Quelle: Sozialistische Politik Jahrgang 1969
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Ossip K. Flechtheim
DIE POLITIK DER ZUKUNFT UND DIE ZUKUNFT DER POLITIK II
IV
Wollen wir die Politik der Zukunft und die Zukunft der Politik
als menschheitssichernde und -mehrende Gestaltung der Welt von
morgen entwickeln, so erhebt sich zunächst die Frage, wie weit
wir überhaupt die Politik der nächsten Jahre und Jahrzehnte anti-
zipieren und gestalten können. Was nun die Prognose 22) anlangt,
so vermögen wir ausgesprochen politische Verschiebungen und Bruch
oder gar subjektive Zielsetzungen und Handlungsstrukturen nicht
so eindeutig vorherzubestimmen wie technische und industrielle,
ökonomische und soziale Trends. Zwar wird auch die Politik von
der Technik und Wirtschaft, Wissenschaft und Sozialstruktur mit-
bedingt, sie zeichnet sich aber auch durch spezifische Bewegungen
aus. In der politischen Sphäre, wie freilich auch im sozio-kul-
turellen Bereich überhaupt, haben wir es immer wieder mit Aktion
und Reaktion von ganz verschiedener Dauer und Intensität, mit Po-
larisierungen und Pendelbewegungen von sehr unterschiedlichem
Ausschlag zu tun. Diese Bewegungen verlaufen nicht geradlinig und
bruchlos. Revolutionär-sprunghafte Entwicklungen tragen oft dazu
bei, daß sich die Zukunft qualitativ von der Vergangenheit unter-
scheidet. Kommt es nach Massenet 23) darauf an, die werdenden
Kausalitäten zu identifizieren, so ändert das nichts an dem kri-
tischen Vorbehalt Meynauds 24), wonach wir in der Politik häufig
nicht genügend die Schwelle kennen, an der die Quantität in die
Qualität umschlägt.
Dabei dürfen wir aber wiederum den Bereich des Politischen nicht
allzu eng fassen. Neben Einzelereignissen und Persönlichkeiten,
neben Revolutionen und Katastrophen kennt auch die Politik evolu-
tionäre Prozesse und kontinuierliche Trends, eindeutige Tendenzen
und langsame Strukturveränderungen, vor allem aber auch feste In-
stitutionen, fixierte Verhaltensweisen und relativ stabile Grup-
pierungen. So kann man die Fortdauer von Parlamenten, Bürokratien
oder Gerichtssystemen antizipieren. Prozesse der Demokratisierung
und Parlamentarisierung, der Sozialisierung und Entkolonisierung
in der Weltpolitik wie der Aufstieg der USA und Rußlands kommen
nicht ohne Warnung über Nacht. Und selbst dort, wo sich kein ein-
deutig vorherrschender Trend abzeichnet, sondern das Gegeneinan-
der entgegengesetzter Tendenzen - etwa "Demokratisierung" gegen
"Bürokratisierung" - "das Bild bestimmt, wird man doch gelegent-
lich das relative Gewicht der antagonistischen Momente - wenn
auch nur annäherungsweise - zu bestimmen vermögen. Quantitativ
eindeutige Prognosen mögen hier überall nicht oder noch nicht
möglich sein, aber auch quantitative Aussagen können in der Pra-
xis Gewicht haben.
Menschliche Handlungen und Unterlassungen, die ein untrennbarer
Bestandteil der sich entfaltenden Zukunft sind, müssen dabei bei
der Vorhersage möglichst genau berücksichtigt werden. Zu beachten
sind auch der Charakter und das Maß des Einflusses der Prognose
selber auf das Verhalten der Menschen in der Zukunft. Die Voraus-
sage mag der Beeinflussung des Menschen entzogen sein. Insofern
ist die Zukunft nicht flexibel, sondern fixiert und "objektiv".
Beispielsweise kann die Prognose die Zukunft dann nicht verän-
dern, wenn diejenigen, die von ihr Kenntnis haben, ihrer geringen
Zahl wegen nicht ins Gewicht fallen (hierher gehört auch die
mangelnde Publizität oder Öffentlichkeit der
Prognose), wenn sie zu wenig beeinflußbar sind oder wenn sie über
zu wenig Macht verfügen. Folgende Beispiele mögen das verdeutli-
chen: Der Schüler erhält seine Note 1 oder 5, die Börsenkurse
steigen oder fallen um fünf Punkte, Millionen verhungern in In-
dien oder Brasilien - und dies alles,·abhängig davon, ob jener
Schüler etwas mehr oder weniger intensiv studiert, ob einige we-
nige Kleinspekulanten einige Aktien dazukaufen, ob diese oder
jene Regierung eine Sympathieerklärung abgibt oder die eine oder
andere Kirche sogar etwas mehr "Brot für die Welt" spendet. Eine
Auswirkung der Voraussage ist mathematisch-statistisch nicht
feststellbar, wobei zudem eine minimale Wirkung ohne weiteres in
die Voraussage einkalkuliert werden kann.
Hiervon unterscheiden sich die Voraussagen, die die Zukunft merk-
lich verändern. Schon Kant 25) wußte, daß eine "Geschichte a
priori" möglich sei, "wenn der Wahrsager die Begebenheiten selbst
macht und veranstaltet, die er zum voraus verkündigt." Heute
spricht man von einer self-fulfilling prophecy 26): Hitler sieht
den Krieg mit Polen voraus, da er ihn selber entfesselt; der Bör-
senspekulant antizipiert eine Hausse der Kurse um 10%, die er
durch seine eigenen Käufe, möglicherweise aber auch durch die an-
derer Spekulanten, herbeiführt; die Zahl der Hungernden geht um
10% zurück, da der Appell an die Öffentlichkeit eine entspre-
chende Steigerung der Hilfe zur Folge gehabt hat; die Arbeiteror-
ganisationen erkämpfen die antizipierte Lohnsteigerung oder den
erwarteten Mandatszuwachs, da ihre Kampfmittel (Organisation und
Strategie, Agitation und Propaganda) sich als erfolgreich erwie-
sen haben.
