Quelle: Sozialistische Politik Jahrgang 1969
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Literatur
HEINZ HARTMANN: MODERNE AMERIKANISCHE SOZIOLOGIE.
NEUER BEITRÄGE ZUR SOZIOLOGISCHEN THEORIE:
Stuttgart: Enke Verlag 1967. 418 S. Kart. 28,50 DM
WILBERT E. MOORE: STRUKTURWANDEL DER GESELLSCHAFT.
München: Juventa Verlag 1967 (= R. Grundfragen der Soziologie 4)
208 S. Kart.
Über den gegenwärtigen Einfluß der amerikanischen Sozialwissen-
schaft auf die deutsche braucht kaum etwas gesagt zu werden; er
ist so umfassend wie ihre gegenwärtige Thematik selbst. Entspre-
chend groß war auch das Interesse, das den von Heinz Hartmann
herausgegebene Sammelband erwartete.
Die 19 Aufsätze und Buchauszüge spiegeln nicht den letzten Stand
der amerikanischen Forschung, es sind aber grundlegende Texte,
die häufig Ausgangspunkt weiterer Diskussionen wurden. Kein Bei-
trag ist vor 1945 geschrieben, der jüngste stammt aus dem Jahr
1960. Hartmann hat sie zu folgenden Themenbereichen zusammenge-
stellt: 'Methodische Grundprobleme' (dazu P.F. Lazarsfeld und
R.K. Merton), 'Soziales Handeln' (T. Parsons, G.G. Homans, H.A.
Simon, P.M. Blau, A.M. Rose, R. Dubin), 'Status und Rolle' (R.
Linton, R.K. Merton, W.J. Goode), 'Soziales System' (T. Parsons
u. R.F. Bales, A.W. Gouldner, R.F. Bales, J.G. March u. H.A. Si-
mon, K. Davis u. W.E. Moore), 'Sozialer Wandel' (S.M. Lipset u.
H.L. Zetterberg, L.A. Coser, P.A. Sorokin). Den Abschluß bildet
ein Aufsatz von E.A. Shils über 'Die Zukunft der Soziologie als
Wissenschaft'.
Jedem Text ist eine wissenschaftliche Kurzbiographie des Verfas-
sers beigegeben.
Hartmann selbst hat eine ausführliche Darstellung zur Nachkriegs-
entwicklung der amerikanischen Soziologie beigesteuert, - von der
Studienanfänger aber nicht eine Einführung in Soziologie über-
haupt erwarten sollten, weil gewisse Kenntnisse zum Verständnis
der behandelten Gegenstände unumgänglich sind. Liest man das Buch
nicht um einzelner Aufsätze willen, sondern als Lehrbuch zu wich-
tigen Problembereichen, empfiehlt sich ohnehin der Beginn mit den
abgedruckten Texten.
Es ist müßig, zu den ausgewählten 20 Autoren weitere zu benennen,
die nicht herangezogen wurden, obwohl sie Bedeutsames z.B. zur
Gruppendynamik, zur Rollentheorie etc. beigetragen haben; ir-
gendwo muß ein Schnitt gemacht werden, und die Auswahl von Hart-
mann kann mit einem Vorbehalt als repräsentativ gelten.
Die Mehrzahl der Verfasser sind verständlicherweise Funktionali-
sten, daneben sind Psycho-Soziologen wie Homans und P.M. Blau
vertreten, ferner werden die Neopositivistische Schule und der
Symbolische Interaktionismus berücksichtigt. Es fällt dann doch
besonders auf, daß die sozialkritische Richtung in der amerikani-
schen Soziologie, - so gering ihre Basis im Vergleich zu den
herrschenden Schulen auch sein mag, - nicht aufgenommen worden
ist. Das bleibt auch dann ein Mangel, wenn man Soziologie wie der
Herausgeber nicht als 'Aufklärungswissenschaft', sondern als
'empirische Sozialforschung' versteht (Vf.). Denn immerhin bedau-
ert auch Hartmann angesichts der partialisierten Forschungspraxis
der positiven Soziologie in den USA, daß sowohl Theoriebildung
(37 ff.) wie Analyse größerer Gesellschaftssysteme (82) im Argen
liegen, und dazu hätten die engagierten Sozialwissenschaften doch
einiges beizutragen.
