Quelle: Sozialistische Politik Jahrgang 1978


       zurück

       Diskussion & Kritik
       
       Wulf Krause
       

WIDER DEN PSYCHOLOGISCHEN REDUKTIONISMUS IN DER PHILOSOPHIE

Notwendige Bemerkungen zu Hültenschmidt/Schubring ------------------------------------------------- Seit einiger Zeit scheint ein Gespenst umzugehen unter den Philo- sophen, das Gespenst der Wissenschaft. Nie zuvor hat es eine breitere Diskussion in der Frage gegeben, was Wissenschaft ei- gentlich sei. Dieses Thema, das ja zu den klassischen Themen in der Philosophiegeschichte gehört, gewinnt neue Problemhorizonte durch die Entwicklung vieler Einzelwissenschaften, vor allem der Naturwissenschaften in einem beschleunigten Prozeß, den wir mit dem Namen wissenschaftlich-technische Revolution versehen haben. Es scheint so zu sein, daß mit dieser sprunghaft beschleunigten Entwicklung der Wissenschaften, wie auch mit ihrem zunehmenden Vergesellschaftungsgrad sich neue Sachverhalte gebildet haben, die die philosophische Reflexion mit ihrem traditionellen Katego- riennetz nicht mehr zu fassen in der Lage ist. Es wurde notwendig, den wirklichen Prozeß wissenschaftlicher Ar- beit als Element der gesellschaftlichen Produktion zu erforschen. So ergaben sich neue Sichtweisen des Phänomens Wissenschaft, die marxistische Philosophen ebenso beschäftigen mußten, wie nicht- marxistische Philosophen. Dies zeigt sich deutlich in der Diskussion um den kritischen Ra- tionalismus etwa bei Kühn, Lakatos und Feyerabend, in der weder das Falsifikationspostulat als Entwicklungsmodus von Wissen- schaft, noch die radikale Trennung von Wissenschaft und Philoso- phie - zwei Essentials des kritischen Rationalismus - noch an- nehmbar erscheinen. Im Gegensatz hierzu ist in der marxistischen philosophischen Diskussion der enge Zusammenhang von Philosophie und einzelwissenschaftlicher Erkenntnis niemals in Frage gestellt worden. Mit der Umarbeitung der dialektischen Philosophie Hegels in eine materialistische Dialektik durch Marx und Engels waren der dialektisch-materialistischen Philosophie neue Aufgaben ge- stellt: "Was von der ganzen bisherigen Philosophie dann noch selbständig bestehen bleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen - die formelle Logik und die Dialektik." (Engels, MEAS II, S. 121) Aber diese "Lehre vom Denken" kann nicht für sich, gleichsam im "reinen Geiste" entwickelt werden, sondern nur im Zusammenhang mit dem Inhalt des Denkens und der ihm zugrunde lie- genden Tätigkeit. In Bezug auf die Wissenschaften formuliert En- gels dieses Verhältnis so: "Die Natur ist die Probe auf die Dia- lektik, und wir müssen es der modernen Naturwissenschaft nachsa- gen, daß sie für diese Probe ein äußerst reichliches, sich täg- lich häufendes Material geliefert und damit bewiesen hat, daß es in der Natur, in letzter Instanz, dialektisch und nicht metaphy- sisch, daß sie sich nicht im ewigen Einerlei eines stets wider- holten Kreises bewegt, sondern eine wirkliche Geschichte durch- macht." (Engels, MEAS II, S. 117. Diese Sätze, die nur zehn Jahre vor der Entwicklung der Quanten- theorie durch Planck (1900) und fünfzehn Jahre vor der Ausarbei- tung der speziellen Relativitätstheorie durch Einstein (1905) formuliert wurden, fanden sich sehr wohl auf der Höhe der natur- wissenschaftlichen Kenntnis der Zeit. Wesentliche Bestätigungen der dialektischen Auffassung der Welt sah Engels bekanntlich vor allem in drei Entdeckungen, die den materiellen Bewegungs- und