Bei allen diesen Beispielen unterstellen wir, daß die Zukunft mit
großer oder gar an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor-
ausgesagt werden kann, da das Verhalten der Beteiligten eindeutig
in eine bestimmte Richtung geht. Nun gibt es aber auch Situatio-
nen, die vieldeutiger sind. Die objektiven Verhältnisse sind hier
so gelagert, daß die Zukunft unsicher erscheint. Der Wahrschein-
lichkeitsgrad der Prognose ist erheblich geringer. Das Subjekt
entscheidet sich hier "frei" für ein Verhalten, das möglicher-
weise nur geringe Erfolgschancen hat. Ob nun der Einzelne oder
die Gruppe den wahrscheinlicheren Kurs wählt, oder ob sie sich
für den weniger wahrscheinlichen entscheiden, hängt von ihren
ethischen und sonstigen Wertmaßstäben ab. Der ausgesprochene Op-
portunist oder "Realist" wird wohl zugunsten der wahrscheinliche-
ren Alternative optieren. Der Mann mit Prinzipien, der
"Idealist", wird nicht umhin können, um seiner Ideale willen die
weniger wahrscheinliche Alternative oder gar im Sinne von Max We-
bers "Gesinnungsethik" einen aller Voraussicht nach hoffnungslo-
sen Ausgang zu wählen.
Ein historisches Beispiel soll diese beiden Grundhaltungen ver-
deutlichen 27). Nach der Besetzung Frankreichs entschied sich La-
val 1940, mit Hitler zusammenzuarbeiten, während de Gaulle nach
London ging, um den Kampf gegen das Dritte Reich fortzusetzen.
Unterstellen wir, daß eine gründlichere wissenschaftliche Analyse
der Zukunft beide davon überzeugt hätte, daß damals das Dritte
Reich eine erheblich größere Erfolgschance hatte als Großbritan-
nien. Laval wäre dann als "Realist" erst recht mit den stärkeren
Bataillonen marschiert, während der "Idealist" de Gaulle es doch
wohl als seine Pflicht angesehen hätte, sich zugunsten des zwar
unwahrscheinlichen, aber doch nicht absolut unmöglichen Sieges
Frankreichs einzusetzen. Hätte allerdings umgekehrt die Analyse
eine größere Chance für den Sieg Englands ergeben, so hätte sich
an der Haltung de Gaulles nichts geändert, während sich dann
vielleicht sogar ein Laval gegen Hitler entschieden hätte. Weder
bei dem einen noch bei dem anderen hätte die futurologische Auf-
hellung der Zukunft das Element der persönlichen Entscheidung
einfach ausgeschaltet.
Ähnlich verhält es sich bei jenen Wählern, die sich auf Grund der
Voraussage, daß eine Partei bei den nächsten Wahlen mehr als 50%
der Stimmen erzielen wird, nun gerade für die aussichtsreichere
Partei entscheiden ("bandwagon effect"). An diesem Beispiel kann
man aber auch zeigen, wie die Tätigkeit des Prognostikers selber
problematisch zu werden vermag. Wenn er diesem Wahlausgang nicht
neutral gegenübersteht, sondern den Sieg dieser Partei eher für
verhängnisvoll hält, mag er in ein solches Dilemma geraten, daß
er versucht sein wird, ausnahmsweise einmal die Bekanntgabe oder
Verbreitung seiner Prognose zu unterlassen. Eine solche Sekretie-
rung von Information rührt natürlich schon an das Berufsethos des
Wissenschaftlers - ganz unwissenschaftlich und unethisch würde er
handeln, wenn er etwa unter Verletzung des Gebots, nur der Wahr-
heit zu dienen, seine Wahlprognose verfälschen würde, um den
"bandwagon effect" zu verhindern oder zu verringern. Dieses Di-
lemma des Forschers ähnelt allerdings durchaus jenem eines Men-
schen im Alltag, der weiß, daß er, sagt er jetzt und hier die
volle Wahrheit, einen irreparablen und fatalen Schaden anrichten
würde. In einer Welt voller Antagonismen führt in beiden Fällen
die Konsequenz der Wahrhaftigkeit zum Sieg des "Bösen", das wie-
derum nur um den Preis der Unwahrhaftigkeit verhindert werden
kann. Bleibt hier vielleicht nur der verzweifelte Ausweg von L.
Kolakowski 28), der uns rät, in solchen Situationen auf Konse-
quenzen zu verzichten, da "völlige Konsequenz praktisch gleichbe-
deutend mit Fanatismus" wäre?
Das Gegenstück zur sich selber verwirklichenden Voraussage ist
die self-destroying prophecy, die "gegebenenfalls auch zu ihrer
'Selbstaufhebung' beitragen, d.h. solche Gegenaktionen der Betei-
ligten hervorrufen kann, daß die Voraussage nur abgeschwächt oder
gar nicht eintrifft... Überwiegt bei den Unentschiedenen eine
Mentalität des Mitleids mit dem Besiegten oder herrscht die Erwä-
gung vor, man müsse aus staatspolitischen Gründen den Stimmanteil
einer Partei vergrößern, die andernfalls zu unterliegen droht, so
wird die Voraussage, A. werde die Wahl gewinnen, diesem mögli-
cherweise seine reale Gewinnchance, die er ohne die Veröffentli-
chung der Prognose besessen hätte, wieder nehmen." 29)
Ein einfaches Beispiel für eine self-destroying prophecy wäre der
Schüler, der - knapp! - durchfällt, da er sich so sehr auf die
Prognose seines Erfolges verläßt, daß er nun zu wenig arbeitet.
Oder: Die Zahl der Hungernden geht nicht zurück, da jede Instanz
damit rechnet, daß die anderen schon genügend Hilfe leisten wer-
den; die Arbeiter verlieren den Wahlkampf oder den Streik, da die
Gewißheit des Sieges sie allzu bequem, sorglos oder aggressiv
macht. Steht bei diesen Beispielen der Schüler allein und geht es
bei der Hungersnot um die Kooperation verschiedener Stellen, so
stehen andererseits die Arbeiter in einem antagonistischen Ver-
hältnis zu einem Gegner, der seinerseits auch die Prognose rea-
giert.
