Quelle: Sozialistische Politik Jahrgang 1973
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Diskussion, Besprechung
NUN STINKEN SIE WIEDER
- oder wie man in Lübeck Heinrich Mann ehrt *)
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Der sichere Kompaß des Klasseninteresses hatte H(einrich) M(ann)
schon früh den Haß der bürgerlichen Ideologen eingetragen. Dabei
offenbarten vor allem die germanistischen Kathedergrößen ihre
ganze Niveaulosigkeit. Ihr Vokabular war stereotyp: HM "zersetz-
te", "verzerrte", war "hysterisch", "undeutsch", "einseitig",
"pathologisch", "überkünstelt", "geiststreichelnd", sein Stil war
"unnatürlich", "fehlerhaft", usw. 1)
Das hinderte nicht, daß HM massenhaft gelesen wurde: die revolu-
tionäre Arbeiterbewegung, die auch große Teile des intellektuel-
len Kleinbürgertums mit sich riß, schuf hierfür die Vorausset-
zung. 1930 wurde HM zum Präsidenten der Sektion Dichkunst der
Preußischen Akademie der Künste berufen, am 15.2.33 wurde er zu-
sammen mit Käte Kollwitz hinausgeworfen, weil beide einen "Aufruf
zur Bildung einer einheitlichen Front von SPD und KPD" 2) unter-
schrieben hatten. Die Presse lieferte den akademisch abgesicher-
ten Kommentar: "Wir können ein Gefühl der Genugtuung nicht unter-
drücken", schrieb die B e r l i n e r B ö r s e n z e i-
t u n g, "daß unserem Kampf gegen Heinrich Mann endlich Erfolg
beschieden ist." 3)
Herrliche Zeiten brachen dann für die Hüter der deutschen Art an,
als HM vor den Faschisten fliehen mußte: sie, allen voran die
Germanisten, konnten sich nach dem Sieg des Faschismus an den in-
neren, vom jüdischen Intellekt nicht länger bedrängten, deutschen
Werten wärmen, die das Ausbeutungssystem des Monopolkapitals und
seiner faschistischen Agenten stabilisieren halfen. Geistig anzu-
strengen brauchten sie sich nicht: Analyse war eine jüdische Er-
findung und tabu, Gesellschaft war ersetzt durch Blut und Boden,
und Geschichte durch den "Mythus": am 28.11.1936 wurde dann noch
die Kritik offiziell verboten: 4) herrliche Zeiten für Flach-
köpfe. "Sie haben", schreibt HM 1935, "mit ihrem Haß gegen das
höhere Denken und ein freies Volk, hundert Jahre lang heimlich
schlecht gerochen und dürfen jetzt offen stinken," 5)
Mit dem offenen Gestank war es 1945 zunächst ein wenig vorbei,
aber es miefte weiter: wo ein Paul Rilla fehlte, konnte ein Benno
von Wiese den Geistesfürsten spielen: in der Westzone, später
BRD. Dort übernahm im übrigen und was HM betraf die Germanistik
die Strategie ihrer faschistischen Zunftgenossen und verschwieg
ihn ganz einfach. 6)
Dies ändere sich ein wenig im Verlauf der 60er Jahre, aber es wa-
ren nur Außenseiter, die sich mit HM auseinandersetzten: einem
breiteren Publikum wurde er nicht bekanntgemacht, 7) und die eta-
blierten Fach-Germanisten hatten mit ihm nicht viel im Sinn.