Entwicklungszusammenhang der objektiven Natur im Gegensatz zur metaphysischen Starrheit des Substanzbegriffs der Philosophie des 18. Jahrhunderts belegten: Die Entdeckung des mechanischen Wärme- äquivalents, das zuerst von Benjamin Thomson 1798 formuliert und schließlich 1842 von Julius Robert Mayer als Energieerhaltungs- satz entwickelt wurde. Die Entdeckung des Aufbaus der Organismen durch Zellen, die von Schleiden, Schwann und Virchow entwickelt wurde, sowie die Evolutionstheorie der Arten durch Darwin. Durch derartige Entdeckungen, die Bestätigungen der dialektisch-mate- rialistischen Auffassungen waren, mußte Engels optimistisch sein in Hinsicht auf die Durchsetzung dialektischen Denkens auch in den Naturwissenschaften selbst, zumal dieser Optimismus durch den Freund und Chemiker Carl Schorlemmer gestützt wurde. Wenn sich diese Entwicklung noch nicht realisiert hat, so daß wir uns noch heute mit dem Verhältnis von dialektischem Materialismus und Naturwissenschaften befassen müssen, ist es wohl notwendig darüber nachzudenken, welche Gründe das haben mag. Es sind vor allem zwei Fragen, die hier weiterführen können: l.) Ist die Art und Weise, in der objektive Sachverhalte theoretisch formuliert werden in der dialektisch-materialistischen Philosophie dieselbe wie in der naturwissenschaftlichen Theoriebildung oder nicht? 2.) In welcher Beziehung steht die Kategorie des dialektischen Wider- spruchs zu dem in dem in den mathematisch verfahrenden Naturwis- senschaften notwendig gültigen Gesetz vom ausgeschlossenen logi- schen Widerspruch? Hierbei ist nun zu sehen, daß die zweite Frage, nur die speziell methodologische Formulierung der ersten Frage ist. Genau diese Fragen sind es nun, von de en Peter Ruben in seinen inzwischen ja schon recht zahlreichen Veröffentlichungen seinen Ausgangspunkt nimmt. Eine bis 1976 geführte Bibliographie zeigt, daß die veröf- fentlichten Artikel weit über 500 Druckseiten aufweisen. Die nicht veröffentlichten Manuskripte umfassen mehr als 1000 Seiten, allein die beiden Dissertationen, zwei Drittel davon. Es kann hier daher nicht darum gehen, die Auffassungen Rubens um- fassend darzustellen. Angesichts der offenkundigen Schwierigkeit ihrer Rezeption, die sich in dem Aufsatz von Hülten- schmidt/Schubring dokumentiert, soll auf den Weg hingewiesen wer- den, auf dem Ruben die beiden genannten Fragen zu beantworten sich aufgemacht hat. Sein - soweit ich sehe - erster Artikel hat den programmatischen Titel: "Zum Verhältnis von Philosophie und Mathematik, Dialektik und Logik - dargestellt am Widerspruch" und ist abgedruckt in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, Son- derheft, 1966. In diesem Artikel nun "soll eine Diskussion des Widerspruchspro- blems vorgetragen werden, die gewisse Gesichtspunkte in den Vor- dergrund rücken wird, von denen in den gegenwärtigen Überlegungen zu diesem Problem kaum Gebrauch gemacht wird." (Ruben, 1966, S. 167) Seine Überlegungen knüpfen daran an, daß selbst unter so re- nommierten Philosophen wie G. Stiehler und G. Klaus sich ein sehr mißtrauisches Verhältnis zur Kategorie des dialektischen Wider- spruchs findet, sofern ihr methodologische Relevanz in den Natur- wissenschaften zugebilligt werden soll. Das ist für Naturwissen- schaftler nur zu natürlich, grenzt doch die Vorstellung etwa ei- ner widerspruchsvollen Mathematik ans Absurde. Dieses Mißtrauen unterstellt aber die "reine Verschiedenheit der Widersprüche. ...logischer und dialektischer Widerspruch