  diese
       Voraussetzung nicht.  Ein pommerscher  Gutsbesitzer wird  es z.B.
       befremdend finden,  daß Ric[ardo]  und kein  englischer  Schrift-
       steller   je   die   Möglichkeit   ahnt,   daß   der   Agrikultur
       K a p i t a l   f e h l e n   könne. Der  Engländer beklagt  sich
       wohl  über  Mangel  an  Land  im  Verhältnis  zum  Kapital,  aber
       j a m a i s   3*) über  Mangel an Kapital im Verhältnis zum Land.
       Aus dem erstren Umstand suchen Wakefield, Chalmers, etc. das Fal-
       len der Profitrate zu erklären. Der
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       1*) Siehe vorl. Band, S. 227 - 2*) Gewerbezweig - 3*) niemals
       
       #239# Ricardos Renttheorie
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       letztre existiert  bei keinem  englischen Schriftsteller, wo, wie
       Corbet als  selbstverstehende Tatsache  bemerkt,    c a p i t a l
       i s   a l w a y s  r e d u n d a n t  i n  a l l  t r a d e  1*).
       Denkt man  dagegen an deutsche Verhältnisse, an die Schwierigkei-
       ten des Grundeigentümers, Geld zu pumpen, - weil er meist selbst,
       nicht eine  von  ihm  ganz  unabhängige  Kapitalistenklasse,  den
       Ackerbau treibt  -, so begreift man, wie sich Herr Rodbertus z.B.
       wundert über  "die Ricardosche  Fiktion, als  ob der  V o r r a t
       von Kapital  sich  nach  dem    W u n s c h e    seiner  Anlegung
       richte". (S.  211.) Was  der Engländer  vermißt,  ist  "field  of
       action", Anlegungsstelle  für den  vorhandnen Vorrat von Kapital.
       Aber ein  "Wunsch nach  Kapital" für eine "Anlegung" existiert in
       England nicht für die einzige Klasse, die Kapital anzulegen hat -
       die Kapitalistenklasse.
       ¦¦562¦ Diese "Kapitalwünsche" sind pommersch.
       Was englische  Schriftsteller dem  Ric[ardo] entgegenhielten, war
       nicht, daß  Kapital nicht in jedem beliebigen Vorrat für besondre
       Anlegung vorhanden,  sondern daß  der Reflux des Kapitals aus der
       agriculture auf spezifische technische etc. Hindernisse stoße.
       Diese Art  kritisch-kontinentaler Bemäklung an Ricardo zeigt also
       nur die  tiefere Stufe der Produktionsbedingungen, von denen jene
       "Weisen" ausgehn.
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       1*) Kapital immer  in jedem  Gewerbezweig im   Überfluß vorhanden
       ist

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