Freilich führten sie auf eine Ebene, wo gesellschaftliche Kon-
flikte nicht mehr im integrativen Rahmen von Anomieforschung be-
handelt würden. Kritische Wissenschaft, die zu systemgefährdenden
Konsequenzen führt, kann offenbar vom "Standpunkt der Soziologie
als positiver Erfahrungswissenschaft" (51), wie ihn Hartmann ver-
tritt, auch nicht berücksichtigt werden.
Folglich fehlen Leute wie C.W. Mills, Hans Gerth, I.L. Horrowitz
etc. Es wird allerdings kurios, wenn in seiner Einleitung unter
dem Rubrum 'Dialektiker und Humanisten' Horrowitz und P.L. van
den Berghe als einzige 'Dialektiker' erwähnt werden, der Name
Herbert Marcuse aber weder hier noch sonstwo auf den 90 Seiten
auftaucht. Rührend, wenn nicht zynisch mutet es an, wenn sich
dann der Herausgeber auch noch Sorgen um die "Chance der Sozial-
kritik in den Vereinigten Staaten" macht und eine "Verbindung mit
dem aufklärerischen Impuls in der amerikanischen Soziologie" emp-
fiehlt, was für Hartmann freilich nur bedeuten kann, "daß sie
ihre oppositionelle Grundhaltung verlassen und sich in die Ge-
sellschaft hineinstellen muß." 52)
Hartmanns eigene Kritik an der herrschenden Soziologie der USA
erfolgt in homöopathischen Dosen; oft zitiert er nur andere
Stimmen, ohne kenntlich zu machen, ob er diese Kritik teilt oder
nicht. So, wenn er auf die vorwiegend ahistorische Betrachtungs-
weise der amerikanischen Soziologie zu sprechen kommt oder den
neuen Evolutionismus in der strukturell-funktionalen Schule er-
wähnt. (54 f.)
Man mag es schon für einen Gewinn halten, wenn einige Funktiona-
listen sich von der synchronischen Analyse lösen und wieder
diachronisch sehen lernen. Aber was soll man vom 'allgemeinen
Evolutionismus' des Herrn Parsons halten, wenn dessen Analyse der
Gesamtentwicklung sozialer Systeme vom primitivsten Stadium an
bloß auf die Ermittlung von Komplexen universal-evolutionärer Er-
scheinungen zielt, die zu neuen Stufen der Anpassungsfähigkeit
eines Systems führen - wobei eben die gesteigerte Anpassungsfä-
higkeit als solche bewertet wird, "nicht im Hinblick auf be-
stimmte Zustände oder Vorgänge, denen es sich anzupassen gilt."
72)
Die Insistenz der Funktionalisten, das 'Überleben' des Sozialsy-
stems zum jeweiligen Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zu machen,
hat sie - wie Hartmann schließlich einräumt, "zu einer Reihe
echter Irrtümer verleiten lassen"; dazu gehören der Organizismus,
die zeitweilig behauptete Erklärung der Ursache aus der Wirkung
etc. (77)
Bleibende, d.h. weniger historisch bedingte als immanente, Schwä-
chen sind die Präponderanz in der Erforschung von Kleingruppen
gegenüber größeren Sozialsystemen, - wobei hier wiederum anzumer-
ken ist, daß in den Interaktionsanalysen die Betonung einseitig
auf den Beziehungen zwischen Einzelpersonen liegt, die Beziehun-
gen zwischen Gruppen aber vernachlässigt werden (86), - ferner
die mangelhaft entwickelte umfassende Theorie (87 f.), das pro-
blematische Verhältnis der allgemeinen Theorie zur Axiomatik
(41), überhaupt die weitgehende Ausklammerung erkenntnistheoreti-
scher Bemühungen in der Theoriebildung. (42)
Um den solcherart "festgefahrenen Funktionalismus" wieder mobil
zu machen, rät Hartmann zur Ergänzung der Intrasystem-Theorie
durch eine Intersystem-Theorie, was den besonderen Vorteil habe,
"daß sie den Funktionalismus dauerhaft und unverrückbar auf dyna-
mische Analyse festlegt und damit zu echter Theoriebildung an-
hält." (86)
Einstweilen muß bezweifelt werden, ob der Funktionalismus zu mehr
'Dynamik' als in Parsons 'allgemeinem Evolutionismus' in der Lage
ist; wenn aber, dann höchstens zu dem Zweck, die sich der Herr-
schaftskontrolle entziehenden emanzipatorischen Kräfte der Ge-
sellschaft unauffällig aber langfristig an die Kette legen zu
können.
Gegenwärtig scheint es mit Ansätzen in dieser Richtung noch er-
hebliche Schwierigkeiten im eigenen Lager zu geben. Wilbert E.