haben nach dieser Vorstellung nur das gemein, nichts miteinander gemein zu haben. Die hier darzustellende Konzeption beruht nun wesent- lich auf dem Gesichtspunkt, statt von der reinen Verschiedenheit vielmehr vom konkreten Zusammenhang der Sätze vom logischen und dialektischen Widerspruch auszugehen." (Ruben, 1966, S. 168) Hierzu bedient er sich der von Hegel ererbten Formulierung: "Es bewegt sich etwas nur, ...indem es in einem und demselben Jetzt hier und nicht hier, indem es in diesem Hier zugleich ist und nicht ist." (Hegel, 1951, S. 59) Diese klassische, bekanntlich auch von Engels übernommene Formu- lierung des dialektischen Widerspruchs als in der sinnlichen Be- wegung daseiend, führt nun zu einer Überlegung, die zunächst im Zusammenhang der Frage nach der Art und Weise der theoretischen Widerspiegelung eines objektiven Sachverhalts in Philosophie und Naturwissenschaft steht, aber unmittelbar auf den Zusammenhang von Dialektik und Logik zielt. Es stellt sich nämlich die Frage: Können u m g a n g s s p r a c h l i c h e Aussagen unmittelbar einen logischen Widerspruch ausdrücken?" (Ruben, 1966, S. 168) Dies ist nur dann der Fall, wenn zwischen den in der Aussage ver- wendeten Zeichen, d.h. den Wörtern und ihrer Bedeutung in der Aussage eine e i n d e u t i g e Beziehung existiert. Eine sol- che eindeutige Beziehung sei aber nicht von vornherein für die natürliche Umgangssprache anzunehmen. Sie sei vielmehr erst Pro- dukt einer bestimmten Tätigkeit des Denkens, nämlich der Abstrak- tion. Unterstellt man aber für so paradox erscheinende Aussagen, wie die Hegels, ihre l o g i s c h e Widersprüchlichkeit, so koppelt man implizit die Bildung von Bedeutung ausschließlich an die Abstraktion, oder anders: was nicht durch Abstraktion be- stimmt ist, sei nicht bestimmt, und damit ohne Bedeutung. Dies so meint Ruben, ist eine Unterstellung deren unreflektierte Annahme wesentlich dazu beigetragen habe, daß die Beziehung von Philosophie und Mathematik, von Dialektik und Logik noch so wenig deutlich sei. "Es kommt darauf an, zu erkennen, daß die Existenz von Bedeutung n i c h t a u s s c h l i e ß l i c h durch die Abstraktion hergestellt wird, daß insbesondere d i e P h i l o- s o p h i e n i c h t a b s t r a h i e r t, daß philosophi- sche Bedeutung durch eine andere (genauer gesagt: [zur Abstrak- tion, W.K.] dialektisch entgegengesetzte) Aktion des Denkens zu- stande kommt, die man sinnvoll K o n k r e t i o n nennen sollte " (Ruben, 1966, S. 168) Diese Aussage ist nun fundamental für die weitere Diskussion des Verhältnisses von Philosophie und Naturwissenschaften, bzw. Ma- thematik. Es zeigt sich nämlich, daß mit der Abstraktion die Her- vorbringung einer logischen Bedeutung der Zeichen in einer Aus- sage verbunden ist, während mit der dialektisch entgegengesetzten Tätigkeit, der Konkretion die Hervorbringung einer philosophi- schen Bedeutung der Zeichen in einem Satz verbunden ist. Dieser Unterschied ist nun wichtig für die Beantwortung der er- sten Frage nach der Art und Weise philosophischer und mathemati- scher theoretischer Aussagen über objektive Sachverhalte, oder anders: in welcher Beziehung stehen theoretische Aussagen und Ge- genstand, über den die Aussagen getroffen werden? Während sich nun philosophische Aussagen immer auf das Sinnlich-Konkrete der Wirklichkeit, das die Entwicklung und den Widerstreit der Dinge einschließt, beziehen, und diese so unter Verwendung des dialek- tischen Widerspruchs als K o n