Jedesmal haben wir es hier mit einem Grenzfall zu tun. Eine ex-
akte Prognose läßt sich überhaupt nicht eindeutig-widerspruchs-
frei formulieren. Wenn ich nämlich etwa vorhersage, daß der Schü-
ler durchfallen wird, bewirkt diese Prognose das genaue Gegen-
teil. Er arbeitet jetzt so intensiv, daß er das Examen besteht.
Erkläre ich, daß er durchkommen wird, so scheitert er nun als
Folge seiner ungenügenden Anstrengungen. Die Arbeiter können nur
siegen, wenn die Aussicht auf die Niederlage sie zu vermehrten
Anstrengungen veranlaßt. Ich kann hier nicht einmal von einer
Entwicklungstendenz oder einer Wahrscheinlichkeit der Voraussage
in dieser oder jener Richtung sprechen, da ja die Chancen des je-
weiligen Ausgangs genau 50:50 stehen und die - jeweils entgegen-
gesetzte! - Entscheidung selber erst durch die Prognose herbeige-
führt wird.
In der wohl berühmtesten Feuerbach-These hat Marx 30) prokla-
miert:
"Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es
kommt darauf an, sie zu verändern."
Keine philosophische oder einzelwissenschaftliche Interpretation
kann jedoch an der "Welt" etwas ändern, soweit sich diese Inter-
pretation auf die "tote" Vergangenheit oder die "ewig" gleich-
bleibenden, "zeitlosen" Elemente der Realität bezieht - insofern
m u ß sie "unpraktische Theorie" bleiben, die früher oder später
sehr wohl zu einer Ideologie erstarren mag. Ganz anders verhält
es sich mit der auf die offene, "lebendige" Zukunft beziehenden
Prognose. Sie kann tatsächlich zur verändernden menschlichen Pra-
xis werden. Praxis in diesem Sinne ist dann nicht nur das Handeln
und Planen, sondern auch schon, wie soeben expliziert wurde, die
"reine Theorie" und Wissenschaft in Gestalt der Voraussage. Die
self-fulfilling prophecy würde dabei, um mit Marx zu sprechen,
"die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht", "Diesseitigkeit sei-
nes (des Menschen) Denkens" in der Praxis beweisen, da das Vor-
ausdenken die Realität in seinem Sinne formt, gestaltet, verän-
dert. Die self-destroying prophecy demonstriert dagegen parado-
xerweise die Ohnmacht der Aussage. Da sich hier der Sachverhalt
der kontemplativen, objektiven, wissenschaftlich eindeutigen For-
mulierung entzieht, wird so diese Form von Wissenschaft und Theo-
rie von der Praxis ad absurdum geführt. Beide Typen der Voraus-
sage - die sich-selbst-verwirklichende wie die sich-selbst-negie-
rende - sprengen den Rahmen des tradierten Wissenschaftskonzepts.
Insofern kann man vielleicht ohne Übertreibung sagen, daß hier
die Prognose die positivistisch verstandene Wissenschaft
"aufhebt" und Raum schafft für die freie Gestaltung der Zukunft
des Menschen.
V
Suchen wir nun diese methodischen Überlegungen zu konkretisieren,
so müssen wir freilich davon ausgehen, daß dies nur im weitge-
spannten Weltrahmen geschehen kann. In dieser Dimension lassen
sich einige ganz grundlegende Sachverhalte von eminent politi-
scher Bedeutung während der nächsten Jahrzehnte mit einiger Wahr-
scheinlichkeit andeuten. Noch nie war die Notwendigkeit, die Zu-
kunft zu prognostizieren und zu planen, so dringlich wie in unse-
rer einmalig-dynamischen Epoche - und selten waren die Wider-
stände gegen die Lösung dieser Aufgabe massiver. Die Welt wird im
letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ständig größer und komple-
xer, die Widersprüche akkumulieren sich immer rascher. Die Raum-
und Zeitdimensionen dehnen sich aus. Die Vergangenheit verschwin-
det nicht einfach, im Gegenteil, sie hinterläßt allzu viele Re-
likte. Zugleich dringt die Zukunft an mehr und mehr Stellen in
die Gegenwart ein. So wird unser Zeitalter wahrlich zu einer Epo-
che der Ungleichzeitigkeiten. Der Raum dehnt sich rasch aus - das
Individuum und die Gruppen geraten in immer dichtere planetari-
sche oder globale Beziehungen, und der Mensch greift über die
Erde hinaus nach dem Weltraum. All dies geschieht in stets atem-
beraubenderem Tempo. Der Wandel vollzieht sich so rasch, daß man
mit Recht von einer technisch-wissenschaftlichen Revolution, von
einer zweiten industriellen Revolution, von einer "Kulturrevo-
lution", von einer Revolutionierung des Verkehrs und des Konsums
spricht.
Freilich verändern sich die sozio-kulturellen Grundhaltungen und
die sozio-ökonomischen Strukturen kaum, und die politisch-ökono-
mischen Kerninstitutionen hinken in ihrer Starrheit immer mehr
hinter wissenschaftlich-technisch-industriellen Entwicklung her
(social and cultural lag). So wird die Kluft zwischen den lebens-
mindernden, -verunsichernden oder gar -bedrohenden Elementen ei-
nerseits, den lebensmehrenden, -sichernden und -steigernden Kräf-
ten andererseits eher größer. Man kann sich daher nur schwer des
Eindrucks erwehren, daß sich mit dem sprunghaften Anwachsen der
Probleme die Krise der Weltkultur vertieft, die Chancen einer to-
talen Lösung verringern und die Herstellung neuen dynamischen
Gleichgewichts immer schwieriger wird.