Wahrscheinlich hätte man auch seinen 100. Geburtstag verschwie-
gen, wenn nicht die DDR große Heinrich-Mann-Veranstaltungen ange-
kündigt hätte. Also ließ man sich etwas einfallen: am Geburtsort
von HM sollte eine Tagung stattfinden. Eingeladen wurden Litera-
turwissenschaftler aus der BRD, aus den USA und einer aus West-
berlin, nämlich ich. Freilich machte ich mir große Illusionen
nicht: Walter Ulbricht sagte, was insgesamt zu erwarten sei:
"Seit Jahrzehnten wird Heinrich Mann im westdeutschen Staat fak-
tisch totgeschwiegen ...", daher seien "mit Sicherheit" Versuche
zu erwarten, "Heinrich Mann für (den) Alleinvertretungsanspruch
zu mißbrauchen und ihn im antikommunistischen Sinn zu verfäl-
schen." 8) Große Empörung in der westdeutschen Presse. DER SPIE-
GEL interviewte mich eine Stunde lang, ob dies denn zutreffen
könne. Eine Stunde lang sagte ich ja und bewies es. Herauskam am
1.2.1971: "Wer sich im Westen von einem zwischendeutschen Streit
um das Mann-Erbe Profit versprechen sollte, ließ Walter Ulbricht
freilich offen. Bislang bereitet in der Bundesrepublik allein die
Lübecker 'Thomas-Mann-Gesellschaft' ein Heinrich-Mann-Symposium
vor."
Die allerdings hatte genau das vor, was Walter Ulbricht vorausge-
sagt hatte: Abgrenzung gegen die "einseitige", "politische" Ver-
einnahmung HMs durch die DDR und Beschlagnahme des "litera-
rischen" HMs 9): man wolle nicht wie andere "einseitig" sein,
meinte der Leiter der Thomas-Mann-Gesellschaft und der HM-Tagung,
sondern "nüchterne wissenschaftliche Betrachtungen" anstellen:
"Es gilt eine literarische Leistung zu definieren, nicht aber,
ein Politikum zu statuieren." Diese goldenen Worte sind mit
abgedruckt in dem gerade im Münchener Wilhelm Zink Verlag er-
schienenen, von jenem Leiter der Tagung, einem Dr. Klaus Matthias
aus Scharbeutz herausgegebenen Sammelband der Vorträge: Heinrich
Mann 1871/1971. Bestandsaufnahme und Untersuchung. Ergebnisse der
Heinrich-Mann-Tagung in Lübeck.
Angesichts der Tatsache allerdings, daß der Band exakter Verfäl-
schung der Heinrich-Mann-Tagung in Lübeck heißen müßte, ist zu
vermuten, daß einiges falsch gelaufen ist und die Geldgeber, der
Senat der Hansestadt Lübeck und die schleswigholsteinische CDU-
Landesregierung nicht einverstanden gewesen sind. Dabei verlief
die Tagung insgesamt recht harmonisch, sieht man davon ab, daß
einige Studenten diskutieren wollten 10) und wiederum andere als
Korrektur von "links" die nachträgliche Einladung von Alfred Kan-
torowicz forderten. 11) Ich hingegen war mit der Tagung ganz ein-
verstanden, was ich auch als Vorbemerkung zu meinem Vortrag im
Festsaal des Rathauses sagte. Es sei, so meinte ich, von den Ver-
anstaltern dieses Tagung und den gastgebenden Honoratioren immer
wieder betont worden, daß man im Gegensatz zu den HM-Feiern in
der DDR hier keine politische Veranstaltung abhalten wolle. Dies
aber seien ja wohl sehr politische Bemerkungen, und dies sei
schön so, denn immerhin sei ja HM während seines ganzen Lebens
ein politischer Mensch und Schriftsteller gewesen, so daß ein Au-
ßerachtlassen der politischen Implikationen und Intentionen sei-
nes Werkes einer Verfälschung gleichkäme. Es sei daher gerade in
einer Zeit, da HM - wäre er SPD-Mitglied - "wegen seines Engage-
ments für eine sozialistisch-kommunistische Volksfront aus der
SPD ausgeschlossen würde," 12) dringend, ihn als politischen
Schriftsteller zu behandeln, so wie dies dankenswerterweise in
Lübeck der Fall sei. Ob es nun dies oder jenes gewesen ist oder
vielleicht die Tatsache, daß ich meinen Vortrag während der Ta-
gung noch ein zweites Mal in Lübeck hielt, nämlich vor Kampfge-
fährten Heinrich Manns, die z.T. jahrelang in KZ's hatten sitzen
müssen, Genossen von der DKP, was sich in Lübeck herumgesprochen
haben mag - was auch immer, irgendetwas muß das ursprüngliche
Konzept durcheinandergebracht haben, und zwar so, daß der Herr
Dr. Klaus Matthias nachträglich die Tagung dermaßen manipuliert
hat, daß sich daraus ein handfester Skandal für die BRD-Germani-
stik entwickeln wird.