k r e t - A l l g e m e i n e s formulieren, also in der Umgangssprache, führt die Abstraktion über die Umgangssprache hinaus. Die Abstraktion nimmt aber gerade nicht die Wirklichkeit als Sinnlich-Konkretes, sondern zieht b e s t i m m t e Momente von ihm ab, abstrahiert also die Momente, die in der Aussage prädi- ziert sind. Sie formuliert sie als A b s t r a k t - A l l g e- m e i n e s. Die Wirklichkeit spielt dann die Rolle des m a- t e r i e l l e n R e p r ä s e n t a n t e n für Zeichen, die in dem Satz in Form einer - etwa logischen - Relation zueinander bestimmt sind und entsprechend formuliert werden. Ihre Sprache ist daher die der Logik bzw. der Mathematik und folgt ihren Gesetzen, also auch dem vom ausgeschlossenen Widerspruch. Wie aber stellt sich unter den gegebenen Bedingungen die zweite Frage, die nach dem Verhältnis von Logik und Dialektik; oder genauer die Frage nach der k o n k r e t e n Identität der Sätze vom logischen und dialektischen Widerspruch? Sind also, philosophische Aussagen, die im dialektischen Materialismus den Widerspruch einschließen für die Mathematik sinnlose Aussagen, da letztere den Widerspruch ausschließt? Schon jetzt ist offenkundig, daß Logik und Dialektik nicht den gleichen Geltungsbereich haben. Dies zeigt sich schon in ihrer jeweiligen Beziehung zum objektiv Wirklichen. Wenn dem Konkret- Allgemeinen der Philosophie das Sinnlich-Konkrete zugrunde liegt, so liegt dem Abstrakt-Allgemeinen offenbar ein Abstrakt-Konkretes in der objektiven Wirklichkeit zugrunde. Was aber ist das? Es ist etwas praktisch produziertes. Es sind materielle Gegenstände, die so bearbeitet worden sind, daß sie in ausreichendem Maße als Re- präsentaten des Abstrakt-Allgemeinen fungieren können. Ein sol- cher materieller Gegenstand ist z.B. das Urmeter in Paris, das als materieller Repräsentant der Abstraktionsklasse Länge dienen kann, d.h. es ist Repräsentant aller ihm längengleichen Dinge. Als solches Ding ist es Abstrakt-Konkretes. Diesem vorausgesetzt ist aber die Existenz des Sinnlich-Konkreten, der materiellen Welt, aus dem diejenigen Gegenstände überhaupt erst ausgewählt und entnommen werden können, die im gezeigten Sinne zur Realisie- rung von Abstrakta dienen können. Die Bildung einer mathemati- schen Größengleichung ist nun die theoretische Tätigkeit, der die praktische Tätigkeit des Vergleichs eines zu messenden Gegenstan- des mit dem abstrakt konkreten Ding - in unserem Falle dem Urme- ter oder einer seiner Kopien - durch wiederholtes Anlegen, zu- grunde liegt. Für die theoretische Bildung der Abstrakta ist die logische Iden- titäts- und Widerspruchsfreiheitsanforderung konstituierend. "Aber der Prozeß, der sie mit den materiellen Gegenständen selbst verbindet, unterliegt den Prinzipien der konkreten Identität, wie sie der theoretischen Dialektik zugrunde liegen. Damit ist klar, daß Logik und Dialektik einander bedingen: man muß effektiv ab- strahieren bzw. Abstrakta realisieren, wenn von konkreter Identi- tät und dialektischer Widersprüchlichkeit sinnvoll gesprochen werden soll. Aber im reinen Bereich der Abstrakta ist die Dialek- tik n i c h t gegenwärtig; sie ist es nur in der effektiven Einheit dieser mit den Vorgängen, die von den materiellen Gegen- ständen zu ihnen oder von ihnen zu den materiellen Gegenständen führen." (Ruben, 1971, S. 281) Logik und Dialektik bilden so zwei unterscheidbare aber nicht trennbare Momente ein und desselben Prozesses, der wissenschaft- lichen Arbeit. Dieser