Trotz allen technischen und organisatorischen Möglichkeiten steht
das Leben des Menschen von morgen im Zeichen von Herrschaft und
Ausbeutung, Zwietracht und Kampf. Der Mensch, der weiter im
Schatten der Atombombe lebt, wird beherrscht von Unsicherheit,
Angst und Vereinsamung. Frustration erzeugt Aggression, Unter-
drückung und Verfolgung. Alle Versuche der Anpassung schlagen
stets von neuem fehl und vermehren nur den Haß und die Gier. Die
innere Leere wird zwar in den reichsten Ländern durch stets sinn-
loseren Konsum verdeckt, aber selbst hier bleiben die dringend-
sten Kollektivbedürfnisse oft unbefriedigt. So ist der Sozialka-
pitalismus im Westen immer noch zugleich Verschwendungs- und Rü-
stungskapitalismus. Der unheiligen Dreieinigkeit dessen, was im
Westen Eisenhower 31) den "Military Industrial Complex" genannt
hat (dem man heute aber noch den Scientific and Technological
Complex hinzuzählen müßte), entspricht im Osten das Bündnis der
Militärs mit den Managern der Rüstungswirtschaft, vor allem aber
auch mit den alten Parteibürokraten und -ideologen. Auch der
poststalinistische Gulaschkommunismus ist immer noch in diesem
Sinne zugleich "Kriegskommunismus" 32). Der Osten und der Westen
mögen sich angleichen - der Rüstungswettlauf wird kaum über Nacht
eingestellt werden. Der Übergang von der Kriegs- zur Friedens-
wirtschaft dürfte in absehbarer Zeit nicht stattfinden. Die Welt-
mächte werden eher weiter ihre Machtsphären auszuweiten suchen,
wobei uns bestenfalls der Atomkrieg erspart bleiben wird. Aber
auch die mittleren Staaten einschließlich der Bundesrepublik wer-
den weiter das ihre dazu beitragen, um eine Entspannung, Abrü-
stung und Umrüstung zu verzögern. Hat man noch vor einigen Jahren
die jährlichen Rüstungsausgaben auf 120 Milliarden Dollar veran-
schlagt, so liegt die Schätzung für 19: schon bei über 150 Milli-
arden Dollar. Heute beläuft sich allein der Verteidigungshaushalt
der NATO auf 100, der der USA auf 85 Milliarden Dollar. Letzterer
dürfte bald auf 100 bis 110 Milliarden anwachsen. 33)
Daneben wird aber die Raumfahrt immer größere Summen verschlin-
gen. Schon spricht man von 100 Milliarden, die die Landung des
ersten Astronauten auf dem Mond gekostet haben wird 34). Weitere
Reisen werden weitere Unsummen verschlingen - ganz zu schweigen
von jenen Beträgen, die die etwa von Wernher von Braun 35) anti-
zipierten Flüge zum Mars kosten werden.
Es geht aber nicht nur um die materiellen Ressourcen. Immer mehr
geistige Energie wird im Weltraum konzentriert werden. Es wird
daher nur noch schwieriger werden, hier auf Erden Hunger, Krieg
und Tortur zu bekämpfen. So wird sich vor allem auch der Abgrund
zwischen der nördlichen und südlichen Hemisphäre weiter vertie-
fen. Schon 1965 stellte U Thant 36) fest, daß der Nord-Süd-Spal-
tung der Menschheit für die Weltpolitik und Weltfrieden größere
Bedeutung zukomme als Ost-West-Spaltung. Innerhalb des globalen
Verelendungsprozesses werden in der Tat die Reichen immer reicher
und die Armen immer ärmer. Die Kämpfe im Kongo, vor allem aber
auch in Nigeria, beweisen, daß auch interne Auseinandersetzungen
in der Dritten Welt angesichts des Rüstungswettlaufs der reichen
Länder immer wieder zu akuten Gefahren für den Weltfrieden werden
können.
Ob jährlich 40 Millionen Menschen verhungern oder "nur" 10 Mil-
lionen, der Hunger ist für die Dritte Welt heute schon tagtägli-
che Erfahrung. Es ist aber noch kein Ende abzusehen. Die Bevölke-
rungsexplosion - Verdoppelung der Menschheit von heute etwa 3,5
Milliarden auf über 7 Milliarden Jahre 2000 - bedeutet vermehrtes
Elend und vermehrte Kriegsgefahr für die Menschheit. Lebten 1960
etwa ein Drittel der Erdbevölkerung in den Industrieländern und
zwei Drittel in der Dritten Welt, so werden im Jahre 2000 nur gut
ein Fünftel in den Industrieländern, dagegen vier Fünftel der
Erdbevölkerung in den sogenannten Entwicklungsländern leben. Da-
bei wird bis zum Jahre 2000 der Bedarf an Nahrung wohl auf das
Vierfache gestiegen sein, der an Nahrung tierischer Herkunft auf
das Sechsfache. (37)
"Trotzdem: Die Nahrungsmittelproduktion der Entwicklungsländer
bleibt hinter dem Bevölkerungszuwachs zurück, von 1964 bis 1966
hat sie sich um 4 Prozent verringert. Sie steigern deswegen von
Jahr zu Jahr ihre Nahrungsmitteleinfuhr, die mittlerweile mehr
als 50 Prozent des Nettowertes der Auslandshilfe erreicht hat.