Ich will hier nicht auf die zehn Vorträge eingehen, die außer dem
des Dr. Matthias in Lübeck gehalten wurden; sie sind z.T. sehr
gut, auf jeden Fall aber, und das reicht ihnen zur Ehre, scheinen
sie nicht die Erwartungen zu erfüllen, die der oder die Veran-
stalter in die Tagung gesetzt haben. Selbst die kleinen antikom-
munistischen Sticheleien von Herrn Durzak "Exil-Motive im Spät-
werk Heinrich Manns. Bemerkungen zu dem Roman 'Der Atem'" /203-
219/ scheinen bei weitem nicht ausgereicht zu haben, zumal sich
der Schlußredner Andre Banuls, sonst durchweg nicht zurückhaltend
mit seiner Verurteilung HMs und des Kommunismus, 13) auffallend
mäßigte.
Damit war offensichtlich das Planziel des Manövers nicht er-
reicht: Auftritt Dr. Klaus Matthias. Er, der einen ziemlich be-
liebigen Vortrag unter allen anderen gehalten hatte ("Heinrich
Mann und die Musik"), walzt diesen zunächst einmal auf sage und
schreibe 130 Seiten (gegenüber einem Schnitt von 22,3 Seiten der
anderen Tagungsredner) aus, fügt dann noch ohne irgendeine Ab-
sprache, Rückfrage oder Erlaubnis hinter dem Rücken der Tagungs-
teilnehmer einen 18 Seiten langen Aufsatz eines gewissen Jörg B.
Bilke über "Heinrich Mann in der DDR" in den Sammelband ein und
beschließt diesen mit einem wiederum den anderen Tagungsrednern,
die ihre Einwilligung zum Abdruck ihres jeweiligen Beitrags im
Rahmen der in Lübeck gehaltenen Vorträge gegeben hatten, nicht
vorgelegten, unautorisierten, 57 Seiten langen eigenen Aufsatz
"Heinrich Mann 1971 - Kritische Abgrenzungen" /385-442/.
Normalerweise würde man solches Vorgehen herausgeberisches Pira-
tentum nennen, in diesem Fall aber kommt noch der politische
Skandal hinzu. Mit Herrn Bilke geht es (nach vorbereitenden Pole-
miken im 130-Seiten-Aufsatz des Herausgebers) in medias res: die
Rede Walter Ulbrichts zum 100. Geburtstag HMs wird aus der vollen
Kompetenz des in der HM-Forschung bislang unbekannten Bilke so
bewertet /376/: "Der hymnische Ton ist verräterisch: nicht um
Heinrich Mann ging es, sondern um sein literarisches Ansehen, das
sich als Dekor für angeblich sozialistische Politik verwenden
läßt." Und was tatsächliche sozialistische Politik ist, weiß bei
uns schließlich ja jeder Hinz und Bilke, der z.B. die Tatsache,
daß über HM auch in Betrieben, Dorfklirbs und LPG's diskutiert
wurde /377/ "peinliche Apothesen" nennt. Konkret hat er nichts zu
beanstanden, im Gegenteil: "bei allen kritischen Einwänden"
(welcher wird nicht verraten) "gegen eine zu eindeutig politisch
motivierte Literaturforschung" sind "die editorischen Bemühungen
um Heinrich Manns Gesamtwerk" "durchaus anzuerkennen." Die Aner-
kennung erfolgt mit heiteren Einlagen: die große Tagung in Berlin
(DDR), an der u.a. Pierre Bertaux, Pierre Abraham, Andre Gissel-
brecht, Alexander Dymschitz, Friedrich Hitzer, Wieland Herzfelde,
Alexander Abusch, Wilhelm Gernius, Sigrid Bock, Werner Herden
teilnahmen "verstand sich als Gegenstück zur Lübecker Veranstal-
tung" /382/. "Wessen Heinrich Mann und sein Werk im Jahr 1971 nun
eigentlich ist, muß vorerst ungeklärt bleiben", orakelt Herr
Bilke /384/, "fest steht lediglich, daß sein Alterspessimismus
... kaum mit dem verkrampft wirkenden Aufbaupathos der ersten 14
Nachkriegsjahre im anderen Teil Deutschlands auf einen Nenner zu
bringen ist."