konkrete Zusammenhang macht es sinnvoll philosophisch von der k o n k r e t e n I d e n t i t ä t des Gesetzes vom ausgeschlossenen l o g i s c h e n Widerspruch mit dem Gesetz vom eingeschlossenen d i a l e k t i s c h e n Wi- derspruch zu sprechen. Darüber hinaus wird deutlich, daß wissenschaftliche Arbeit in ih- rer Wirklichkeit eine dialektische Einheit von materiell gegen- ständlicher Arbeit und theoretisch begrifflicher Arbeit ist, die dem Marx'schen Terminus von der Wissenschaft als "allgemeiner Ar- beit" zu einer sinnvollen philosophischen Kategorie macht. Mit ihr ist es dann auch möglich, Wissenschaft in ihrer Beziehung zum materiellen gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionspro- zeß zu bestimmen, sie ist eine zum arbeitsteiligen gesellschaft- lichen System der produktiven Tätigkeiten gehörende konkret-nütz- liche Tätigkeit, deren Produkte theoretische Begriffe, bzw. Mo- delle sind. Mit der Enthüllung dieses Zusammenhangs ist prinzipi- ell die Möglichkeit der Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit ausgesprochen. Von all dem ist nun in dem Aufsatz von Hültenschmidt und Schubring nicht die Rede. Dies zeigt sich schon in ihrer Skizze von Rubens Ansatz (SOPO 45, S. 150 ff) in dem in keiner Weise auf den von Ruben vorgetragenen Inhalt der formalen Definition: Wis- senschaft = df <?> allgemeine Arbeit eingegangen wird. Kein Wort über die Bedeutung des Begriffs allgemeine Arbeit in ihrer zunächst nicht immer eindeutigen Verwendung bei Marx (Ruben, 1978, S. 15); kein Wort über die "Wissenschaft als notwendige Bedingung der materiellen Produktion" (Ruben, 1978, S. 16); kein Wort über die "artspezifische Besonderheit" der wissenschaft- lichen Erkenntnis im Unterschied zur Gebrauchswertproduktion im ökonomischen Sinne (Ruben, 1978, S. 19). Statt dessen behaupten sie: "in diesem Verständnis von wissenschaftlicher Arbeit als einer zu bestimmenden Tätigkeit fehlt die S p e z i f i k wissenschaftlicher Tätigkeit." (45, 152) Wenn sie in diesem Sinne aber gegen Ruben einwenden, daß es in seinem Ansatz "Begriffe (theoretisches Wissen) ... als Instrument wissenschaftlicher Tätigkeit" (45, 152) offenbar nicht gebe, so ist dies nur möglich wenn sie einerseits Arbeit in ihrer ökonomischen Funktion als vollständig begriffslos unterstellen und sie andererseits wissenschaftliche Arbeit auf ihr begriffliches Moment reduzieren. Sie unterstellen Ruben damit gerade das, was er kritisiert! (vgl. Ruben, 1978,8.21 f.) Offenbar sind sie nur in der Lage in Rubens Ansatz lediglich die Erscheinungsweise der Wissenschaft identi- fizieren zu können, wie sie unter kapitalistischen gesellschaft- lichen Bedingungen existiert, nämlich in ihrer institutionellen Geschiedenheit von der Produktion. Das macht vielleicht ein wichtiges Moment aus in dieser - wie ich meine - verunglückten Rezeption, daß die Erscheinungsweise der Wissenschaft in unserer Gesellschaft als ihre einzig mögliche Wirklichkeit unreflektiert akzeptiert wird und so unter der Hand zum Wesen der wissen- schaftlichen Arbeit erklärt wird. Ebensowenig einsichtig ist auch der Vorwurf, Rubens Ansatz sei in der Weise "platter Ökonomismus" und "Reduktionismus" (45,157), daß er einerseits die Wissenschaft auf sozialökonomische Determi- nanten reduziert und andererseits das "Wegreduzieren der Haupt- produktivkraft Mensch" zuläßt. Zum ersten Vorwurf, dem des Ökonomismus, ist zu sagen, daß sich hier die Autoren auf e i n e Textstelle aus einer Schrift (45,152) beziehen, die