Der Anteil der industriell-gewerblichen Güter der Industrieländer
am Welthandel erhöht sich doppelt so schnell wie die Rohstoffaus-
fuhren der Entwicklungsländer; deren Anteil am Welthandel nimmt
tendenziell beständig ab und liegt z.Z. knapp bei 23 Prozent. Das
Handelsdefizit der Entwicklungsländer erreichte 1966 die Rekord-
höhe von rund 22 Milliarden DM und hat damit gegenüber 1965 um
mehr als 20% zugenommen. Die Entwicklungshilfe der 15 Mitglied-
staaten der OECD, zu denen auch die sechs EWG-Länder gehören, er-
reichte 1966 insgesamt 39,2 Milliarden DM gegenüber 36,4 Milliar-
den DM im Jahre 1961; das sind 0,61% des Sozialprodukts gegenüber
0,82% im Jahre 1961; gleichzeitig wächst die Tilgungsrate der
Auslandsschulden schneller als die Ausfuhr der Entwicklungslän-
der." 38)
Anders als in früheren, mehr statischen Epochen arbeitet die Zeit
nicht mehr einfach für uns, im Gegenteil, eher gegen uns. Wir be-
finden uns sozusagen in einem fatalen Wettlauf mit einer uns da-
vonlaufenden Zeit. So wäre ein rascher und radikaler Wandel der
Kerninstitutionen des Weltsystems, ein totaler und fundamentaler
Umbau der Grundstrukturen aller Gesellschaften erforderlich,
wollten wir die Katastrophen von morgen vermeiden oder auch nur
wesentlich abschwächen. Hier liegt aber das wahre Dilemma: Gerade
das ist höchst unwahrscheinlich. Es mag in der Tat hier und da
totale dialektische Umschläge nach dem Motto: "Wo die Not am
größten, ist Gott am nächsten" gegeben haben. Wenig spricht aber
dafür, daß heute oder morgen Krieg und Herrschaft, Not und Tod
dialektisch in Frieden und Freiheit, Fülle und Leben umschlagen
werden. Daß im Weltmaßstab gesehen der Übergang von einem System
der höchstgerüsteten Weltmächte zu einer kollektiven Weltfrie-
densordnung, von einer Polarität der reichen Industriestaaten und
der armen Agrarländer zu einer Solidarität einer Weltwohlfahrts-
gesellschaft, von der Konvergenz eines sich bürokratisierenden
Plankapitalismus hüben und eines technokratischen Plankollekti-
vismus drüben zur Synthese von sozialistischer Gemeinschaft, de-
mokratischem Pluralismus und libertärem Funktionalismus in den
nächsten Jahren oder Jahrzehnten vonstatten gehen wird, ist ein-
fach nicht zu erwarten.
VI
Das ist keine Kapitulation vor einem grundlosen Pessimismus -
wohl aber ein Appell, den Sachververhalt zunächst einmal deutlich
sehen zu wollen.
"Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen,
was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei be-
steht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist." 39)
Gerade derjenige, der die Entwicklung "zur Realisierung der äu-
ßersten Möglichkeiten treiben" will, kann in einer solchen Situa-
tion nicht darangehen, die Verhältnisse dort, wo sie noch nicht
total schlecht sind, zur Katastrophe zu treiben. Die Chance für
den Umschlag würde durch eine aktive Katastrophenpolitik nur noch
weiter verringert. Verständlicherweise würden sich auch vor allem
diejenigen, die durch die Vermehrung ihrer Leiden radikalisiert
und revolutioniert werden sollen, gegen solche "Freunde" wenden.
Nein, so kann aus dem Leid von heute das Glück von morgen nicht
erblühen.
Natürlich kann sehr wohl hier und da einmal - etwa in der Dritten
Welt - eine revolutionäre Situation entstehen, die einer revolu-
tionären Elite Gelegenheit zur Verwirklichung einer erfolgreichen
sozialen Revolution geben wird. Ungewiß bleibt aber selbst dann,
wo und wann das geschehen wird. Zwischen der Machtergreifung der
Bolschewiki 1917 und der der Kommunisten in Ost-Europa 1945 oder
in China 1948 lagen etwa drei Jahrzehnte - vielleicht werden wie-
der Jahrzehnte vergehen, bis ein zweites Kuba in Lateinamerika
40) oder ein zweites China in Asien die Zahl der kommunistischen
Länder vermehren wird. Selbst wenn es aber in größeren Teilen der
Dritten Welt relativ bald zur Errichtung sozialrevolutionärer Re-
gime auch gegen den Widerstand konservativer Mächte kommen
sollte, werden diese Regime wohl noch lange Zeit autoritären oder
gar totalitären Diktaturen gleichen, die zunächst nur die Hinder-
nisse für eine Modernisierung aus dem Wege räumen und die primi-
tivsten Grundlagen für eine sozialere Entwicklung legen würden.
Als Modelle für die entwickelten Industrieländer könnten sie da-
her doch wohl nur in geringem Maße dienen.
In diesen Industriestaaten ist und bleibt eine klassische Revolu-
tion höchst unwahrscheinlich, solange die Massen relativ viel zu
verlieren haben. Gerade der einfache Mann fürchtet auch wohl
nicht zu unrecht, daß eine gewaltsame Revolution, die so leicht
in einem katastrophalen Bürgerkrieg wie etwa in Spanien oder Al-
gerien, in einer Niederlage und Gegenrevolution wie etwa in
Deutschland, oder - bestenfalls - in einer Revolution mit schlei-
chender Gegenrevolution wie im stalinistischen Rußland enden
könnte, gerade ihn besonders hart treffen würde. Es bleibt wohl
für die Industriegesellschaft daher nur die eine Alternative: Ka-
tastrophe oder permanente Reform, Konterrevolution oder gewalt-
freie Revolution, Stagnation oder systemüberwindende Strukturpo-
litik. 41)
Die Chancen für eine erfolgreiche sozialistische Revolution sind
aber zudem in Westdeutschland noch geringer als in Frankreich
oder Italien. Im klassischen Lande der Gegenrevolution würde je-
der Versuch der Linken, Gewalt in größerem Umfange zu praktizie-
ren, über Nacht die blutigste Reaktion auf den Plan rufen. Hier
würde sich wohl der größte Teil des Establishments - von der SPD-
Rechten bis zur NPD, von der Bundeswehr und Bürokratie bis zur
Presse und Wirtschaft - zu einer Einheitsfront zusammenschließen,
um die Massen gegen die Linke zu mobilisieren. Ein 1933 mag sich
nicht gerade wiederholen - dennoch hat in Deutschland die Rechte
auf absehbare Zeit von vornherein gewonnenes Spiel, wenn sich der
Bürger nur noch vor die Alternative: Klassische Revolution oder
Gegenrevolution! gestellt sehen sollte.