Spätestens hier müßte den Germanisten aus der BRD und aus den USA
die mit ihnen vorgenommene antikommunistische Manipulation un-
heimlich werden. Sie macht deutlich, was man in Lübeck eigentlich
erwartet hatte und was anscheinend nicht gelungen ist: ohne Skru-
pel verpaßt der norddeutsche Saubermann der Tagung nachträglich
den antikommunistischen Kalten-Kriegs-Rahmen. Ohne ihr Dazutun
sehen sich die Tagungsredner vor den dreckigen Karren der DDR-
Hetze gespannt: werden sie sich distanzieren oder werden sie
schweigen und damit zu erkennen geben, daß sie in Wahrheit ein-
verstanden sind?
Dr. Matthias nimmt sie hart heran, denn der Aufsatz des Herrn
Bilke ist ihm offensichtlich nicht genug: er fabriziert noch mehr
"Kritische Abgrenzungen". Ihn schert die kompetente HM-Forschung
nicht, denn einen Autor dieser "literarischen Artung" /384/ weiß
er selbst einzuschätzen. Wenn man HM bei uns nicht kennt, dann
liegt das nur an HM selbst, der eben nicht gut genug geschrieben-
hat. Dr. Matthias hat dafür Beweise: 1. Erich von Kahler, "ein
wissender Analytiker" /386-388/ hat ihn nicht beachtet; 2. in den
"Denkgefügen" von W. Emrich, W. Jens und G. Blöcker hat HM keinen
Platz /388-389/; 3. wenn er aber einmal in einem "Denkgefüge" wie
dem von Hans Kaufmann Platz hat, dann nur weil es ein parteilich-
marxistisches ist /390/. Wichtiger aber noch als diese Zeugnisse
sind ihm die philosophisch anspruchslosen Nachschlagwerke /390-
391/, die Garantie für Gediegenheit bieten: 1. HM fehlt im Sam-
melwerk "Die großen Deutschen" (1956); 2. A. Hauser kennt ihn
nicht in seiner "Sozialgeschichte der Kunst und Literatur"; 3. im
Literatur-Lexikon des Fischer-Verlages ist HM nicht anzutreffen;
4. im 12bändigen Kindler-Produkt "Die Großen der Weltgeschichte"
sucht man ebenfalls vergeblich nach HM: kann ja nicht viel her
sein mit seiner Größe 14): "Die notorische Wirkungslosigkeit
vieler Bücher Heinrich Manns ist durch ... künstlerisch-sprachli-
che Mängel begründbar" /395/, schreibt er, damit die Behauptung
aller deutschnationalen Germanistengenerationen vor ihm wieder
aufwärmend. Was macht es schon, daß selbst ein Herr namens Benn
1931 von HMs Werk meinte, es sei "die entfalteste deutsche
Sprachschöpfung" 15)? Gewiß der Herr war kein Kommunist, aber ein
Sprachkritiker wie der Dr. Matthias, der selbst vor Rainer Candi-
dus Barzel nicht zurückschreckt, läßt sich in seinem eigenen Ur-
teil nicht beirren. Er zitiert wahllos und dilettantisch einen
Satz HMs, ohne dessen Funktion zu untersuchen: "Der Mann, sich
zusammenreißen und abmarschieren" /394/, sagt: "Verhunzung der
Sprache" und zieht den (nach Karl Kraus) "repräsentativen Schmu-
ser der europäischen Kultur" Stefan Zweig als Autorität zur Ver-
urteilung HMs heran: "Der Wirrwarr der hier ausgebreiteten Zick-
Zack-Psychologie", befindet Dr. Matthias an anderer Stelle,
"läßt... auf eine Zerrissenheit Heinrich Manns selbst schlie-
ßen..." /395/.