für die "Urania" geschrieben wurde, also von der Funktion her populärwissenschaftlichen Charakter hat. Die Tatsache, die in dieser Passage geschildert wird, nämlich die etwa gleichzeitige Entstehung des gemünzten Geldes und einer tra- dierbaren, ausgearbeiteten Mathematik, ist nun weder eine Erfin- dung von Sohn-Rethel noch von Ruben, den sie gleich damit in einen Topf werfen, sondern eine historische Tatsache, die auch schon anderen Autoren aufgefallen ist (vgl. Kuczynski, 1970, Thomsen, 1974, Welskopf, 1957, R.W. Müller, 1977). Hierbei handelt es sich um einen historischen Befund, der Gegenstand der historischen Einzelforschung ist. Welche philosophische Relevanz dieser Sachverhalt hat, ist damit noch nicht wie selbstverständ- lich gegeben. Eine etwas genauere Lektüre dieser Passage allein genügt schon, den fundamentalen Unterschied in den Auffassungen Sohn-Rethels und Rubens zu erkennen. Während für Sohn-Rethel es tatsächlich um eine K a u s a l b e z i e h u n g zwischen Warentausch und der Bildung mathematischer Abstraktion geht (vgl. Sohn-Rethel, 1972,5.163) -, geht es bei Ruben um etwas anderes. Er stellt näm- lich fest, daß das Geld selbst Produkt einer Abstraktionstätig- keit ist, die Münze ihr abstrakt-konkretes Realisierungsprodukt: "Realisierte Abstrakta sind z.B. unsere physikalischen Maßeinhei- ten, unsere Geldstücke und Scheine. Ein Markstück ist Repräsen- tant aller ihm gleichwertigen Waren." (Ruben, 1971, S. 281) Damit ist nun keineswegs eine Kausalität zwischen Warentausch und Bil- dung von Abstrakta behauptet, sondern es wird ausgesagt, daß ne- ben der Fähigkeit mathematische Abstrakta zu bilden,. auch ver- bunden ist, daß in anderen gesellschaftlichen Bereichen, wie z.B. bei der Wertgrößenbestimmung von Waren und ihrer materiellen Ver- gegenständlichung im Geld, als allgemeinen Maßstab der Werte, eben auch Abstraktionen gebildet und realisiert werden. Gerade diese Entdeckung macht die Relevanz der Untersuchung Rubens zum Wertbegriff bei Marx aus, die für Hültenschmidt und Schubring notwendig "in keinem erkennbaren Zusammenhang stehen zur Defini- tion der Wissenschaft." (45, 151), denn ihnen ist die Dialektik von Abstraktion und Konkretion vollständig entgangen. Dieses Nicht-Wahrnehmen des wirklichen Ansatzes von Ruben läßt es allein erklärbar werden, daß die Autoren gegen Ruben genau das fordern, was er philosophisch vorträgt. Dies ist verbunden mit dem Vorwurf des "Wegreduzierens der Hauptproduktivkraft Mensch." Um dies zu vermeiden, fordern sie - indem sie sich auf die sowje- tische Wissenschaftswissenschaft stützen - Wissenschaft als "Einheit von Wissen und Tätigkeit" (SOPO 46, II) zu fassen, die als s o z i a l h i s t o r i s c h e T ä t i g k e i t ein System "mit drei Koordinaten - der gegenständlich - logischen, der sozialhistorischen und der individualpsychologischen" (46, II.) bilden. In diesem Sinne schlagen sie dann vor, den Begriff der Arbeit durch den psychologischen Begriff der "gegenständ- lichen Tätigkeit" zu ersetzen, da er "auf jegliche menschliche, gesellschaftliche, gegenständliche Aktivität bezogen ist und daher auch ihre "kognitive Dimension" einbezieht." (46, II.) Dies tun sie wie gehabt in schöner Bewußtlosigkeit über die damit verbundene Unterstellung, daß der Arbeitsbegriff im polit- ökonomischen Sinne keine kognitiven Aspekte hat. Nun wird niemand bezweifeln, daß es außerordentlich wichtig ist, was jene Untersuchungen zu Tage brachten. Wie sie selbst sagen: "In