Andererseits dürfte die Hypothese, daß nach wie vor trotz allen
Verhärtungen und Widerständen des Systems eine gewaltfreie For-
tentwicklung mittels "revolutionärer, systemüberwindender Refor-
men" möglich ist, noch keineswegs widerlegt sein. In den
dreißiger Jahren hatte in England Harold J. Laski 42) angenommen,
daß weitreichende Eingriffe in die kapitalistische Eigentumsord-
nung auf den gewaltsamen Widerstand von Krone und Aristokratie,
Bürokratie und Bourgeoisie stoßen müßten. Die Maßnahmen des New
Deal, vor allem aber auch die Strukturreformen der englischen
Arbeiterregierung nach 1945, überzeugten manchen davon, daß in
Ländern mit alten demokratischen Traditionen und noch halbwegs
funktionierenden parlamentarischen Institutionen die bestehende
Wirtschafts-·und Gesellschaftsordnung doch unter günstigen Um-
ständen wesentlich modifiziert werden könnte, ohne daß es unbe-
dingt zu einer Gegenrevolution oder Restauration kommen müßte.
Kein anderer als Harold Laski hat denn auch für eine solche rela-
tiv rasch erfolgende, zugleich aber gewaltlos-legale Umstruktu-
rierung der Gesellschaft den Begriff der "revolution by consent"
geprägt, um zu betonen, daß sich eine solche gewaltfreie Revolu-
tion sowohl von roher Gewaltsamkeit, Aufstand und Bürgerkrieg,
wie aber auch von Detailreformen des bestehenden Systems, die
seine Funktionsfähigkeit nur technisch verbessern, grundlegend
unterscheidet.
Dieser Konzeption Laskis wäre noch durch eine Erwägung von Ithiel
de Sola Pool 43) zu ergänzen. Pool zufolge sind häufig die er-
zielten Ergebnisse nicht mit den programmatischen Absichten iden-
tisch. Reformen, die zunächst nur milde Veränderungen bewirken
sollten, hätten doch gelegentlich
weitreichende Wirkungen gehabt, daß man von einer Revolution aus
Versehen ("revolution by inadvertence") sprechen könne. Eine der-
artige "Revolution" hält Pool sogar für realistischer als die
"revolution by consent"; in dem Konservativismus des Volkes und
dem Wunsch der Elite, sich ihre Macht zu erhalten, sieht er näm-
lich recht starke Gegenkräfte gegen radikale gesellschaftliche
Veränderungen. Wie es sich in England zeige, schlössen sich aber
die beiden Revolutionen nicht aus. Könne man etwa bei einer stark
progressiven Einkommensteuer nur schwer entscheiden, ob es sich
eher um eine konservative, das System erhaltende, oder um eine
revolutionäre, das System überwindende Maßnahme handele:
"Aus größerer Sieht gleicht die Gesellschaftsform einem Fluß, sie
ist niemals dieselbe. Sie ändert unbewußt zentimeterweise ihren
Lauf, oder es werden bewußt neue Kanäle und Schutzdämme gegra-
ben."
Freilich wird der Revolutionär, der nicht länger warten kann oder
will, gegenüber Pools Gedankengang argumentieren, das bestehende
System sei einerseits schon so erstarrt und unbeweglich, daß man
bereits der Gewalt bedürfe, um auch nur bescheidene Reformen wie
etwa die Hochschulreform durchzusetzen; zugleich sei das System
auch wieder so flexibel und gefestigt, daß es auch alle noch so
weitreichenden Reformen zu integrieren vermöge - diese würden
dann zu einem "Alibi", für : herrschenden Mächte. Diesem Argument
gegenüber ist allerdings doch zu fragen, warum die konservativen
Magnaten und etablierten Manager immer wieder so verzweifelt ge-
gen jede Reform ankämpfen, wenn diese immer so harmlos ist. Liegt
hier wirklich nur ein historisches Mißverständnis vor?
Tatsächlich dürfte die Wirklichkeit erheblich komplexer sein.
Vielleicht sollte man zunächst einmal im Prinzip drei Typen von
Reformen unterscheiden: Einmal werden immer wieder Typen von Re-
formen durchgeführt, die das System als solches festigen und fi-
xieren - Beispiele wären etwa eine Verbesserung der Ausrüstung
und Ausbildung von Militär oder Polizei. Zweitens sind aber auch
Reformen denkbar, die das System unmittelbar ganz erheblich ver-
ändern und wandeln - man denke a an eine Demokratisierung des
Staatsapparates oder eine Sozialisierung der Produktion oder eine
Genossenschaftung der Presse. Dazwischen lägen dann die zahlrei-
chen Reformen, bei denen nicht von vornherein feststeht, wie sie
sich auswirken werden. Eine Bildungs- oder Justizreform mag lang-
fristig zur Stärkung des Systems beitragen, sie mag aber auch be-
reits den Übergang zu einem anderen System bilden. Pool hat das
ja am Beispiel der Einkommensteuer illustrieren wollen. Bei einer
Häufung solcher Reformen mag schließlich die Quantität auch in
eine neue Qualität umschlagen. Freilich kennt die Geschichte wohl
kaum eine Reform oder Reformbewegung, die nicht doch irgendwo
steckengeblieben und zu einer Integration in das System geführt
hätte. Dies dürfte insbesondere bei einem in vieler Beziehung
doch wohl so außerordentlich dynamischen und flexiblen System wie
dem des späten Industrie-und Sozialkapitalismus der Fall sein.
Daß dieser heute trotz aller Machtkonzentration weniger geschlos-
sen und einheitlich ist als der klassische Hochkapitalismus des
19. Jahrhunderts, dürfte wohl nur die Kehrseite der Komplexität
unserer modernen Kultur sein, die sich ja zudem in einer tiefge-
henden Krise befindet. Die relative Selbständigkeit weiter Kul-
tursegmente bietet nun aber gerade die Chance tiefgreifender Re-
formen in diesen Sektoren, da sich der Widerstand der Kapitalma-
gnaten auf die "Kommandohöhen der Wirtschaft" konzentrieren
dürfte. So erleben wir heute wohl nicht zufällig, wie es Teilen
der Jugend, der Intelligenz usw. gelingt, Institutionen wie die
Schulen und Universitäten, die Theater und Verlage, ja sogar die
Kirchen, Krankenhäuser und Gefängnisse "umzufunktionieren" oder
doch zumindest zu paralysieren. Dieser Prozeß dürfte wohl weiter-
gehen. Morgen mögen sich schon so uralte Institutionen wie die
Ehe und Familie oder auch die täglichen Lebensgewohnheiten und
Kulturereinrichtungen radikal verwandelt haben.