Der Kern der Scharbeutzer Beanstandungen /401/: die "irrationale
Hinwendung 'HMs' zu einem verbrecherischen Totalitarismus, den er
als humanen Fortschritt mißverstehen wollte." Von den "30er Jah-
ren an" /402/ entbehren HMs Werke nämlich der "sittlichen Kompo-
nente", dafür enthalten sie Beweise "einer kritiklosen Anbetung
des sowjetischen Terrorsystems": "Den dem Kommunismus hörigen
Heinrich Mann der Spätzeit darf man billig jenen Ideologen über-
lassen, die das östliche System der Unterdrückung der Freiheit
stützen und davon profitieren oder die im Westen ... auf seine
Einführung auch hier hinwirken." /404/
Der Gali-Matthias **) kennt keine Grenzen: die Zeit ist gekommen
für die Anrufung der Götter gegen das Böse: Auftritt Konrad
Adenauer, dem der Herr Doktor in ökonomischen Fragen lieber ver-
traut als dem HM, der 1923 vor der Konzentration des internatio-
nalen Kapitals warnte. In Wahrheit war dies nämlich eine Wohltat
für die Welt, wie die nachfolgende Zeit tot-schlagend erwies.
Auftritt der zweite Gott: Herr Theodor Heuß. Er kommt /412-413/
lautselig wie immer nur so: mit HM hat er eigentlich direkt auch
nichts zu tun, aber er wärmt im Gegensatz zu diesem das Herz.
Auftritt der dritte Gott: Herr Carlo Schmid, der nicht nur en
passant den Marx gemurxt hat /413-414/, wobei ihm übrigens kompe-
tent der erwähnte Barzel hilft 16), sondern auch den
"sowjetischen Totalitarismus" "entlarvte", und als vierten Gott
läßt die Machina des Dr. Matthias endlich Herrn Golo Mann auf die
Bühne springen, der /414-418/ seine als Geschichtsphilosophie
verkleideten antikommunistischen Emotionalien verbreiten darf:
den Onkel konnte er auch nie leiden, wie man weiß. Er befindet
für den Dr. Matthias, daß vom "kommunistischen Glauben" "der
ganze 'Kalte Krieg'" stammt /418/. Vom Dr. Matthias stammt dafür
der kalte Kaffee, an dem wir schwer schlucken und der uns die im
Neuköllner Tageblatt 1933 abgedruckten Sprüche in Erinnerung
bringt, mit denen die Faschisten die schandbaren Bücherverbren-
nungen vornahmen: 1. "Gegen Klassenkampf und Materialismus, für
Volksgemeinschaft und idealistische Lebenshaltung! Ich übergebe
der Flamme die Schriften von Marx und Kautsky". 2. "Gegen Deka-
denz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte in Familie und
Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann,
Erich Glaeser und Erich Kästner." 17)
Aber Dr. Matthias kennt sich nicht nur im Gebiet der großen ge-
schichtlichen und politischen Theorien aus, er ist auch im Klei-
nen sehr fleißig, wobei er sich auf Herrn Alexander Schwan und
keinen geringeren als den Herrn Stoltenberg berufen kann /420/:
"Das Aufkommen einer spät-marxistischen Bewegung Ende der 60er
Jahre trägt alle Züge des freiheitsfeindlichen Totalitarismus an
sich...", und er berichtet vom "Klima der permanenten radikalen
Hetze" und der "Einschüchterung durch physischen und psychischen