einer einzelwissenschaftlichen, pädagogisch-psychologischen Konkretisierung wurde die Hauptaufmerksamkeit auf die Aufdeckung des Übergangs von materiellen Handlungen in geistige Operationen, in Begriffe gelegt." (46, II.) Nun muß aber hier deutlich gesehen werden, daß es sich hierbei nicht um eine philosophische Untersuchung, sondern um eine ein- zelwissenschaftliche Analyse handelt, nämlich eine psychologi- sche. Und es ist natürlich ein Gebot dialektisch-materialisti- scher Philosophie, daß ihre Aussagen nicht im Widerspruch stehen zu jeglichem einzelwissenschaftlichen Wissen. Das bedeutet aber noch lange nicht, daß einzelwissenschaftliche Befunde und Begriffe automatisch den Status philosophischer Kategorien haben. Dies ist nicht erst seit Rubens Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaften so, sondern gilt in der ganzen philosophischen Tradition. Dies macht gerade eine der Schwierigkeiten der Verwendung der dialektischen Philosophie in den Einzelwissenschaften aus: "Die Anwendung der Dialektik auf dem Gebiet der Naturwissenschaften verlangt nach außerordentlich profunden Kenntnissen experimenteller Fakten und nach ihrer theoretischen Verallgemeinerung. Ohne dies ist die Dialektik allein für sich nicht in der Lage, eine Lösung der Frage zu liefern. Sie ist gleichsam eine Stradivari-Geige, sie ist die vollkommenste aller Geigen, um aber diese Geige spielen zu können, muß man Musiker sein und die Musik kennen. Sonst wird sie genau so falsch spielen wie jede gewöhnliche Geige." (Kapiza, 1974, S. 95) Eine sinnvolle philosophische Diskussion des Problems Wissen- schaft auch in seinen wissenschaftspolitischen Dimensionen erfor- dert eine ebenso gewissenhafte wie präzise Rezeption relevanter philosophischer Ansätze, wenn von ihr mehr als der Austausch be- liebiger Meinungen erwartet werden soll. Hätten sich Hülten- schmidt und Schubring an diesen selbstverständlichen Grundsatz gehalten, würde ihr Diskussionsbeitrag sicherlich die erwünschte Produktivität entfalten können. _____ Literaturverzeichnis Engels, F.: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft in: Marx/Engels ausgewählte Schriften Bd. 2, Berlin (DDR) 1968 Engels, F.: Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie in: ebenda Hegel, G.F.W.: Wissenschaft der Logik Bd. II, Leipzig 1951 Kapiza, P.: Experiment, Theorie, Praxis, Moskau 1974 zit. nach: Omeljanowski. M., Sinngebundene Erkenntnis und abstraktes Denken in der wissenschaftlichen Messung in: Gesellschaftswissenschaf- ten, hrsg. Akademie d. Wiss. d. UdSSR. Nr. 3 (15), 1978 Kuczynski, J.: Wissenschaft und Wirtschaft bis zur industriellen Revolution, Berlin (DDR) 1970 Müller, R.W.: Geld und Geist. Zur Entstehung von Identitätsbe- wußtsein und Rationalität in der Antike, Frankfurt/New York 1977 Ruben, P.: Zum Verhältnis von Philosophie und Mathematik, Dialek- tik und Logik - dargestellt am Widerspruch in: DZfPh, Sonderheft 1966, S. 167-188 Ruben, P.: Wissenschaft als allgemeine Ar- beit. Über Grundfragen der marxistisch leninistischen Wissen- schaftsauffassung. Zuerst in: SOPO (1976) 2, S. 7-40 zitiert nach: Ruben, Dialektik und Arbeit der Philosophie, Köln 1978 Ruben, P.: Methodologische Bemerkungen zur Beziehung zwischen Lo- gik und Dialektik bei Hegel und Marx in: Wissenschaftliche Zeit- schrift der Humboldt-Univ. zu Berlin, Math.-Nat. R XX, 1971, 2, S. 277-282 Welskopf, Chr.: Die Produktionsverhältnisse im alten Orient und die griechisch-römische Antike, Berlin (DDR) 1957 zurück