Bietet sich hier nicht so etwas wie eine Umgehungsstrategie an,
die die Kerninstitutionen zunächst einmal links liegen läßt, sie
aber dann doch isoliert und schließlich sogar sturmreif macht?
Ein solcher Angriff auf die Kommandohöhen der Wirtschaft setzt
dann freilich wohl voraus, daß die Aktion der Massen an der Basis
mit der zahlreicher anderer Kräfte wie etwa der "single-purpose-
movements", der pressure groups, der öffentlichen Meinung, aber
auch der Parteien und Parlamente koordiniert würde.
Es stimmt auch nicht, daß es in der Spätphase der bürgerlichen
Demokratie keine Aktionsmöglichkeiten für die breite Masse mehr
gäbe. Zweifellos befinden wir uns seit dem zweiten Weltkrieg in
einer Entwicklungsphase, die durch Machtkonzentration charakteri-
siert wird. Auf weiten Gebiete kann man von einer Entdemokrati-
sierung sprechen. Der Machtverlust der Parlamente ist sprichwört-
lich. Dem Wähler bleibt manchmal nur das Recht, jede vier oder
fünf Jahre in einer Art Plebiszit die Regierungsmannschaft zu be-
stimmen. Zu beachten bleibt aber, daß von einer absoluten Macht-
konzentration in den Formaldemokratien im Gegensatz zu ausgespro-
chen autoritären oder faschistischen Regimen keine Rede sein
kann. Nicht selten werden sogar die sogenannten "Minderheiten die
wie die Arbeiterklasse tatsächlich oft eine Mehrheit darstellen.
Gehör finden. Hier und da könne wir auch schon heute Ansätze für
auf funktionaler Leitung und Leistung beruhende Beziehungen fest-
stellen. Die Entfremdung in bezug auf die Endziele geht oft Hand
in Hand mit der Versachlichung der Mittel und dem Anwachsen von
bewußten Planungen. Wo dies der Fall ist, verwirklicht sich nun
in der Tat das Wort von Engels, wonach die Verwaltung von Sachen
und die Leitung von Produktionsprozessen an die Stelle der
Regierung über Personen tritt. Gerade im kulturellen Bereich
wächst insofern das Maß an Freiheit. So stark auch der Druck zur
Konformität sein mag, die Beseitigung der Not, die Hebung des
Lebensstandards erweitern für eine wachsende Minderheit kulturell
genießender und schöpferischer Menschen die demokratische
Freiheit des Ausdrucks und der Form. Im Staat und in der
Wirtschaft sieht es anders aus: hier drohen die Macht der
Militärs, der Monopole, der "Maschinen", der Druck der Apparate,
Organisationen und Institutionen, die Position und das Prestige
der Privilegierten aller Arten immer wieder die demokratischen
Freiheiten einzuengen oder gar zu vereiteln. Aber auch hier
kämpft die Demokratie weiter ihren ewigen Kampf gegen die Macht
des Mammons, der Bürokratie, der Unmündigkeit.
Der Widerspruch zwischen politischer Demokratie und ökonomischer
oder militärischer Macht sieht also heute anders aus als vor oder
nach dem ersten Weltkrieg - verschwunden ist er aber keineswegs.
So wenig ergiebig häufig die parteipolitisch-parlamentarische Ak-
tion auch sein mag, selbst sie bietet Gelegenheit, in harten
Kämpfen gegen den Widerstand der neophoben Mächtigen Reformen
durchzusetzen. Freilich wird man sich nicht auf die tradierten
Methoden beschränken können, ebenso wenig wie auf rein legale Ak-
tionen, zumal wenn die Perfektionierung der Manipulation der Mas-
sen weiter fortschreitet. Als "Dritter Weg" zwischen revolutio-
närer Gewalttäigkeit und quietistischem Legalismus bietet sich
gerade dann die Strategie und Taktik der direkten gewaltfreien
Aktionen, des zivilen Ungehorsams, der Bildung neuer machtfreier
Institutionen und Organisationen an. Unter Anknüpfung an alte re-
ligiöse und ethische Postulate, vor allem aber auch an die Tradi-
tionen anarchistischer, syndikalistischer und pazifistischer Be-
wegungen wie aber auch an die Ideen von Männern wie Tolstoi und
Kropotkin, Schweitzer und Danilo Dolci, Thoreau und Martin Luther
King, Ghandi und Bhawe, Narayan und Luthuli entwickeln heute die
Vorkämpfer solcher direkter gewaltfreier Politik Methoden und
Mittel nichtverletzenden Zwanges und Widerstandes (Boykott,
Streik usw.) sowie auch neuartige Formen und Organe zivilen Wi-
derstandes und demokratischer Partizipation 44).