Terror bis zur Anwendung brutaler Gewalt - der Morddrohungen und
des Mordes - bei Banküberfällen, Geiselnahmen und Bombenanschlä-
gen". Die Unterwanderung der akademischen Institutionen sind
/421/ nicht vergessen, denn der Dr. Matthias ist ein ordentlicher
Mensch und macht alles sehr gewissenhaft. Er weiß auch zu berich-
ten, was zu den "pubertären Aggressionen" führt: die Sehnsucht
der /422/ "Neuen Linken" nach "Geborgenheit und dem Anschein der
Überlegenheit". Beides holen sie aus einer "weit zurückreichenden
marxistischen Sozialwissenschaft", die ihnen z.B. von Adorno ge-
liefert wurde: "So zerfaserte Adorno das Kulturganze, das vergan-
gene wie das gegenwärtige Leben mit der elitären Überlegenheit
dessen, der jede Bewegung in Kunst und Leben als bildhaften Vor-
gang des Weltgeistes selbst zu dechiffrieren wußte." Dazu ein
weiterer Neuköllner Sauberspruch von '33: "Gegen seelenzerfa-
sernde Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschli-
chen Seele! Ich übergebe der Flamme die Seele Sigmund Freuds."
Sollte jemand an Zufälligkeit der Wortwahl glauben, so sei ihm
dieser Glaube geraubt /422/: "Daneben und weiter noch zurückrei-
chend das mystisch zerwühlte eschatologische und zugleich dies-
seitsbrünstige Denken von Ernst Bloch oder die paradoxen Tricks
der pseudologischen Verführungen Herbert Marcuses: Denkergebnisse
sehr praktischer Revolutions-Schürer, denen Gewalt für die gute
Sache des Marxismus nicht zu schlecht dünkt..." und immer weitere
Plattheiten mit dem alten bekannten Vokabular, mit denen damals
"die Juden" belegt wurden. Durch Zufall sind es gerade wieder
welche: auch Iring Fetscher und Habermas gehören zu den Revoluti-
onsköchen: ihr "Gedankengut" findet /423/ Aufnahme bei
"epigonalen Modedenkern und Jungautoren" und die wiederum ver-
breiten es über Presse, Verlage, Funk und Fernsehen (der Dr.
Matthias zählt alle "linken" Fernsehsprecher auf, die sich posi-
tiv zur "Ostpolitik" geäußert haben /423/). Usw., usf.: Brandt
und Wehner werden gerügt, die Kritik der friedlichen Koexistenz,
die die UdSSR propagiert, wird entlarvt: Es ist ein Graus. So je-
mand durfte Heinrich Manns 100. Geburtstag ausrichten und die
Beiträge zur Tagung edieren. Es ist ein nacktes Verbrechen an
Heinrich Mann /442/: "Heinrich Manns notorische Unbeliebtheit
oder Unbekanntheit" sei das "einzige Lamento", das den Verehrern
HMs "gegenüber einer störrischen Umwelt" einfiele. Als der damals
auf deutschem Boden bereits befohlenermaßen "notorisch unbe-
kannte" HM am 22. Juni 1935 den Vorsitz auf dem Pariser Kongreß
zur Verteidigung der Kultur übernahm, erhoben sich alle Anwesen-
den zu minutenlangem Applaus. Das waren fast alle großen, damals
lebenden Schriftsteller der ganzen Welt. "Setzen" zischt ihnen
ein neuer Rat, ein Studienrat aus Lübeck zu. Der Kerl: auftreten,
Antikommunismus ausspucken und abstinken.