Moore hielt es für nötig, sein Buch über 'Social Change' (zuerst
1963) mit dem beschwichtigenden Einleitungskapitel zu versehen:
"Der Wandel ist etwas Normales", (13 ff.) - um gleich darauf
seine Leser, mit Wechselbadtherapie operierend, in der ersten
Zwischenüberschrift mit dem 'Chaos der Gegenwart' zu schrecken
(13 ff.). Wenn der beunruhigte Leser dann durch einige Gemein-
plätze wieder eingeschläfert ist, wird er behutsam mit dem System
der 'Spannungsbewältigung' (tension management) vertraut gemacht
(27 ff.).
Zwar ist Moore inzwischen realistischer geworden (im Vergleich
etwa zu dem rigiden Funktionalismus in seinem Schichtungsaufsatz,
der auch bei Hartmann abgedruckt ist), und er kann mit dem Be-
griff von Gesellschaft als einem System der Spannungsbewältigung
mehr von den gesellschaftlichen Widersprüchen bzw.
disfunktionalen Elementen erfassen als der äquilibristische An-
satz des klassischen Funktionalismus, - z.B. wenn er zu den mög-
lichen Verkaufsformen des Systemwandels horribile dictu "auch die
der Zerstörung" zählt (29); aber er leiht seine verbesserte Seh-
schärfe als Technokrat einem Gesellschaftssystem, dem er damit
nur beim Erkennen und rechtzeitigen Ausweichen vor den grundle-
genden Widersprüchen (nicht bei ihrer Aufhebung) behilflich sein
will. Die historische Möglichkeit der Zerstörung eines Systems
gilt fürs eigene nur als Hypothese, denn wie er zusammenfassend
versichert, können die "wahrhaft bedrohlichen Wandlungen ... sehr
wohl Widerstand finden und unterdrückt werden" 44).
Dazu paßt dann das fromme Bild, das er von der kapitalistischen
Betriebsorganisation malt, in dem ein institutionalisierter In-
teressenkonflikt für Wandel sorge:
"Wenn der Schatzmeister oder der kaufmännische Direktor einer Ge-
sellschaft das Interesse am Gewinn und an den Beziehungen zu den
Aktionären besonders in den Vordergrund stellt, so wird der für
die Öffentlichkeitsarbeit Zuständige 'für seinen Wahlkreis stim-
men' - nämlich im Namen der Verantwortung, die die Gesellschaft
gegenüber der Gemeinde trägt; der Personalchef wiederum wird für
die 'Entwicklung des menschlichen Potentials' der Arbeitnehmer
sprechen, und der für Absatzfragen zuständige Direktor wird die
Interessen der Verbraucher vertreten." (100)
Solchen Schmus würde ihm hier nicht mal mehr ein Betriebswirt im
ersten Semester abnehmen. Vielleicht aber äußert sich hierin bloß
jene eigene Sorte amerikanischer Naivität, die mit Ignoranz so
eng verbunden ist. Wie die statusfixierte akademische Soziologen-
gilde im allgemeinen alle Außenseiter ignoriert, so Wilbert E.
Moore hier konkret das, was Sozialkritiker wie C.W. Mills, David
Riesman, Vance Packard und viele andere z. B. zu diesem Thema ge-
sagt haben. Es ist die gleiche naiv affirmative Position, wie sie
deutlich wird, wenn er der "totalitären Lenkung in kommunisti-
schen Ländern" die "pluralistische Dezentralisierung in den west-
lichen Demokratien" gegenüberstellt (182). Es wundert dann schon
gar nicht mehr, wenn "die Frage der ungleichen Verteilung der
Macht" nicht im Rahmen eines konsistenten Herrschaftsbegriffs er-
örtert, sondern bloß als "Sonderfall des allgemeinen Problems der
Ordnung" dargestellt wird. (142)
Was er unter diesen Perspektiven über "Wandlungen kleinen For-
mats" (81 ff.) oder 'in Gesellschaften' (118 ff.), über die
'Modernisierung' in der Dritten Welt (148 ff.) zu sagen hat, ist
meist weder sehr originell noch als nützliche Zusammenfassung be-
sonders empfehlenswert.
In Summa: ein Buch, zu dem man vielleicht einem Politologen mitt-
leren Semesters raten könnte, der sich partout nicht davon ab-
bringen läßt, einmal wissenschaftliche Hilfskraft in der CDU-Bun-
destagsfraktion zu werden.
Rudi Schmidt
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