Die Aussichten für eine gewaltfreie Umstrukturierung der beste-
henden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sind wahrscheinlich
am größten in kleineren Ländern mit alten ungebrochenen demokra-
tischen Traditionen, starker Arbeiterbewegung und geringer mili-
tärischer Verflechtung. Den skandinavischen Ländern oder Holland
im Westen, Jugoslawien, vor allem aber auch der Tschechoslowakei
im Osten, mag als ersten der Aufbau einer sozialistischen Demo-
kratie gelingen. Die Chancen für eine solche Synthese von Demo-
kratie und Sozialismus sind sicherlich in Deutschland geringer -
ganz fehlen sie aber auch hier nicht. Sollte etwa die Normalisie-
rung des Verhältnisses zwischen den beiden Deutschland gelingen,
so könnte dies nicht nur erheblich zur Entspannung und Verlang-
samung des Rüstungswettlaufs beitragen. Eine derartige Übertra-
gung des Konfliktes auf eine höhere gewaltfreie Ebene würde
zugleich das Aktionsfeld für alle reformfreudigen und fort-
schrittlichen Kräfte erweisen. So würde möglicherweise das System
sowohl hüben wie drüben in Bewegung geraten - in Richtung auf So-
zialisierung und Fundamentaldemokratisierung hier, in Richtung
auf Liberalisierung und Personalisierung dort. Die beiden deut-
schen Staaten könnten dann nicht nur beginnen, eine Brückenfunk-
tion zwischen den beiden Welten auszuüben, sondern auch einen
wachsenden Teil ihrer materiellen und ideellen Ressourcen für die
Dritte Welt zur Verfügung zu stellen. Die Ausstrahlungen einer
solchen Entwicklung sind unübersehbar - sie mag zumindest dazu
beitragen, daß die Menschheit in halbwegs menschlicher Verfassung
in das dritte Millennium eintreten würde. Freilich setzt das viel
Augenmaß und Leidenschaftlichkeit gerade auch bei den radikalen
Minderheiten voraus. Um Fritz Opel zu zitieren:
"Nach wie vor gilt es, die richtige, die radikale Mitte zu finden
zwischen unreflektierter - wenngleich keineswegs unüberlegter -
Provokation und ebenso unreflektierter Integration. Das ist eine
Richtschnur und kein Rezept. Denn Rezepte für richtige Politik
gibt es nicht. Was unsere gesellschaftliche Situation erfordert,
ist aber nicht Ungeduld, sondern vielmehr revolutionäre Geduld,
wobei das Beiwort ebenso wichtig ist wie das Hauptwort." 45)
_____
22) Neben der Prognose gewinnt natürlich heute die Planung immer
größere Bedeutung. Zu den Problemen der Planung vgl. etwa H.-J.
Arndt: "Der Plan als Organisationsfigur und die strategische Pla-
nung", in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 9, 1968, S. 177
ff. Zur Prognose allgemein vgl. vor allem auch B. de Jouvenel:
Die Kunst der Vorausschau, Neuwied 1967 einerseits, A. Bauer, W.
Eichhorn I, G. Kröber, H. Schulze, W. Segeth und K.-D. Wüstneck:
Philosophie und Prognostik, Berlin-Ost 1968, andererseits.
23) Hier zitiert nach Jean Meynaud: "Les spéculations sur
l'avenir", Etudes de science politique 12, Montréal 1965, S. 33.
24) Ebenda.
25) Der Streit der Fakultäten, Neudruck Heidelberg 1947, S. 124.
26) R.K. Merton: "Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussa-
gen", in: E. Topitsch (Hg.): Logik der Sozialwissenschaften, 4.
Aufl., Köln 1967, S. 144 ff.
27) Vgl. auch R. Aron: Frieden und Krieg - Eine Theorie der Staa-
tenwelt, Frankfurt (Main) 1963, S. 546.
28) a.a.O., S. 240.
29) G. Schmölders: "Das Problem der Prognose in der Wirtschaft",
in: Universitas, Jg. 18, 1963, S. 244 f.
30) Hier zitiert nach Marx-Engels: Ausgewählte Schriften, Bd. 2,
Berlin-Ost 1952, S. 376 ff.
31) Vgl. hierzu Flechtheim: Widerstände ... S. 459.
32) Vgl. hierzu O.K. Flechtheim: Weltkommunismus im Wandel? ,
Köln 1965, S. 179 ff. und 208 ff. und derselbe: Bolschewismus
1917-1967 - Von der Weltrevolution zum Sowjetimperium, Wien 1967,
S. 198 ff.
33) Flechtheim: Widerstände ... S. 460; G. Schlod: "Der Moloch
Rüstung", in: Stimme, Jg. 20, 1968, Nr. 10, S. 310 f.; H. Pol:
"Milliardenwünsche der Militärs", in: Frankfurter Rundschau vom
3.1.1969, S. 3 und "Die Verteidigungsanstrengungen der NATO sol-
len verstärkt werden", in: Tagesspiegel vom 17.1.1969, S. 1.
34) Rüdiger Proske: "Mondflug: Warum?" in: Die Zeit vom 3.1.1969,
S. 1.
35) H.G. Meyer: "Bis 1980 noch keine Reise zum Mars", in: Tages-
spiegel vom 29.12.1968, S. 3.
36) "Nord-Süd-Spaltung", in: Atomzeitalter, Nr. 8, August 1965,
S. 218.
37) J. Heinrichs: "Die Welternährung als Bewährungsfeld wissen-
schaftlicher Verantwortung", in: Anstöße, Nr. 2/3. 1968, S. 61
ff.; vgl. auch derselbe: Welternährungskrise oder Ist eine Hun-
gerkatastrophe unausweichlich? Reinbek b/Hamburg 1968.
38) H.A. Lücker, MdB: "Die Dritte Welt auf dem Vormarsch", in:
Bayern-Kurier vom 27.1.1968, S. 6.
39) F. Lassalle, hier zitiert nach Lothar Schmidt (Hg.): Hochver-
rat ist eine Frage des Datums, dtv. München 1966, S. 93.
40) Vgl. hierzu G. Maurer und P. Molt: Lateinamerika, Berlin
1968, S. 72 ff.
41) Zu dieser vgl. vor allem K. Nevermann: "Zur Strategie system-
überwindender Reformen", in: Blätter für deutsche und internatio-
nale Politik, Jg. 13, 1968, S. 597 ff.
42) Strategy of Freedom, S. 97, hier zitiert nach H.A. Deane: The
Political Ideas of Harold J. Laski, New York 1955, S. 270 f.; zu
Laski vgl. auch. Kingsley Martin: Harold J. Laski, London 1953.
43) "Der Staat: Seine Elemente und Probleme", in: O.K. Flechtheim
(Hg.): Grundlegung der politischen Wissenschaft, Meisenheim am
Glan 1958, S. 244 ff.
44) Vgl. hierzu O.K. Flechtheim: Eine Welt oder keine? , Frank-
furt 1964. S. 64 ff., und jetzt Th. Ebert: Gewaltfreier Aufstand
- Alternative zum Bürgerkrieg, Freiburg i.B. 1968.
45) Überlegungen zur politischen Taktik", in: Express Internatio-
nal, Nr. 1, 1969, hier zitiert nach Außerparlamentarischer Oppo-
sition - Informationen für Demokratie und Abrüstung, Nr. 66, Ja-
nuar 1969, S. 8.
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