Michael Nerlich
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*) Der Autor war geladener Referent auf der Tagung, die anläß-
lich des 100. Geburtstages von Heinrich Mann in Lübeck 1971
stattfand. Das von ihm gehaltene Referat - eine Werkanalyse zu
ideologischen Erscheinungsformen bei Heinrich Mann - ist nun
nachzulesen: Michael Nerlich: "Warum Henri Quarre?", in: HEINRICH
MANN 1871/1971, Bestandsaufnahme und Untersuchung, Ergebnisse der
Heinrich-Mann-Tagung in Lübeck, München 1973, S. 163-202.
1) Vgl. Klaus Schroten "Deutsche Germanisten als Gegner Heinrich
Manns", in: H.L. Arnold (Hrg.): "Heinrich Mann", TEXT + KRITIK,
1971, S. 141-149.
2) "Protokoll der Sitzung der Akademie", zit. J. Wulf: LITERATUR
UND DICHTUNG IM DRITTEN REICH, Gütersloh 1963, S. 19.
3) Ebenda, S. 21, vgl. weiter dort.
4) Ebenda, S. 270.
5) H. Mann: "Aufbau einer geistigen Welt", in: VERTEIDIGUNG DER
KULTUR, Berlin-Weimar 1971, S. 102-106, 103.
6) Vgl. F. Hitzer: "Heinrich Mann und die Bundesrepublik 1971",
ARBEITSHEFTE DEUTSCHE AKADEMIE DER KÜNSTE in Berlin, 1971, Nr. 8,
S. 193-195.
7) Vgl. AKZENTE, 1969, Heft 5.
8) NEUES DEUTSCHLAND, 22.1.1971.
9) Vgl. M. Nerlich: "Nachtrag zur Lübecker Heinrich-Mann-Feier",
in: Berliner EXTRADIENST, 8. April 1971, IX-XI.
10) Vgl. Klaus Wagner: "Ein Zeitgenosse wird besichtigt. Die Lü-
becker Heinrich-Mann-Tagung", FAZ vom 29.3.1971; J. Drews:
"Heinrich Mann-Ehrung mit peinlichen Pannen. Mit einem Potpourri
von Vorträgen feiert die Hansestadt Lübeck ihren zweiten großen
Sohn", SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 31.3.71.
11) Das war das Hauptmerkmal der "linken" Germanisten- und Jour-
nalisten-Polemik gegen die Lübecker Tagung, daß sie mit dieser
Polemik auch gleich noch Polemik gegen die DDR betreiben wollte:
vgl. u.a. H.L. Arnold: "Vorbemerkung", in: HEINRICH MANN, a.a.O.,
S. 4-5.
12) HEINRICH MANN 1871/1971, a.a.O., S. 440. Der Herausgeber, der
sich sonst sogar noch an die Namen der intervenierenden Studenten
und Journalisten erinnert und sie alle wie weiland ein berühmter
Lübecker Amtskollege mit seinem Zorn verfolgt, spricht hier nur
von einem "Referenten". Also der war ich.
13) Vgl. DAS ARGUMENT, 79, S. 479-483.
14) In der Neuauflage seines Aufsatzes kann Dr. Matthias noch
zwei Nachschlagwerke anführen, in denen HM mit keiner Silbe er-
wähnt wird: Kurt Wais (Hrg.): DIE GEGENWARTSDICHTUNG DER EUROPÄI-
SCHEN VÖLKER, Berlin 1939; Dr. Hellmuth Langenbucher: VOLKHAFTE
DICHTUNG, Berlin 1941.
15) D. Wellershoff (Hrg.): GESAMMELTE WERKE, Frankfurt 1968, Bd.
III, S. 700.
**) Für die, die keinen Duden zur Hand haben: "Galimathias":
sinnloses Geschwätz, verworrenes Gerede (frz.).
16) Ebenda, S. 414. Später treten noch auf J.B. Gradl, H. Winde-
len, W. Leisler-Kiep, K. Th. Freiherr zu Guttenberg, (Strauß
fehlt).
17) J. Wulf: LITERATUR UND DICHTUNG IM DRITTEN REICH, a.a.O., S.
45.
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